Die Entstehung von Franz Kafkas Amerikabild und seine perspektivische Darstellung im Romanfragment "Der Verschollene" - Teil I


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2011

29 Seiten, Note: "-"


Leseprobe


Einleitung

Amerika als Schauplatz

Mit seinem Romanfragment „Der Verschollene“ erzählt Franz Kafka den Werdegang eines jugendlichen Außenseiters, der von seinen Eltern verstoßen wird und sich in einer Umgebung zu behaupten versucht, die ihm fremd und unbegreiflich erscheint. Es ist verständlich, dass der Autor für ein solches Vorhaben einen Schauplatz wählt, der außerhalb des vertrauten heimatlichen Umfeldes seines Protagonisten liegt. Um dieses Experiment durchzuführen, d. h. Karl Rossmann einem sich wiederholenden Wechselspiel zwischen Anpassung und Scheitern auszusetzen, muss Kafka ihn aus seiner bisherigen räumlichen und menschlichen Umgebung herauslösen und mit einer Welt konfrontieren, in der die bisher erworbenen Normen und Verhaltensregeln nicht mehr greifen, infolgedessen keine Orientierungsmöglichkeiten bieten und daher nutzlos geworden sind. Das Bemerkenswerte an diesem Projekt ist, dass Kafka sich nicht – wie in seinen späteren Romanen „Der Proceß“ und „Das Schloß“ – für einen ungenannten, rein fiktiven Ort entscheidet, sondern einen geografisch eindeutig lokalisierbaren Schauplatz wählt und eine ganze Reihe von räumlich markierten empirischen Ortsangaben verwendet. Die Frage, die hier untersucht werden soll, ist daher nicht in erster Linie, warum Kafka diesen Roman geschrieben hat, sondern was ihn dazu veranlasst hat, Amerika als Schauplatz auszusuchen und mit welchen Attributen er diesen ausstattet.

Erwerb von Amerikakenntnissen

Damit tauchen jedoch eine ganze Reihe weiterer Fragen auf: Welche Beziehung hatte Kafka zu diesem Land? Was hat ihn Amerika beeindruckt bzw. fasziniert? Welche Kenntnisse hatte er von den realen Verhältnissen des Amerikas seiner Zeit und welches Bild von Amerika entwickelte sich in seiner Vorstellung? Wie erwarb er sich diese Kenntnisse und welche Informationsquellen benutzte er? Hatte er Kontakte zu deutschen Auswanderern und war er mit deren Schicksalen vertraut? Bekam er – auf welche Weise auch immer – von Menschen, die vor Ort gewesen waren, Informationen aus erster Hand geliefert? Benutzte er für seinen Roman literarische Vorlagen, beispielsweise aus der bereits bestehenden Tradition deutscher Amerikaromane? Diese Fragen sind deswegen von Bedeutung, weil Kafka selbst nie in Amerika war und daher dieses Land nicht aus eigener Anschauung beschreiben konnte.

Literarische Verarbeitung von Amerikakenntnissen

Und deswegen erhebt sich eine weitere bedeutsame Frage, nämlich die, ob Kafka aufgrund seiner offensichtlich eurozentrisch geprägten Sichtweise ein getreues Abbild Amerikas erzeugen konnte und auch wollte oder ob er nicht vielmehr ein literarisch verfremdetes, fiktives Amerika geschaffen hat, das mit der amerikanischen Realität nichts mehr gemein hatte? Aber selbst, wenn dies der Fall und von ihm auch eindeutig

beabsichtigt worden ist, bleibt zu untersuchen, welche Beziehungen, Überschneidungen, Ähnlichkeiten und Analogien bestehen zwischen Reiseberichten, mündlichen Aussagen, Romanen sowie anderen Materialien mit dokumentarischem Wert von Vorgängern und Zeitgenossen Kafkas und seinen eigenen Schilderungen im Roman. Denn dieser Roman stellt keinesfalls nur die Individualgeschichte seines jugendlichen Helden dar, sondern ist auch als sozialkritischer Roman zu verstehen, obwohl – wie noch zu zeigen sein wird – Kafka sich jedes explizit-kritischen Kommentars enthalten hat. Aber die Frage, die von einigen Kafka-Forschern immer wieder aufgeworfen worden ist, ob Kafkas Amerika nun ein „imaginiertes“ (Engel 177), ein „erlesenes“(Binder 2, 75) oder vielmehr ein realistisches und für seine Zeit auch aktuelles Amerika darstellt, ist hier von zweitrangiger Bedeutung. [1] Vielmehr richtet sich der Fokus der Betrachtung darauf,, welche Informationen über Amerika – ob erlesen, gesehen oder gehört – einen Niederschlag im „Verschollenen“ gefunden haben und wie sie im Roman erzählerisch verarbeitet und dargestellt worden sind.

Bruch mit der Tradition

In einem Punkte kann jedoch kein Zweifel bestehen: Kafka hat sich mit dem „Verschollenen“ in keiner Weise in die Tradition herkömmlicher Bildungs- und Erziehungsromane und schon gar nicht in die gängigen Muster der Amerikaromane einreihen wollen. Er vollzieht vielmehr einen Bruch mit den bestehenden Romantraditionen seiner Zeit, indem er deren „konventionell lineare, in sich kohärente Erzählfolge ... in den offenen, fragmentarischen Romanen ... durch zyklische Strukturen ablöst, die den ästhetischen Ausdruck für den Wiederholungszwang des Scheiterns bilden. Die zentrale Metapher dieser Strukturen ist das Labyrinth.“ (Ries 103) Das Schiff, das Geschäft des Onkels, das Landhaus Mr. Pollunders und das Hotel occidental bilden hierfür einprägsame Beispiele. Schon im ersten Kapitel verirrt Karl sich im rätselhaften Labyrinth des Schiffes. Statt seines Regenschirms findet er jemand, den er nicht gesucht hat, und wird in eine Geschichte verstrickt, die ihn von seinem eigentlichen Vorhaben ablenkt. Dieses Sich-Entfernen von seinem ursprünglichen Plan, das Sich-Verlaufen und Sich-Verstricken in nicht voraussehbare Zwistigkeiten wird als ein Grundton des Romans bereits hier angeschlagen, in einer Umgebung, die die letzte Verbindung mit Karls Heimat und dem fremden, unbekannten Land bildet. Die räumliche Aufteilung der Passagiere in drei Klassen bildet symbolisch die Gesellschaftsstruktur seines Herkunftslandes ab, das er de facto bereits hinter sich gelassen hat. Von da ab zieht sich das Muster des Sich-Verirrens und Sich-Verstrickens leitmotivisch durch den weiteren Handlungsverlauf und kann daher als nachhaltig wirksame literarische Überformung von Karls Realitätserfahrungen angesehen werden. Es handelt sich hier um eine Art von Raumerfahrung, die viele Protagonisten Kafkas haben: Sie bewegen sich scheinbar entschlossen in einer für sie unübersichtlichen Umgebung auf ein Ziel zu, „das sich [ihrem] Zugriff ins Unerreichbare entfernt, während der Weg dorthin in immer kleinerformatige Verästelungen sich verliert“ (Georg Guntermann in: „Chaos in Amerika“, zitiert nach Heymach, Seite 27), d. h. in einem zyklisch strukturierten Geschehen, das durch eine „regelhafte Wiederkehr von Gleichem, durch sich auf verschiedenen Ebenen wiederholende, iterative Prozesse“ (ebd.) gekennzeichnet ist.

Unklarheiten imText

Dass Kafka ein literarisch verfremdetes Amerikabild geschaffen hat, scheint auch durch eine Reihe von Unklarheiten bzw. Ungenauigkeiten im Text bestätigt zu werden, die sicherlich nicht in erste Linie seinen lückenhaften Kenntnissen zuzuschreiben sind. Das betrifft zum Beispiel die oft zitierte Darstellung der „Freiheitsgöttin“, die statt des Freiheitssymbols der Fackel das bedrohliche „Schwert“ ins Sonnenlicht emporstreckt (V 7), das Bezahlen mit Pfund und Schillingen statt mit Dollars (V 104), die Brücke über den Hudson, die New York mit „Boston“ verbindet (V 101) und die Lage San Franciscos, das angeblich im „Osten“ liegt (87). Dabei erscheint es unerheblich, ob es sich um eine von Kafka bewusst inszenierte „subtile Verschleierungstaktik“ (Heymach 32) handelt, d. h. einen technischen Kunstgriff, um dem Leser ein Ich-Weiß-Es-Besser-Erlebnis zu vermitteln, oder schlicht um einen Irrtum.

„Traumhafte“ Innenwelt oder reale Außenwelt?

Abschließend sei noch auf eine Position Martin Walsers hingewiesen, die zur Diskussion gestellt, aber keinesfalls übernommen oder als beherzigenswert empfohlen wird. Danach entnehmen die „ins Endlose“ (vgl. BrF 86 vom 11.11.1912) angelegten Texte Kafkas

„ihre Ausdruckselemente nicht einer vorhandenen Welt“ (vgl. Ries 103), auch nicht einer biografischen Welt, sondern in erster Linie der Eigenwelt des „traumhaft innern Lebens“ (T 300 vom 06.08.1914) ihres Autors. [2] Dass das Thema Amerika Kafka auch im Traum beschäftigt hat, davon wird noch die Rede im nächsten Kapitel sein. Jedoch wäre die Behauptung Martin Walsers nach dem, was bisher ausgeführt worden ist, zumindest problematisch, wenn man sie ungeprüft auf den „Verschollenen“ übertragen würde. Ähnliches gilt auch für Walsers Beschreibung von Kafkas Figuren: „Die Menschen, auf die der Held in Kafkas Dichtung trifft, die wir mit ihm und durch ihn sehen, sind, das fällt sofort auf, nicht ‚wahr’ im psychologischen Sinne, sie sind nicht ‚wirklich’ im empirischen, nicht ‚menschlich’ im anthropologischen und nicht ‚natürlich’ im biologischen Sinne. Sie sind lediglich notwendig innerhalb dieser Welt.“ (Walser 44)

In so allgemein formulierter Form mag man dem zunächst nicht widersprechen. Diese Äußerung wird jedoch als Aufforderung verstanden, ihre Gültigkeit im Hinblick auf den „Verschollenen“ zu überprüfen, zu verifizieren, zu modifizieren oder ggf. zu widerlegen.

Die Thematik des Auswanderns und der Stellenwert Amerikas im Denken und Schreiben Franz Kafkas

Frühe literarische Versuche

Seit seiner Gymnasialzeit hat sich Kafka wiederholt mit dem Thema Amerika beschäftigt. Offensichtlich war er schon als siebzehnjähriger Schüler vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten fasziniert. Dies geht aus ersten literarischen Arbeiten der Frühzeit hervor. Etwa um 1900 schrieb er beispielsweise an einem nicht mehr erhaltenen Romanfragment, „in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von denen einer nach Amerika fuhr, während der andere in einem europäischen Gefängnis blieb.“ (T 28 vom 19.01.1911) Aus weiteren Eintragungen unter diesem Datum geht hervor, dass Kafka zu dieser Zeit noch kein festes Konzept entwickelt hatte und ihm die Erfahrung und das Durchhaltevermögen fehlte, um ein solches Projekt zu bewältigen: „Ich fing nur

hie und da Zeilen zu schreiben an, denn es ermüdete mich gleich ...“ Auch eine gewisse Selbstgefälligkeit und der Wunsch nach Anerkennung machten sich bemerkbar: „Es ist schon möglich, dass ich es aus Eitelkeit machte und ... jemanden verlocken wollte, das Geschriebene mir wegzunehmen, es anzuschauen und mich zu bewundern.“ (ebd. 28-29) Im übrigen empfindet er Zweifel an seinen literarischen Fähigkeiten, ein Wesenszug, der sich in vielen späteren Eintragungen seines Tagebuches und in vielen seiner Briefe offenbart: „Vielleicht hatte ich ein augenblicksweises Gefühl für die Wertlosigkeit meiner Schilderung“, obwohl er andererseits „nicht vergessen konnte, dass ich jung und aus dieser gegenwärtigen Ungestörtheit zu Großem berufen war.“ (ebd. 29)

Kleine Prosastücke

Im Ende 1906 entstandenen Erzählfragment „Abweisung“ weist ein schönes Mädchen einen in der Ich-Form sprechenden Bewerber mit der schroffen Bemerkung zurück, „ er sei kein breiter Amerikaner mit indianischem Wuchs.“ Er habe „keine Reisen gemacht zu den großen Seen und auf ihnen, die ich weiß nicht wo zu finden sind.“ (Erzählungen 41) Hier vernimmt man Anklänge von der Faszination weiter Reisen und bekommt ein klischeehaft vereinfachtes, auf ein erstrebenswert-männliches Merkmal reduziertes Bild eines vermeintlich typischen Amerikaners, wie Kafka es sich zu dieser Zeit vorgestellt haben mag.

In einem weiteren kleinen Prosastück mit dem Titel „Wunsch, Indianer zu werden“, das etwa im Juni 1912 entstanden ist und im gleichen Jahr im Zyklus „Betrachtung“ abgedruckt wurde, heißt es :

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf. (Erzählungen 43)

Hartmut Binder hält es für möglich, dass dieser Text ein Teil der später vernichteten Erstfassung des „Verschollenen“ sei (Binder 105), die vermutlich zwischen Dezember 1911 und Juli 1912 geschrieben wurde. (vgl. Engel 175) [3] Man kann ihn als einen metaphorisch verfremdeten Text auffassen, in dem Kafka seiner Sehnsucht nach Befreiung aus familiären Zwängen und dem Wunsch, sich ganz dem Erlebnis eines erfolgreichen Schriftstellerlebens widmen zu können, Ausdruck verleihen wollte, aber diese in anschauliche Bilder gekleidete Sehnsucht erfüllt sich nicht, sondern gleicht der Situation eines voll Freiheitsdrang voranstürmenden indianischen Reiters, dessen Pferd sich mit dem Zaumzeug nach und nach unter ihm auflöst, zum bloßen Schemen seines Wunschdenkens wird und zum Symbol einer gescheiterten Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit.

Auswanderungspläne

Bald verdichten sich solche Sehnsüchte offensichtlich zu der Absicht, seine Heimatstadt Prag zu verlassen und ins Ausland zu gehen. Zunächst geht es dabei nur um eine Art Gedankenspiel, das (noch) nicht die Gestalt einer konkreten Planung

angenommen hat und in einer genau zu bestimmenden Umgebung angesiedelt ist. Immerhin gibt er wiederholt seinem Wunsch Ausdruck, Prag, „diese verdammte Stadt“, zu verlassen (Brief an Hedwig W. Anfang September 1907, Br 42), wenn auch nicht in erster Linie, um „auf den Sesseln sehr entfernter Länder einmal zu sitzen, aus den Bureaufenstern Zuckerrohrfelder oder mohammedanische Friedhöfe zu sehen“ (Brief an Hedwig W. vom 08.10.1907, Br 49), sondern vor allem, um auf diese Weise unabhängig vom Elternhaus zu werden und ein größeres Maß an persönlicher Freiheit zu gewinnen. Statt Prag, „aus dem ich weg muß, und Wien, das ich hasse und in dem ich unglücklich werden müsste“, denkt er zunächst an Berlin, wo Felice Bauer wohnt.

Ich muß also außerhalb Österreichs, und zwar, da ich kein Sprachtalent habe und körperliche sowie kaufmänische Arbeit nur schlecht leisten könnte, wenigstens zunächst nach Deutschland und dort nach Berlin, wo die meisten Möglichkeiten sind, sich zu erhalten. Dort kann ich auch im Journalismus meine schriftstellerischen Fähigkeiten am besten und unmittelbarsten ausnützen und einen mir halbwegs entsprechenden Gelderwerb finden. (T 263 vom 09.03.1914)

Konkretere Gestalt nehmen derartige Wünsche also im Jahre 1914 an, als er nach seiner Verlobung mit Felice Bauer sich „gebunden wie ein Verbrecher“ fühlt (T 275 vom 06.06.1914) und am gleichen Abend einen Brief schreibt, „ an dem mir sehr viel lag, da ich durch ihn eine gute Stellung im Ausland zu erreichen hoffte“, um dem (unbekannten) Adressaten mitzuteilen, „ wie mich alles aus meiner Heimat drängte und wie ich ohne sonstige gute weitreichende Beziehungen, wie ich war, in ihn meine größte Hoffnung setzte.“ (ebd. 276 f.) Wer immer dieser Adressat gewesen sein mag – so schreibt nur jemand, der bereit ist, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um seiner augenblicklichen Umgebung zu entfliehen.

Amerika: Land des technologischen Fortschritts

Am 20.06.1914 schreibt Kafka an Grete Bloch, die Freundin seiner Verlobten Felice Bauer, er habe „mit dem Chef einer großen Wäschefabrik“ gesprochen, der „gerade durch einen Amerikaner seinen ganzen kommerciellen und technischen Betrieb neu organisieren“ lasse. (BrF 603) Es geht offensichtlich um den Vertreter eines Landes, das mit einem technologischen Vorsprung in der Arbeitswelt assoziiert wird, ein Aspekt, der im „Verschollenen“ eine große Rolle spielt, wobei aber dessen Schattenseiten im Vordergrund stehen, wie noch deutlich werden wird. Auch in diesem Brief verhält sich Kafka keineswegs befürwortend, sondern eher zurückhaltend. Er spricht sich dafür aus, die Arbeiter sorgfältig in den Gebrauch der vorhandenen Maschinen einzuweisen, bevor der ganze Betrieb umorganisiert werde.

Exkurs: Kafkas Haltung gegenüber moderner Technik

Aufgeschlossenheit gegenüber technischen Entwicklungen

An dieser Stelle soll nicht verschwiegen werden, dass Kafka keineswegs ein Feind moderner Technik war. Im Gegenteil offenbaren seine Texte zum Teil eine unverhohlene Faszination über die technischen Möglichkeiten seiner Zeit. Dies erkennt man

beispielsweise an seinem Bericht mit dem Titel „Die Aeroplane von Brescia“ (veröffentlicht in verkürzter Form in der „Deutschen Zeitung Bohemia“ in Prag am 28. September 1909) über einen Flugzeugwettbewerb in Brescia (Norditalien), den er mit seinem Freund Max Brod und dessen Bruder Otto besuchte. Diese Begeisterung spiegelt sich auch in seinem Helden Karl Roßmann wider, wenn er ihn sagen lässt: „Ich habe mich immer so für Technik interessiert, ... und ich wäre sicher später Ingenieur geworden, wenn ich nicht nach Amerika hätte fahren müssen.“ (V 10) Und in der seinem Verleger gegenüber erwähnten Ankündigung, er wolle mit seinem Buch das „allermodernste New York“ (Br 117) darstellen, drückt sich ein deutlich wahrnehmbarer Ehrgeiz aus, keinesfalls ein veraltetes Bild von Amerika vermitteln zu wollen.

Engagement für die Humanisierung der Arbeitswelt

Als Mitarbeiter der Arbeiter-Unfall-Versicherungsgesellschaft in Prag seit August 1908 war er über die technische Ausstattung der Fabriken seines Wirkungsbereiches in Nordböhmen bestens informiert, vor allem über Risiken und Gefahren im Umgang mit Maschinen und die Auswirkungen einer zunehmenden Mechanisierung der Produktionsabläufe auf den arbeitenden Menschen. Der Entwürdigung der menschlichen Arbeitskraft durch eine ungebremste Automatisierung der Arbeitsprozesse widmete er große Aufmerksamkeit und setzte sich vehement für eine Humanisierung der Arbeitswelt ein. Dies geht beispielsweise aus einer Tagebuchnotiz vom 05.02.1912 hervor, wo er nach dem Besuch der Asbestfabrik seines Schwagers Karl Hermann, an der er Teilhaber war, von dem „unaufhörlichen Lärm der Transmissionsriemen“ berichtet (T 176) oder aus seinem Brief an Felice Bauer vom 10.11.01.1913 (BrF 241) über ihre Tätigkeit mit dem Parlographen ihrer Berliner Firma, wo er schreibt, diese Maschine scheine „auf die Arbeitskraft einen viel stärkern, grausamern Zwang auszuüben als ein Mensch“ (gemeint ist ein Vorgesetzter). „Ein lebendiger Schreibmaschinist“ (wie Felice Bauer) werde „vor dem Parlographen entwürdigt.“ Der Mensch sei gezwungen, sich dem Rhythmus der Maschine anzupassen, und das sei im Prinzip nicht hinnehmbar.

Kafkas Haltung als Erzähler

Die hier ohne Vorbehalte – und ohne die distanzierende Haltung des Erzählers Franz Kafka – unverblümt zum Ausdruck gebrachte Kritik an Erscheinungsformen der modernen Arbeitswelt ist im Roman verschlüsselt und findet andere Ausdrucksformen, aber die Beschreibung dieses Aspektes nimmt dort sehr breiten Raum ein und verdient daher besondere Beachtung. Bei aller Aufgeschlossenheit für die Möglichkeiten der modernen Technik seiner Zeit, lag Kafka die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine erhöhte Sicherheit an den Arbeitsplätzen der nordböhmischen Industriegebiete (vor allem in den Bereichen Bergbau, Textilerzeugung und Maschinenbau) sehr am Herzen, wofür sein Aufsatz über „Maßnahmen zur Unfallverhütung“, der im Jahresbericht 1910 seines Arbeitgebers erschien, beredtes Zeugnis ablegt. Gerade weil Kafka als Schriftsteller sich ganz bewusst Zurückhaltung auferlegt, um sein Romankonzept in der beabsichtigten Weise zu verwirklichen, verdient sein berufliches Engagement als Mitarbeiter einer Versicherungsgesellschaft besondere Würdigung.

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Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Die Entstehung von Franz Kafkas Amerikabild und seine perspektivische Darstellung im Romanfragment "Der Verschollene" - Teil I
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Zentrale Einrichtung für Weiterbildung)
Note
"-"
Autor
Jahr
2011
Seiten
29
Katalognummer
V177029
ISBN (eBook)
9783640984763
ISBN (Buch)
9783640985012
Dateigröße
492 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
entstehung, franz, kafkas, amerikabild, darstellung, romanfragment, verschollene, teil
Arbeit zitieren
Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2011, Die Entstehung von Franz Kafkas Amerikabild und seine perspektivische Darstellung im Romanfragment "Der Verschollene" - Teil I, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177029

Kommentare

  • Gast am 11.6.2015

    Sehr gut herrausgearbeitet aber Comic Sans Ms als Schriftart? Arial, Times New Roman oder Helvicta wärn definitiv bessere Alternativen

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Titel: Die Entstehung von Franz Kafkas Amerikabild und seine perspektivische Darstellung im Romanfragment  "Der Verschollene" - Teil I



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