typisch Mädchen? typisch Knaben? kulturelle Geschlechterfabeln!

geschlechtsspezifische Sozialisation versus gleichberechtigte Pädagogik


Diploma Thesis, 2003

103 Pages, Grade: 6 (Bestnote in der CH)


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil I: Exkurs in die Geschichte
1.1 Geschlechterrollen im Wandel historischer Epochen

1.1.1 Ursprung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung
1.1.2 Strukturwandel in der „Institution Familie“
1.1.3 Geschichte geschlechtsspezifischer Bildung und Erziehung > Koedukation
1.1.4 Theorie und Geschichte von Gleichheit und Verschiedenheit
1.1.5 Geschichte der Frauen > „Her-Story“
1.1.6 Persönliches Fazit

Teil II: Theoretische Grundlagen
2.1 Sozialisation aus soziologischer Perspektive

2.1.1 Sozialisationseinflüsse
2.1.2 Sozialisationsphasen
2.1.3 Sozialisation, Lernen und Erziehung
2.1.4 Normen, Erwartungen und soziale Rollen
2.1.5 Biologisches und soziales Geschlecht
2.1.6 Geschlecht: eine alltägliche Erfahrung
2.1.7 Geschlecht als soziale Kategorie
2.1.8 Die Polarisierung der Geschlechter
2.1.9 Persönliche Fazit
2.2 Sozialisation aus psychoanalytischer Perspektive
2.2.1 Psychosexuelle Entwicklung und Geschlechtsidentität
2.2.2 Theorie der Objektbeziehungen
2.2.3 Persönliches Fazit
2.3 Sozialisation aus pädagogischer Perspektive
2.3.1 Die Bildung von Geschlechtscharakteren in der Pädagogik
2.3.2 Die übergangene Geschlechterdifferenz
2.3.3 Pädagogik der Gleichstellung
2.3.4 Androgynitätspädagogik
2.3.5 Persönliches Fazit

Teil III: Gender Studies /Geschlechterforschung
3.1 Geschlechterdifferenz und Differenztheorien

3.1.1 Konstuktivismus-Theorie
3.1.2 Feministischer Dekonstruktivismus
3.1.3 Persönliches Fazit
3.2 Wahrnehmung, Denken und Sprache
3.2.1 „weiblich“ und „männlich“: Wahrnehmung und Denkstrukturen
3.2.2 Sprache: Linguistische Geschlechterforschung
3.2.3 Persönliches Fazit
3.3 Einflüsse der Medien – Mediensozialisation
3.3.1 Das Mädchen- und Jungenbild im Fernsehen
3.3.2 Geschlechtsspezifische Medienpräferenzen
3.3.3 Persönliches Fazit
3.4 Geschlechtsspezifische Sozialisation und Statistik
3.4.1 Physischer und psychischer Gesundheitszustand im Geschlechtervergleich
3.4.2 Sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Knaben
3.4.3 Delinquentes Verhalten imGeschlechtervergleich
3.4.4 Geschlechtsspezifische Unterschiede in Ausbildung und Berufsfindung
3.4.5 Persönliches Fazit

Teil IV: Schlussfolgerung
4.1 Konsequenzen für die (sozial-) pädagogische Praxis
4.1.1 Praxisbeispiele
4.1.2 Thesen
4.1.3 Pädagogische Möglichkeiten und Grenzen als weibliche Sozialpädagogin
4.2 Schlusswort

Glossar

Personenverzeichnis

Literaturnachweis

Weiterführende Literatur und Internet-Seiten

„Ich setzte den Fuss in die Luft und sie trug.“

Hilde Domin, in: Nur eine Rose als Stütze

Einleitung

Zum Thema Gender existiert eine erstaunliche Fülle an Literatur. Daneben entdeckte ich auch im Internet eine Menge brauchbares Material. Die Suchmaschine fand unter dem Begriff „gender“ (auf den deutschsprachigen Raum beschränkt) 65894 Links. Über diese Vielfalt war ich zunächst einmal sprachlos. Allein das Durchkämmen dieser Internet-Seiten würde Monate brauchen. Und wie das wohl die meisten kennen: jeder Link enthält Verweise auf weitere Links, und diese wiederum... und so weiter. Ein kafkaeskes Unterfangen, das mich vorerst in meinem eigenen kreativen Schaffen eher lähmte als beflügelte. Neben diesem Unmut, begleiteten mich andere, widerstreitende Gefühle. Zum einen war da die Freude über die bereits vorhandene Vielfalt, zum andern befiel mich auch ein immenser Ärger über die Diskrepanz zwischen so vielen wissenschaftlichen Untersuchungen, initiierten Projekten und institutionalisierten Fachstellen (z.B. für Gleichstellung), die jedoch in meinem Lebensund Berufsalltag so wenig spürbar vorhanden sind.

Ausgangslage, Vorgehen und Aufbau

Mein Ziel war es zunächst einmal besser zu verstehen

- worin die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, Männern und Frauen gründen; wo sie herkommen und wie sie in Gedanken, Empfindungen und Wahrnehmungen der Individuen verankert werden
- welchen jeweiligen Anteil der biologische Körper (oder: „die Natur“), die Erziehung, das Umfeld, die Kultur und die Einstellung der Erwachsenen dabei haben
- und wie wir als (Sozial-)PädagogInnen auf die Unterschiedlichkeit von Mädchen und Knaben eingehen können, um beiden Geschlechtern gerecht zu werden.

Bei der Erwähnung meines gewählten Themas für die Diplomarbeit, werde ich oft gefragt, ob Gleichstellung denn heute überhaupt noch ein Problem sei. Die Geschlechterrollen sind zunehmend weniger starr und Mädchen und Frauen sind heute dem Gesetz nach gleichberechtigt. Viel ist schon erreicht worden und dies nicht zuletzt dank der neuen Frauenbewegung, die sich seit den 70er Jahren für die Anliegen der Frauen und Mädchen stark macht. Tatsächlich gilt meine „Sorge“ auch den Knaben: Wirft man/frau einen Blick in geschlechtsspezifische Untersuchungen, so sind die Forschungsergebnisse höchst beunruhigend. Durch die Konfrontation mit der Zahlenstatistik (der Genderforschung) habe ich mich mit diversen Fragestellungen auseinandergesetzt und meine Arbeit mittels dieser Ausgangsfragen in vier Teile gegliedert.

Fragestellung 1:Hat das Geschlecht eine Geschichte? Oder hat jedes Geschlecht eine andere Geschichte bzw. andere Geschichten? Durch welche Einflüsse haben sich im Laufe der Menschheitsgeschichte die Geschlechterrollen gewandelt?

>Teil I: Exkurs in die Geschichte: 1.1 Geschlechterrollen im Wandel historischer Epochen

Fragestellung 2:Kann über biologische Differenzen auf naturgegebene, geschlechtsspezifische Wesens-und Charaktereigenschaften geschlossen werden? Oder sind „typisch männliche" und "typisch weibliche" Eigenschaften eher Fehlbenennungen, welche in Umlauf gebracht wurden und sich etabliert haben? Was bedeuten die Begriffe „Geschlecht / Geschlechtsidentität“ und „sex / gender“ überhaupt?

>Teil II: Theoretische Grundlagen:2.1 Sozialisation aus soziologischer Perspektive; 2.2 Sozialisation aus psychoanalytischer Perspektive; 2.3 Sozialisation aus pädagogischer Perspektive.

Fragestellung 3:Wenn die „Kultur“, die Geschlechtsidentität „konstruiert“, ist diese dann nicht ebenso determiniert und festgelegt wie nach der Formel: „Biologie ist Schicksal“? Nur hätte hier die Kultur an Stelle der Biologie die Rolle des Schicksals eingenommen. Ist „Weiblich- oder Männlich-Sein“ eine kulturelle Performanz? Wie und wo vollzieht sich die Konstruktion der Geschlechtsidentität? Welche Auswirkung respektive Folgen hat die geschlechtsspezifische Sozialisation für Mädchen/Frauen und Knaben/Männer?

>Teil III: Gender Studies / Geschlechterforschung:3.1 Geschlechterdifferenz und Differenztheorien; 3.2 Wahrnehmung, Denken und Sprache; 3.3 Einflüsse der Medien - Mediensozialisation; 3.4 Geschlechtsspezifische Sozialisation und Statistik.

Nach dem Exkurs in die Geschlechtergeschichte, der Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen und den neuen Erkenntnissen der Geschlechterforschung, versuche ich aus dem ermittelten Wissen Schlussfolgerungen für die (sozial-)pädagogische Praxis abzuleiten. Ich werde Praxisbeispiele beschreiben und nach Lösungsansätzen suchen, welche für mich und meine Arbeit mit Mädchen und Knaben (und in der Auseinandersetzung mit erwachsenen Frauen und Männern) bedeutsam sind:

Fragestellung 4:Die einen fordern die stärkere Trennung der Geschlechter, die anderen ein besseres Miteinander, manche betonen die Verschiedenheit, andere möchten sie vor allem aufheben: Wie kann pädagogisches Handeln der geschlechtlichen und individuellen Verschiedenheit gerecht werden? Wie kann Pädagogik dabei das demokratische Prinzip der Gleichberechtigung verwirklichen? Wo liegen meine persönlichen, pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen (als weibliche Sozialpädagogin) im Betreuungsalltag und in der Erziehung von Knaben und Mädchen?

>Teil IV: Schlussfolgerungen:4.1 Konsequenzen für die (sozial-)pädagogische Praxis; 4.2 Schlusswort

Ich konzentriere mich in meinen Praxisbeispielen (Teil IV) auf die Altersgruppe von 7- bis 12-jährige Mädchen und Knaben, da ich in meiner beruflichen Tätigkeit vorwiegend mit Kindern der Grundschule zu tun habe. Im Geschichtsexkurs und den theoretischenInputs war diese Abgrenzung nicht möglich, da sich auch die Fachliteratur selten auf eine Altersstufe beschränkt.

Information zur Schreibweise:

In meiner Diplomarbeit sind Frauen und Mädchen nicht einfach mit-gemeint. Nur wenn von Kindern die Rede ist, so sind Mädchen und Knaben gleichermassen betroffen resp. gemeint. Ich verwende in meinen Texten sowohl Paarformen (Bsp. Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen), als auch neutralisierende Begriffe (Bsp. Betreuende) und die Kurzformen (Bsp. LehrerInnen, BetreuerIn). Vielleicht ist diese Schreibweise für manche LeserIn noch ungewohnt oder sogar umständlich. Ich werde in Kapitel 3.2 Wahrnehmung, Denken und Sprache genauer erläutern, weshalb mir eine geschlechtergerechte Sprache ein Anliegen ist.

Teil I: Exkurs in die Geschichte

Hat das Geschlecht eine Geschichte? Oder hat jedes Geschlecht eine andere Geschichte beziehungsweise andere Geschichten? Durch welche Einflüsse haben sich im Laufe der Menschheitsgeschichte die Geschlechterrollen gewandelt?

1.1 Geschlechterrollen im Wandel historischer Epochen

„Der Mensch ist ein Teil des Ganzen,

das wir Universum nennen.

Ein durch Zeit und Raumbegrenzter Teil.“

Albert Einstein

Sozialisation bezeichnet einen lebenslangen Prozess, in dessen Verlauf ein Individuum in die Gesellschaft eingegliedert wird, beziehungsweise sich aktiv eingliedert. Der Mensch erlernt und verinnerlicht die in der Gesellschaft geltenden sozialen Normen, Werte, Regeln, Rollenerwartungen usw. Dieser Lernprozess geschieht immer in Abhängigkeit mit der dinglich-materiellen Umwelt, in welche der Mensch hineingeboren wird. Neben den individuellen Bedingungen (z.B. der Geschlechtszugehörigkeit) und den sozialen Faktoren (z.B. Milieu, Schicht) wandeln sich diese Einflüsse mit dem Geiste der Zeit und sind auch historisch zu betrachten. Auf diese historischen Einflüsse möchte ich in diesem Kapitel eingehen. Aus Platzgründen werde ich im Folgenden nur die, für meine Arbeit relevanten, Hauptthemen skizzieren und den Exkurs auf Europa eingrenzen.

1.1.1 Ursprung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung

Wir können davon ausgehen, dass in der frühen Menschheitsgeschichte die Mehrheit der Bevölkerung den ganzen Tag damit beschäftigt war, die notwendigen Lebensmittel zu beschaffen und zu produzieren. Da es noch keine Möglichkeit zur Geburtenkontrolle gab, waren die Frauen - solange sie aufnahmefähig waren - andauernd schwanger oder hatten einen Säugling, der gestillt werden musste.

„Es muss damals ökonomischer und praktischer gewesen sein, dass die Frauen jene Arbeiten übernahmen, die sich mit Schwangerschaft, Geburt und Stillen vereinbaren liessen. Dies waren die Arbeiten, die im Haus und nahe am Haus zu erledigen waren, also die Hausarbeit. Aus eben solchen ökonomischen Gründen mussten wohl die Männer die Arbeit ausser Haus übernehmen. Das war zunächst die Jagd, danach der Feldbau. Da diese Aufgaben gelernt werden mussten, muss es auch ökonomischer gewesen sein, dass nicht alle Kinder für alles ausgebildet wurden, sondern die Mädchen für die Arbeiten im Haus und die Jungen für die Arbeiten ausser Haus. Die Hausarbeit war noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts eine Art Wissenschaft gewesen: man musste wissen, wie man Nahrung konserviert, Kleidung herstellt (also spinnen, weben, nähen), u.a.m. Auch die Pflege von Säuglingenohne Milchpulver, Säuglingskost in Gläsern, Papierwindeln usw. war etwas, was einer Ausbildung bedurfte.“ Gisela Ulmann, in: Über den Umgang mit Kindern. 1987

Die Arbeit im und nahe beim Haus war also genauso langwierig zu erlernen wie die Arbeit ausser Haus. Damit eine gesellschaftliche Entwicklung stattfinden konnte, muss es damals notwendig gewesen sein, dass die Arbeit und die „Ausbildung“ geschlechtsspezifisch aufgeteilt wurden. Ob in der Urgesellschaft die hausnahe Arbeit (sammeln etc.) anders bewertet wurde als die Arbeit ausser Haus (z.B. jagen), ist schwer zu beurteilen. Viele WissenschaftlerInnen sind sich heute jedoch einig, dass unsere jagenden und sammelnden VorfahrInnen in nahezu gleichberechtigten Verbänden zusammenlebten. Es wird davon ausgegangen, dass diese Gleichheit mit der Erfindung des Pflugs und des damit verbundenen Sesshaftwerdens zerstört wurden. Erst mit dem Beginn der Landwirtschaft, der Anhäufung und Verteidigung von Privatbesitz ging der Frau ihre einstige entscheidende Rolle in der Produktion sowie ihre soziale Stellung verloren. vgl. Helen Fisher, in: Das starke Geschlecht. 2000

Ich kann mir auch vorstellen, dass die ökonomischen Notwendigkeiten in der Urgesellschaft zu Verselbständigungen führten, weil die männlichen Arbeiten mit gewissem Prestige und Macht verknüpft wurden, welche die Männer nicht mehr aufgeben wollten. In der Theoriebildung, wird der Begriff geschlechtsspezifische Arbeitsteilung jedoch erst mit der soziokulturellen Wende (> industrielle Revolution) angewendet, nämlich:

„In dem Masse, wie im 19. Jh. mit Bildungsrevolution und Industrialisierung die Berufsarbeit von der Wohnung abgetrennt wurde und sich die Berufstätigkeit professionalisierte, begann sich der weibliche Anteil am Erwerb des Familieneinkommens auf häusliche, reproduktive Tätigkeiten zu beschränken.“ Prof. Dr. Johannes Kramer, in: Metzler Lexikon. Gender Studies. 2002. S. 21

Ich gehe davon aus, dass diese (damals notwendige) geschlechtsspezifische Arbeitsteilung schon in der frühen Menschheitsgeschichte die geschlechtsspezifische Erziehung der Mädchen und Knaben beinhaltete. Diese ursächlichen Bedingungen führten zu den noch heute wirksamen geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen und den traditionellen Rollenbildern, obwohl eine derartige geschlechtsspezifische Arbeitsteilung heute nicht mehr notwendig wäre.

1.1.2 Strukturwandel in der „Institution Familie“

Alle Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart kennen die Familie als eine soziale Institution. Zu ihren Aufgaben zählte und zählt noch heute vor allem die Sorge um die Kinder, die Versorgung ihrer Mitglieder sowie die Organisation der Arbeit des täglichen Lebens. Der Institution Familie liegt die überzeitliche biologische Tatsache zugrunde, dass die menschliche Reproduktion zwei verschiedengeschlechtliche Individuen voraussetzt, das heisst: dass alle Menschen eine Mutter und einen Vater haben. Welche Personen über Eltern und Kinder hinaus zu einer Familie gehören, wie sich Familienleben, Wohn- und Arbeitsweise gestalten, unterliegt einem beständigen gesellschaftlichen Wandel:

„Zur Familie in der frühen Neuzeit zählten die Verwandten gleichen Namens oder auch die Angehörigen eines Haushalts, die zur wirtschaftlichen Produktion des ganzen Haushalts beitrugen, so auch nichtverwandte Personen wie Knechte und Mägde. Die Bauernfamilie, die Handwerksfamilie, die Familie des adeligen Gutsherrn waren weniger durch emotionale Bindung als durch die Aufgaben der sozialen Reproduktion und der ökonomischen Produktion bestimmt.“ Sylvia Schraut, in: dto. S. 98

An der Spitze der Familie stand der Hausvater. Er vertrat Familie und Haushaltsangehörige in allen öffentlichen Belangen, war zuständig für den Erhalt des landwirtschaftlichen Betriebs und die Arbeitsorganisation auf dem Feld. Er war Erzieher und Lehrer insbesondere der Söhne. Als Hausherr war er auch weisungsbefugt gegenüber den Haushaltsangehörigen, die nicht in verwandtschaftlicher Beziehung zur Familie standen. Der Hausmutter oblag die Sorge für die Ernährung und Kleidung der Haushaltsmitglieder und sie war zuständig für die Pflege der kleinen Kinder und die Erziehung der Töchter. Als weiblicher Haushaltsvorstand leitete und beaufsichtigte sie auch die weiblichen Angestellten.

„Mit der Industrialisierung im 19. Jh. verlagerte sich die Berufsarbeit zunehmend aus dem Haus in Fabrik und Büro, es kam zur Trennung von Erwerbsarbeit und Familienleben sowie zu einer Privatisierung der Familie, die sich, freigesetzt von ökonomischen Zwecken, auf die Ausgestaltung und Inszenierung der zwischenmenschlichen Beziehungen konzentrieren konnte.“ Sylvia Schraut, in: dto. S. 98

Zunehmend reduzierte sich die Familie (Sippe) auf die Kernfamilie, bestehend aus Eltern und Kindern. Dieser Modernisierungsprozess ging einher mit der Neudefinition der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung:

„Die enge Kooperation von Hausmutter und Hausvater in der Ökonomie des „ganzen Hauses“ wich einer universellen Differenzierung männlicher und weiblicher Tätigkeitsbereiche, die sich räumlich und sachlich voneinander entfernten. Dem öffentlich agierenden Mann, der ausserhäuslicher, zweckrationaler Erwerbsarbeit nachging, kontrastierte die auf private Reproduktion festgelegte Rolle der Frau als liebevolle Gattin und Mutter. Galt es für den Mann, sich dem Konkurrenzkampf der immer komplexer werdenden Leistungsgesellschaft zu stellen, so bekam die Frau die Aufgabe zugewiesen, im privaten Handlungsraum der eigenen vier Wände durch Fürsorglichkeit und ordentliche Haushaltsführung den Gatten und die Söhne für das öffentliche Berufsleben psychisch zu stabilisieren.“ Sylvia Schraut, in: dto. S. 98

Das bürgerliche Modell der Ehe und Familie als Liebesgemeinschaft mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, wurde im 19. Jh. von anderen sozialen Schichten kopiert und schliesslich zu Beginn des 20. Jh. zur allgemeinen Norm für die ganze Bevölkerung. Durch die zunehmende Technisierung entwickelte sich die Erziehung der Kinder und die Gestaltung des privaten Familienlebens zur eigentlichen und wesentlichen Aufgabe der Familienmutter, vor allem in Familien der Mittel- und Oberschicht. Aus finanzieller Not waren die Mütter aus Unterschichtsfamilien nach wie vor zur Erwerbsarbeit gezwungen. Durch die weltweite Frauenbewegung seit den 1960er Jahren - die Emanzipation der Frauen, ihren Anspruch auf Selbstbestimmung und ökonomische Unabhängigkeit, der Möglichkeit zur Geburtenkontrolle und demnachlassenden Kinderwunsch - hat sich ein tiefgreifender Wandel vor allem in den europäisch/westlichen Familienstrukturen vollzogen. Die "Familie" als soziale Institution und Versorgungsanstalt hat sich heute relativiert.

„Am Beginn des 21. Jh. steht eine Vielfalt möglicher Lebensentwürfe neben den traditionellen Eltern-Kind-Familien: Scheidungsfamilien, Familien mit unverheirateten Elternteilen, Alleinerziehende, kinderlose Partnerschaften, das Single-Dasein sowie gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. Eine Uminterpretation der Funktion einer Familie, die Frage nach ihrer Existenzberechtigung, der Verlust ihres institutionellen Charakters zeichnen sich ab.“ Waltraud Wende, in: dto. S. 99

1.1.3 Geschichte geschlechtsspezifischer Bildung und Erziehung > Koedukation

„Als die Frau lesen lernte,

trat die Frauenfrage in die Welt.“

Marie von Ebner-Eschenbach

Für breite Gesellschaftsschichten der Frühen Neuzeit stellte Bildung keinen eigenständigen Erziehungswert dar. Sie diente vor allem zwei Zielen: Der Erziehung zum guten Christen und der Vermittlung von Kenntnissen, die zum Broterwerb nötig waren:

„Bis weit ins 18. Jh. beschränkte sich die Volksbildung auf den rudimentären Erwerb von Grundkenntnissen im Lesen und Schreiben anhand religiöser Texte. Der Volksschulunterricht wurde meist nur im Winter für beide Geschlechter gemeinsam abgehalten. Eine geschlechtsspezifische Ausrichtung der Lehrinhalte gab es nicht, doch scheint der Unterricht für Mädchen weniger wichtig als der für Jungen gewesen zu sein. Die Kinder der höheren Schichten erwarben ihre Bildung meist von Hauslehrern. In der Regel stand dabei die Ausbildung der Söhne im Vordergrund, doch nahmen die Mädchen am Unterricht ihrer Brüder teil. Vom Abschluss männlicher Bildung, beispielsweise an Jesuitengymnasien oder Universitäten, waren Mädchen in der Regel ausgeschlossen.“ Sylvia Schraut, in: dto. S. 39

Vereinzelt vermittelten auch private Einrichtungen wie die Ursulinenschulen eine höhere Ausbildung an Mädchen. Kennzeichnend für diese Bildungsbemühungen waren jedochihre geschlechtsspezifische Ausrichtung. Während sich die Lerninhalte für Jungen an ihren zukünftigen Berufen und an wissenschaftlichen Kenntnissen ausrichtete, galten musische und sprachliche Fertigkeiten als besonders geeignet für das weibliche Geschlecht. Im niederen Schulwesen und in den unteren Schichten sah es allerdings ganz anders aus. Die geschlechtsspezifische Ausrichtung der Bildungsbemühungen (z.B. musische Bildung für Mädchen und wissenschaftliche Bildung für Knaben), hatte hier keine vergleichbare Durchschlagskraft wie in den höheren Schichten. In der Landwirtschaft lebte die Arbeitsverteilung der alten Gesellschaft fort und im entstehenden Industriearbeits- und Dienstleistungsbereich waren Frauen auch ausser Haus erwerbstätig. Allerdings keinesfalls in gleichberechtigter Stellung: auch die

unteren Schichten waren von der Geschlechterhierarchie geprägt (Frauen waren z.B. nicht Eigentümerinnen ihres Lohns, da über diesen rechtlich der Mann verfügte). Im niederen Schulwesen gab es eher selten Trennung der Geschlechter. Seit seinen Anfängen existierte hier Koedukation. Es finden sich auch kaum ausformulierte Konzepte unterschiedlicher Erziehungs- und Bildungsprogramme für Mädchen und Knaben der ärmeren Schichten.

„Ungleichheit zwischen Mädchen und Jungen wurde hier durch eine um ca. 2 Jahre kürzere Schulzeit der Mädchen praktiziert und durch eine Reihe informeller Unterscheidungen, über die nur Vermutungen angestellt werden können, so z.B. weniger regelmäßiger Schulbesuch von Mädchen wegen häuslicher Arbeiten und Versorgung von Geschwistern, andere Anforderungen an Mädchen und Jungen seitens der Lehrer sowohl hinsichtlich der Lerninhalte als auch hinsichtlich des sozialen Verhaltens. Dass Mädchen aus unteren Volksschichten schlechter gebildet waren, lässt sich daran ablesen, dass es mehr junge Frauen als junge Männer gab, die nicht lesen konnten.“ Annedore Prengel, in: Pädagogik der Vielfalt. 1995. S. 110

Die allgemeine Schulpflicht setzte sich erst mit der Industrialisierung und der Bildungsrevolution im 19. Jh. durch. Koedukative Klassen wurden eingeführt und es kam in Volks- und Realschulen, zu einem breiten öffentlichen Ausbau eines dreistufigen Schulsystems. Wegen der berufsorientierten Konzeption der Bildungsbemühungen schloss das Schulsystem jedoch Mädchen nach wie vor von den höheren Bildungsstufen aus und verhinderte so auch eine höhere Berufsausbildung. Höhere Mädchenbildung fand meist nur in Schulen mit privater Trägerschaft und mit dem Konzept der Erziehung in die traditionelle Frauenrolle statt. An der Wende zum 20. Jh. erkämpfte die Frauenbewegung eine Verbesserung der Mädchenbildung, den Zugang von Mädchen zum Abitur (resp. Maturität) und damit auch zum Studium. Es kann also erst seit dieser Wende von einer tatsächlichen Gemeinschaftserziehung (> Koedukation) von Mädchen und Knaben in allen drei Stufen des heutigen Schulsystems gesprochen werden.

In letzter Zeit wird dem Thema Koedukation neue Aufmerksamkeit geschenkt. Die Koedukationsforschung zeigt auf, dass Mädchen in koedukativen Klassen in mehrerlei Hinsicht gegenüber den Mädchen in reinen Mädchenklassen benachteiligt sind. In gemischten Klassen dominieren - in den Interaktionen der Kinder und Jugendlichen untereinander und mit den Lehrkräften - die Knaben. Die Lektion unterlegen zu sein, lernen Mädchen in Koedukationsklassen offensichtlich so gründlich, dass sie sich in ihrem Verhalten als Schülerinnen und bei ihrer Berufswahl noch heute auf die - ihrem Geschlecht zugestandenen – traditionellen Domänen beschränken. Es wird nun darüber debattiert, ob (wieder) einzelne Lektionen geschlechtergetrennt vermittelt werden sollten, um den Mädchen (und den Knaben?) gerecht werden zu können, und inwieweit die gemeinsame schulische Bildung dazu beiträgt, die Geschlechterrollen zu zementieren:

„Die Feministische Pädagogik kritisiert die Bildungsreform, obwohl die Mädchen als die eigentlichen Gewinnerinnen dieser Phase bezeichnet worden sind. Ihre Beteiligung an den allermeisten Bildungsgängen erhöhte sich erheblich. Mädchen weisen mit Ausnahme des naturwissenschaftlichen Bereichs ebenso gute, häufig wesentlich bessere Schulnoten auf als Jungen. Die feministische Kritik der Bildungsreform beinhaltet im Wesentlichen folgende Aspekte: Die guten Schulleistungen der Mädchen haben keinen entsprechenden Berufserfolg zur Folge, die untergeordnete schlecht bezahlte Stellung der Frauen im Beruf bleibt nach wie vor bestehen. Die bereits vor der Bildungsreform einsetzende Koedukation von Mädchen und Jungen hat in wesentlicher Hinsicht nicht zu mehr Gleichheit der Geschlechter geführt, denn unter der Oberfläche der gemeinsamen Erziehung hält sich mit grosser Hartnäckigkeit teils bewusst teils unbewusst ein heimlicher Lehrplan der Geschlechtererziehung, der die koedukativ unterrichteten Mädchen sogar gegenüber ihren Mitschülerinnen in Mädchenschulen benachteiligt. Dieser heimliche Lehrplan fördert die Dominanz der Jungen durch die Interaktionen der Lehrkräfte, die Auswahl der unterrichtsrelevanten Themen, die Gestaltung der Medien und Materialien und die Struktur der Institution Schule.“ Annedore Prengel, in: dto. S. 26

Es ist also offensichtlich so, dass die pädagogischen Analysen und die neuen Konzepte der Bildungsreformen nicht geeignet waren, einen wirklich innovativen Beitrag zur geschlechtsspezifischen Sozialisation - innerhalb der „Institution Schule“ -zu erfassen und zu leisten. Debatten um Gleichheit und Differenz haben eine lange Geschichte, ihre Ursprünge finden sich schon in den antiken Traditionen.

1.1.4 Theorie und Geschichte von Gleichheit und Verschiedenheit

„Gleichheit ist ein Verhältnis,

worin Verschiedenes zueinander steht.“

Wilhelm Windelband

Gleichheit und Differenz sind in der europäischen Geschichte zentrale Begriffe, wenn es um die Legitimation gesellschaftlicher Ungleichheit ging und geht; sie sind aber auch zentral für die Strategien von Emanzipationsbestrebungen. Die bedeutsame Rolle, die Ungleichheit im undemokratischen Denken spielt, ist allgemein bekannt:

„Unterschiede zwischen Menschen bedeuten zugleich Über- und Unterordnung: Menschen, die sich unterscheiden, müssen unterschiedliche gesellschaftliche Rangpositionen einnehmen. Entscheidend für undemokratische Denkstrukturen in all ihren Variationen ist, dass aus Unterschieden Rangordnungen gebildet werden. Undemokratisches Denken vollzieht Hierarchisierung, wenn es von Gleichheit und Differenz spricht.“ Annedore Prengel, in: dto. S. 33

Antike Traditionen bilden die Grundlage späterer Fassungen des Gleichheits- und Differenzverständnisses unserer Gesellschaft. Im 5. Jahrhundert erreichte in der griechischen Polis die Entwicklung der Demokratie einen solchen Höhepunkt, dass Otto Dann (1980) die Bedeutung des politischen Prinzips der Gleichheit als ebenso grundlegend einschätzt wie im Frankreich des 18. Jahrhunderts:

„Diese Entwicklung wurde von einer Grundanschauung getragen, die bis heute für unser Rechtsdenken konstitutiv geblieben ist: der Überzeugung, dass allein das Verhältnis der Gleichheit den Inbegriff eines gerechten Verhältnisses zwischen rechtsfähigen Menschen darstellt, dass somit Gleichheit als das Kriterium von Recht und Gerechtigkeit zu gelten hat.“Otto Dann, in: dto. S. 37

Das Symbol der Waagschalen und der römischen Göttin Justitia, die mit verbundenen Augen (blind und ohne Vorurteile) Recht spricht, bringt diese Grundanschauung zum Ausdruck. Allerdings war Gleichheit in der griechischen Polis keineswegs universell gemeint, sondern galt nur für die Vollbürger. Der weitaus grösste Teil der Bevölkerung war von Gleichheitsrechten ausgeschlossen: damit waren die Sklaven, die zugewanderten Freien, die Ausländer und ebenso alle Frauen gemeint. Für Frauen hatte die Entwicklung zur Demokratie in der griechischen Polis eine ganz andere Bedeutung als für Männer: Die Rechte der Frauen über Eigentum zu verfügen und unter anderem durch ihre Fortpflanzungskraft hohes Ansehen zu geniessen, wurden schrittweise abgebaut. Auch Aristoteles, der für Vielfalt und Pluralität der Vernunftformen plädierte, hierarchisierte streng zwischen Herren und Sklaven und zwischen Männern und Frauen. Frauen waren seiner Ansicht nach eben keine völlig rationalen Lebewesen: Es mangelt ihnen an Logos. Im Mittelalter war Gleichheit ein `gruppeninterner Identifizierungsbegriff`. Otto Dann (1975) meinte dazu:

„Gleich bedeutete Standesgleich. Bei diesem Verständnis von Gleichheit wurde die gegebene Sozialordnung vorausgesetzt, ihre Abgrenzung nicht überschritten, sondern bestätigend festgehalten. Als das Natürliche und Vernünftige galt eine Ordnung der gestuften Rechte und Vollkommenheiten.“ Otto Dann, in: dto. S. 39

Trotz der überwältigenden Dominanz der Hierarchien im antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Denken gab es immer wieder Gegenströmungen: In frühchristlichenGemeinden bildete der Glaube an die Gleichheit aller Menschen vor Gott - seien es nun Frauen oder Männer, Arme oder Reiche, Juden oder Römer, Kinder oder Erwachsene, Gesunde oder Kranke - einen festen Bestandteil dieser Religion. So einflussreich der Gedanke der unterschiedslosen Stellung aller Menschen vor Gott war, auch in späteren historischen Phasen blieben im weltlichen und kirchlichen Leben die sozialen Ungleichheiten entsprechend der biblischen Vorgaben unangetastet. Annedore Prengel meint dazu:

„Der Skandal neuzeitlichen Denkens zeigt sich klar im Gleichheitsbegriff der Vertragstheorien, denen bei aller innerer Differenzierung und Unterschiedlichkeit gemeinsam ist, dass sie von universeller Gleichheit sprechen und dennoch letztendlich nur die kleine Gruppe besitzender männlicher Bürger meinen.“ Annedore Prengel, in: dto. S. 42

Während der französischen Revolution (1789-1815) beseitigte dieNationalversammlung diese Standesvorrechte und verkündete die Menschenrechte (egalité). Olympe de Gouges (1748-1793), Schriftstellerin und politische Vorkämpferin für die Rechte der Frau, forderte (1791) in einer Deklaration die „Erklärung der Rechte der Frauen und Bürgerinnen“, eine Punkt für Punkt auf die Menschenrechtserklärung von 1789 reagierende Forderung nach Geschlechtergleichheit. Radikalfeministisch war diese Deklaration der Frauenrechte lange vor jeder Frauenbewegung. Erstaunlich ist dabei, wie Olympe de Gouges hier bereits auf Differenz bestand und damit die erklärten Menschenrechte als Männerrechte entlarvte. 1793 wurde den Frauen – neben Kindern, Geisteskranken und Kriminellen – vom Konvent das Bürgerrecht abgesprochen. Bei einer Säuberungswelle wurden die Gegner von Robespierre (führender Kopf der radikalen Jakobiner) hingerichtet. Olympe de Gouges wurde 1793 guillotiniert. Die politisch erfolgreichen Gleichheitsvorstellungen, in den sich entwickelnden modernen Demokratien, stellen in Wirklichkeit zunächst Mischungen aus demokratischer und ständischer Gleichheit dar. Von den universell formulierten Gleichheitsrechten sind über lange Zeit grosse Gruppen der Bevölkerung ausgeschlossen, wie z.B. in den USA die indianischen UreinwohnerInnen, die Schwarzen und die Frauen. Am Ende dieser hier selbstverständlich nur pauschal skizzierten Entwicklung, tritt der Begriff der Gleichheit immer mehr zurück und geht in den neuen Gedanken der Gleichberechtigung über:

„Für die politisch-sozialen Auseinandersetzungen hat diese Veränderung zur Folge, das nicht mehr allgemein eine Anerkennung von Gleichheit postuliert, sondern der Kampf um die Realisierung konkreter Rechte in den Mittelpunkt gestellt wurde.“ Annedore Prengel, in: dto. S. 45

In der zeitgenössischen feministischen Theoriebildung findet eine fundierte Auseinandersetzung um die Gleichberechtigung der Frauen statt, in welcher es – in den Worten von Ute Gerhard – um „Gleichheit ohne Angleichung“ geht. Ute Gerhard, in: dto. S. 45

1.1.5 Geschichte der Frauen > „Her-Story“

„Unwissen zerschmetterte uns in Fragmente, dass wir uns Stück für Stück ausgraben mussten.

Und mit unseren eigenen Händen fanden wir ungeahnte Zeugen der Vergangenheit.“

Abena Busia

Durch verschiedene Pflichten (> geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) und Rechte wird Unterschiedliches gelebt und erlebt. Unterschiedliche Erfahrungen bedürfen eines spezifischen Fokus. Her-Story bezeichnet ein Konzept von Geschichte, das die Vergangenheit radikal vom Standpunkt der Frauen beleuchtet und ihre Leistungen und Erfahrungen in den Mittelpunkt rückt. Der englische Begriff History wird so zur traditionell männlichen Geschichte und Geschichtsschreibung, während die Wortschöpfung her-story, das weibliche Konzept von Geschichtsschreibung sichtbar macht.

„Die Idee, dass Frauen eine (eigene) Geschichte haben, entstand im Kontext der Neuen Frauenbewegung der 1970er Jahre. Hier dominierte zwar zunächst die Vorstellung, Frauen seien als das „andere Geschlecht“ (Simone de Beauvoir, 1949) schon immer Objekte oder gar Opfer einer von Männern gemachten Geschichte gewesen. Mit marxistischen Theoretikern wie Friedrich Engels und August Bebel ging man davon aus, dass es einen ursprünglichen oder urzeitlichen Kampf der Geschlechter gegeben hätte, durch den die Männer die Frauen unterworfen und letztere ihre zunächst egalitäre Position oder sogar Vormachtstellung (Matriarchat) eingebüsst hätten. Die Folge wäre die Etablierung der Männerherrschaft (Patriarchat) gewesen. Ein solch feministisch-marxistisches Geschichtskonzept wurde bald in Frage gestellt, da es im Prinzip ahistorisch war und die Formen und Möglichkeiten weiblichen Widerstands weitgehend unbeachtet blieben.“ Prof. Dr. Claudia Opitz, in: Metzler Lexikon: Gender Studies. 2002. S. 149

Die amerikanische Historikerin Gerda Lerner hat diese Gedanken weiterentwickelt und stellte (1976) die zentrale Frage nach einer Geschichte der Frauen:

„Was wäre die Geschichte, wenn sie mit den Augen der Frauen betrachtet und nach von ihnen definierten Maßstäben geordnet würde?“GerdaLerner („The Majority Finds Its Past“, dt.1995), in: dto.S. 149

In der Folge haben sich zahlreiche Literatur-, Kunst- und Sozialhistorikerinnen auf die Suche nach den vergessenen Frauen gemacht. Die 1980er Jahre wurden zur Ära der (Wieder-)Entdeckung und Dokumentation der Gedanken und Werke schreibender, dichtender, komponierender, philosophierender Frauen aus allen Epochen der Weltgegenden. Die Gruppe von Forscherinnen um die französische Sozialhistorikerin Michelle Perrot zeigte u.a. methodische Voraussetzungen und Konsequenzen für eine Geschichte der Frauen auf:

„Nicht nur müssten andere Quellen herangezogen werden – literarische Texte, Bilder, Gegenstände im Besitz von Frauen wie Kleidung, Schmuck oder Haushaltgeräte -, diese müssten auch in anderer Weise bearbeitet werden, als es die traditionell männlich dominierte Geschichtswissenschaft tat. Skeptisch zeigten sie sich gegenüber einem Konzept von Frauengeschichte, das den Frauen als Handelnden zuviel Raum geben wollte. Sie warnten in der fünfbändigen „Geschichte der Frauen“ (Duby/Perrot 1993) davor, Frauen in der Vergangenheit zu handlungsfähigen Subjekten zu verklären, denn: „Die Geschichte der Frauen ist gewissermassen die Geschichte ihres Mündigwerdens, das durch die Männer vermittelt wurde.“ Opitz, in: dto. S. 150

1.1.6 Persönliches Fazit

Zu meiner Fragestellung:„Hat das Geschlecht eine Geschichte? Oder hat jedes Geschlecht eine andere Geschichte? Durch welche Einflüsse haben sich im Laufe der Menschheitsgeschichte die Geschlechterrollen gewandelt?“erhielt ich in diesem Exkurs viele Antworten und Anregungen zu weiteren Gedanken: In der traditionellen Vermittlung von Geschichte wurde vorwiegend die „kulturelle Leistung“ des Mannes gewürdigt. Wie die Menschen in grauer Vorzeit gelebt haben, blieb zumeist im Dunkeln oder war nur als Ahnung zwischen den Zeilen zu lesen. Auch in meinen Ausführungen ist wenig von realem Leben zu spüren. Vor allem bleibt der Fokus auf den oberen Schichten haften und gibt auch wenig Einblick in das konkrete Leben von Kindern. Allerdings ist Kindheit, als Begriff wie wir ihn heute kennen und verwenden, ein Produkt der Neuzeit. Denn bis zu Rousseaus Zeiten (1712-1778), der für eine kindgerechte Gesellschaft plädierte, galten Kinder als kleine Erwachsene. Ich gehe davon aus, dass sie schon sehr früh auf ihre geschlechtsspezifische soziokulturelle Rolle vorbereitet und in ihre „Aufgaben“ eingewiesen wurden. Vermutlich mussten Kinder (beiderlei Geschlechts) damals sehr viel mehr Verantwortung übernehmen, als dies heute der Fall ist. Ich stelle mir vor, dass sich ihr Leben nicht so sehr von demjenigen der Erwachsenen unterschied. Die Erfahrung von Frauen in der Geschichte wurde (seit 1980) zum Maßstab einer kritischen Überprüfung vorgeblich geschlechtsneutraler Aussagen. Sie wurde auch zur Grundlage einer neuen Methodik. Laut Juliet Mitchell ist das Sprechen eines Subjekts immer gendered, das heisst: alle Texte und historischen Quellen sind geschlechtlich (bisher fast ausschliesslich männlich) perspektiviert. Die Frage, inwiefern Aussagen und Erfahrungen von Frauen eine eigene, und gegenüber dem männlichen Blick bzw. der männlichen Geschichtsschreibung, kritische Qualität haben, wird kontrovers diskutiert. Durch diese neue Forschungsrichtung sind jedoch wichtige Untersuchungen geschlechtsspezifischer Themen entstanden: z.B. wurde die Kluft zwischen weiblicher Privatheit und männlicher Öffentlichkeit grundsätzlich in Frage gestellt. Dieser Geschlechterdifferenz (öffentlich/privat) liegt immer noch, trotz der heute möglichen Vielfalt an Lebensformen, ein tiefgreifendes gesellschaftliches Problem zugrunde, auf das ich auch in weiteren Kapiteln noch ausführlicher eingehen werde.

Frauen haben als Folge geschlechtlicher Arbeitsteilung nicht nur Fesseln sondern auch Freiräume geerntet. Diese Freiräume garantieren einen berechenbaren Lebensbereich: Haus/Wohnung; Kinder; eine Tageszeit ohne Mann; etwas Unabhängigkeit; etwas Eigenständigkeit und etwas Kompetenz. Das Stückchen Eigenwelt und die Entwicklung einer eigenständigen weiblichen Identität hat jedoch nicht zu einer „weiblichen Gegenmacht“ geführt. Wir würden uns aber selbst belügen, wenn wir an einem Bild der Frau festhalten, die ein bloßes Opfer ist von patriarchalen Machtstrukturen. Die Ideologie, dass Männer handeln, Frauen behandelt werden, oder dass die Gesellschaft Bedingungen setzt, denen Frauen ausgesetzt sind, wirft ein verfälschtes Bild auf die vergangene und die heutige Geschichte. Christina Thürmer-Rohr spricht gerade bezüglich der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung von der „Mittäterschaft von Frauen im Patriarchat“. Ich schließe mich ihrer Meinung an, wenn sie provozierend sagt, dass wir (Frauen) Mittäterinnen sind:

„...wenn wir uns den Ergänzungsideen fügen und komplementär zum männlichen ein weiteres weiblich beschränktes Verhaltensrepertoir entwickeln und praktizieren; wenn Frauen sich dem Mann hinzuaddieren als das untergeordnete andere Geschlecht; wenn Frauen das männliche Individuum stützen und abschirmen, indem sie ihre Ressorts – speziell die des Hauses, des sozialen Gedankens und der Menschlichkeit – so strukturieren, dass der Mann für seine Taten in der Welt freigesetzt ist ...“ Christina Thürmer-Rohr, in: Vagabundinnen. Feministische Essays. 1987

Die Bildungsrevolution im 19. Jahrhundert und weitere Reformen in den Volksschulen brachten der gesamten vor allem jedoch der weiblichen Bevölkerung vielfältige neue Bildungs- und Berufsperspektiven. Die Schule hat einen grossen Einfluss auf die Entwicklung von Knaben und Mädchen. Sie gilt neben dem Elternhaus und der Gleichaltrigengruppe als wesentlichste Sozialisationsinstanz. Wie ich gesehen habe, setzt jedoch gerade die Schule - als „gesellschaftliche Institution“ - die geschlechtsspezifische Erziehung der heranwachsenden Menschen fort, nämlich: Dass das Geschlecht eine ausschlaggebende Rolle dabei spielt, wie Knaben und Mädchen wahrgenommen, beurteilt und gefördert werden.

Die Gleichberechtigung respektive die Gleichstellung der Geschlechter ist heute, zumindest in der westlichen Welt, in den meisten Verfassungen verankert. Der Anspruch wird so begründet, dass Frauen und Männer unter gleichen Voraussetzungen die gleichen Rechte haben. Zur Durchsetzung dieses Rechts im staatlichen und privaten Bereich, gibt es neben diesen Gleichstellungsparagraphen auch Frauenförderpläne und Gleichstellungsbeauftragte. Zusätzlich wird seit den 80er Jahren im internationalen Kontext die Strategie des gender mainstreaming entwickelt und rechtlich sowie politisch in den meisten Verfassungen verankert. Gender mainstreaming erfordert aus einer Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit die Entwicklung, Verbesserung, (Re-) Organisation und Evaluation von politischem Handeln auf allen Ebenen und in allen Politikfeldern, national wie international. Das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit als ein Grundprinzip der Demokratie ist leider noch lange nicht verwirklicht, wenn man/frau unter Gerechtigkeit und Gleichheit auch Gleichbehandlung oder einen gleichen Zustand (der Chancen und Ergebnisse) meint. Als Beispiel: die Gleichheit des Lohns für gleiche Arbeit variiert bei den Geschlechtern noch schwerwiegend. Und: AusländerInnen sind in unserer demokratischen Gesellschaft nach wie vor noch ein wenig mehr ungleicher. Im Vorwort derDokumentation des schweizerischen Gewerkschaftsbundessteht unter dem Titel: „Das Gleichstellungsgesetz in der Anwendung“ sinngemäß:

„Das Gleichstellungsgesetz ist nötig – aber auch mit diesen Paragraphen wird noch ein langer Weg bis zur tatsächlichen Gleichstellung von Männern und Frauen in der Gesellschaft zu beschreiten sein. Eine über zweitausendjährige patriarchale Geschichte lässt sich wohl durch einen bewussten Willen, aber nicht alleine über ein einzelnes Gesetz verändern. Das Gesetz ist allerdings ein Baustein und Ausdruck dieses Willens.“

Den Platz, den Frauen in der traditionellen Geschichtsschreibung (history) einnehmen ist gering. Dass sich feministische Historikerinnen diesem ausgeblendetem Teil der Geschichte angenommen und kritisch hinterfragt haben, war notwendig, auch wenn mir das Ergebnis keine Flügel wachsen lässt: Erst in der jüngsten Zeit haben Frauen sich einen gewissen Raum zum Sprechen erobern können; die Frauen in der Antike oder der frühen Neuzeit waren dagegen vielfachen Zwängen und Verboten unterworfen. „Das Private (oder Persönliche) ist politisch und wissenschaftlich“ ist ein einschlägiger Satz aus der Frauenbewegung der 80er Jahre und meint, dass Frauenforschung auch Widerstand bedeutet: Frauenforschung wollte grundlegende Veränderungen des Wissens und der persönlichen und politischen Identität erreichen, und: dass Frauen selbst ihre Sache in die Hand nehmen. Ziel war es, zu einem Wissen zu kommen, dasallen Frauen verfügbar sei. Grundlage war die Überzeugung, dass ein Wissen über die Realität von Frauen überall erarbeitet werden könne, wo auch immer Frauen sich befinden (nicht nur innerhalb der Mauern von Hochschulen) und dass jede Frau ein Repertoire an Wissen besitze, das realitätsnaher und damit „wissenschaftlicher“ sei als alles, was die traditionell männliche Geschichtsforschung herauszufinden gemeint hatte. Seit den 90er Jahren wird das Erforschen der Frauengeschichte (her-story) zunehmend durch die Erforschung der Geschlechtergeschichte abgelöst. Ich befürworte diesen neuen Ansatz, weil in der traditionellen Geschichtsschreibung ja auch spezifisch männliche Erfahrung (und Sozialisation) bisher noch kaum kritisch beleuchtet und beschrieben wurde.

Nach diesem persönlichen Fazit beschließe ich diesen kurzen historischen Exkurs in die Geschlechtergeschichte und setze mich im zweiten Teil mit sozialisationstheoretischen Grundlagen auseinander. Die Sozialisationsforschung stellt eine disziplinübergreifende Thematik dar, mit der sich unter anderem SoziologInnen, PsychologInnen, AnthropologInnen und Erziehungswissenschaftlerinnen befassen. Ich werde mich vor allem mit ausgewählten Sozialisationstheorien der Soziologie, Psychologie und den Erziehungswissenschaften (Pädagogik) auseinandersetzen, da sie mir hinsichtlich meiner Recherchen bedeutsame Grundsteine liefern.

Teil II : Theoretische Grundlagen

Kann über biologische Differenzen auf naturgegebene, geschlechtsspezifische Wesens- und Charaktereigenschaften geschlossen werden? Oder sind „typisch männliche" und "typisch weibliche" Eigenschaften eher Fehlbenennungen, welche in Umlauf gebracht wurden und sich etabliert haben? Was bedeuten die Begriffe „Geschlecht / Geschlechtsidentität“ und „sex / gender“ überhaupt?

2.1.Sozialisation aus soziologischer Perspektive

„Was du bist, hängt von drei Faktoren ab: Was du geerbt hast,

was deine Umgebung aus dir machte, und was du in freier Wahl

aus deiner Umgebung und deinem Erbe gemacht hast.“

Aldous Huxley, 1932

Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch nur in einem geringen Mass durch angeborene Instinkte und Verhaltensschemen festgelegt. Das konkrete Erleben, Denken und Handeln entwickelt sich vielmehr in sozialen Lernprozessen. Der Begriff Sozialisation steht für die Fragestellung, wie Menschen durch ihre gesellschaftlichen Lebensbedingungen in ihrem Empfinden, Denken und Handeln beeinflusst werden, sich aber zugleich auch von allen anderen unterscheiden und sich zu besonderen, einzigartigen Individuen entwickeln. Sozialisation umfasst demnach ganz allgemein die Prozesse, in denen wir uns die gesellschaftlich vorgefundenen Gewohnheiten, Handlungsmuster und die Werte und Normen einer Kultur aneignen. Sozialisation ist kein zeitlich und räumlich begrenzter, sondern ein lebenslanger Vorgang. Sie geschieht immer dann, wenn wir an sozialen Kommunikations-und Handlungszusammenhängen teilnehmen, die bedeutsame Veränderungen auslösen beziehungsweise für die Stabilisierung unserer gegebenen Persönlichkeitsmerkmale wichtig sind. Vgl. Korte/Schäfers: Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 2002

2.1.1 Sozialisationseinflüsse

Klare und eindeutige Abgrenzungen unterschiedlicher Sozialisationskontexte, in denen wir in eine besondere Wirklichkeit hineinwachsen, lassen sich unter den Bedingungen der postmodernen Gesellschaft nicht mehr angeben. Regionen, Nationen, Klassen, Schichten oder Ethnien sind keine abgeschlossenen Kontexte mehr, denen Familien und Individuen angehören und die nur zu den jeweiligen Traditionen, Gewohnheiten, Normen usw. Zugang haben. Insbesondere durch die vorschulische und schulische Erziehung, die massenmediale Kommunikation und die zunehmende Mobilität sind solche Abgrenzungen zwar nicht gänzlich aufgehoben, sicher jedoch vermindert worden.

Unter Sozialisationsinstanzen oder auch Sozialisationsagenturen sind diejenigen Lebensfelder gemeint, in welche ein Mensch hineingeboren wird und aufwächst (z.B. die Familie, die sozialpädagogische Wohngruppe, das Heim), in denen er sich Wissen aneignet (z.B. Kindergarten, Schule, Ausbildungsplatz, Medien) oder seine Freizeit verbringt und Freundschaften pflegt (z.B. Spielplatz, Peer-Group, Verein etc.) Es geht hierbei also um wo Sozialisation stattfindet und welche Einflüsse auf ihn wirken. Unter Sozialisationsbedingungen oder Sozialisationsdeterminanten werden sowohl sehr allgemeine als auch sehr spezifische Faktoren verstanden, mit denen wir es zu tun haben und die sich gegebenenfalls auch verändern können. Es werden dabei drei wesentliche Bereiche unterschieden. Dies sind 1. die individuellen Faktoren (z.B. Behinderung, Geschlecht), 2. die sozialen Bedingungen (Stellung in der Geschwisterreihe, Schicht, Milieu) und 3. die historischen Gegebenheiten (die wirtschaftliche Situation der Gesellschaft, der Zeitgeist: Werte und Normen).

„Die soziologische Sozialisationsforschung hat die Unterschiede zwischen den sozialen Klassen bzw. Schichten und Milieus insbesondere mit dem Blick auf die schulischen und beruflichen Karrierechancen untersucht. Dabei zeigt sich, dass individuelle Entwicklungschancen auch gegenwärtig noch erheblich durch sozial ungleiche Sozialisationsbedingungen in Familien, Schulen, Hochschulen und im Beruf beeinflusst sind. Bedeutsam sind insbesondere in der familialen Sozialisation von Kindern angelegte Unterschiede der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die an Heranwachsende gerichteten Erwartungen bezüglich ihrer Bildungs- und Berufslaufbahn sowie Lebens- und Zukunftsentwürfe, die sich Kinder und Jugendliche im Sozialisationsprozess zu eigen machen. ... Die neuere Forschung hat die Bedeutsamkeit der geschlechtsspezifischen Sozialisation aufgezeigt und argumentiert, dass diese mit weitreichenden Differenzen bezüglich der sozial typischen Erfahrungen, Erwartungen und Anforderungen einhergehen. Dabei wurde deutlich, dass es nicht schlicht eine weibliche und eine männliche Sozialisation gibt, sondern dass Geschlechterunterschiede in der Sozialisation von historisch veränderlichen und gesellschaftlich unterschiedlich ausgeprägten Konzepten sozial erwünschter Männlichkeit und Weiblichkeit abhängen.“ Korte/Schäfers: Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 2002

2.1.2 Sozialisationsphasen

In der Sozialisationsforschung wird zwischen primärer und sekundärer Sozialisation unterschieden. Die primäre Sozialisation ist die erste Phase, durch die der Mensch in seiner frühen Kindheit zum Mitglied der Gesellschaft wird. Die sekundäre Sozialisation ist jener spätere Vorgang, in der eine bereits sozialisierte Persönlichkeit in neue Ausschnitte der Gesellschaft eingewiesen wird und diese auch zunehmend selbst mitprägt. Dabei besteht in der Sozialisationsforschung Uneinigkeit darüber, ob Sozialisation mit dem Abschluss der Jugendphase (Adoleszenz) endet oder aber einen lebenslangen Prozess darstellt. vgl. Unterrichtsunterlagen hsl: W.E.G. Sozialisationstheorie als Metatheorie sozialpädagogischen Handelns. 1999

Da Menschen im Verlaufe ihres Lebens immer wieder neue Rollen erwerben und ihre sozialen Umfelder wechseln, bin ich von einem lebenslangen Lernen überzeugt. Sozialisationsphasen verlaufen fliessend und einander überlappend. Aus soziologischer Perspektive dauert die „Jugendphase“ bis zur finanziellen Unabhängigkeit. Neben diesem prozesshaften Dazulernen und in der Auseinandersetzung mit neuen Lernfeldern entwickeln wir unsere Denk- und Handlungsmuster weiter und streifen auch „Überholtes“ ab.

2.1.3 Sozialisation, Lernen und Erziehung

„Sozialisation geschieht überwiegend ungeplant und unbeabsichtigt. Denn jede soziale Situation beinhaltet vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten, in denen ein Wissen über die Bedeutung von Wörtern und Dingen, über Eigenschaften von und Beziehungen zwischen Personen, erwünschte und unerwünschte Verhaltensweisen usw. erworben wird. Soziale Situationen stellen so betrachtet ein „strukturiertes Erfahrungsmaterial“ (Oevermann, 1976) dar, das den Beteiligten nicht umfassend bewusst ist. Ein grundlegender Aspekt von Sozialisationsprozessen ist die selektive und eigensinnige individuelle Aneignung dieses Erfahrungsmaterials.“ Korte/Schäfers: Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 2002. S. 48

Als Beispiel: Ein Kind erfährt nicht erst dadurch die - bei gemeinsamen Mahlzeiten in der Familie -geltenden Verhaltensregeln, dass die Eltern ihm ausdrücklich Anweisungen über angemessenes Verhalten geben. Schon die ganz gewöhnliche Teilnahme an der Mahlzeit ermöglicht es ihm vielmehr, typische Handlungsmuster und Gewohnheiten wahrzunehmen. Sozialisation vollzieht sich hier also bereits dadurch, dass ein Kind Handlungsmuster Erwachsener beobachtet und gegebenenfalls nachahmt oder spielerisch imitiert. Darüber hinaus erlebt das Kind in dieser Situation die Struktur der sozialen Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, unabhängig davon, ob die Eltern dies beabsichtigen. Es erwirbt damit auch Erfahrungen bezüglich seiner Stellung in der Familie, der emotionalen Beziehungen zwischen den Anwesenden und zu sich selbst. Im Verhältnis zur ohnehin geschehenden Sozialisation kann Erziehung als bewusste„gesellschaftliche Reaktion auf die Entwicklungstatsache“verstanden werden, als Reaktion darauf also, dass Kinder die Fähigkeiten erst erwerben müssen, durch die sie zu kompetenten Gesellschaftsmitgliedern werden. Vgl. Bernfeld, 1967, in: Korte/Schäfers, dto. S.48

Erziehung versteht sich somit als geplante und absichtsvolle Sozialisation und ist diejenige Teilmenge der Sozialisationsvorgänge, für die das Ziel grundlegend ist,Veränderungen von Personen, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, zu bewirken. Aus der Perspektive der Soziologie ist Erziehung keineswegs der alleinige, zentrale und einflussreichste Weg, auf dem gesellschaftliche Einflüsse auf Heranwachsende ausgeübt werden, sondern eben nur ein bestimmter Ausschnitt des Sozialisationsgeschehens. Zum besseren Verständnis wird auch zwischen intentionalem und funktionalem Lernen unterschieden. Intentionale Lernfelder sind jene Lernfelder, die eigens zum Zwecke des Lernens organisiert sind. Funktionale Lernfelder dagegen sind solche, die zwar Lernwirkungen haben, aber nicht zum Zwecke dieser Wirkung eigens organisiert und eingerichtet wurden.

Im Sozialisationsprozess geht es immer auch um die Personwerdung, um die Ausbildung des individuellen Selbst. Diesen Prozess, in welchem der Mensch lernt, sich als Individuum zu begreifen und sich selbst zu akzeptieren, wird als Personalisation bezeichnet.

Sozialisation meint somit ein Dreifaches:

- Das Erlernen der kulturellen Lebensweise > Enkulturation
- Das Erlernen des sozialen Verhaltens > Sozialisation (>innerhalb einer Sozialisation)
- Den Aufbau des Person-Seins > Personalisation Dementsprechend hat auch Erziehung eine dreifache Aufgabe:
- Enkulturationshilfe beim Erlernen der kulturellen Lebensweise
- Sozialisationshilfe beim Erlernen des sozialen Verhaltens
- Personalisationshilfe beim Aufbau des Person-Seins

vgl. Unterrichtsunterlagen hsl: W.E.G. Sozialisationstheorie als Metatheorie sozialpädagogischen Handelns, 1999

2.1.4 Normen, Erwartungen und soziale Rollen

Soziales Handeln eines Individuums ist immer auf das Erwartungshandeln anderer Personen gerichtet. Wir erwarten von unserem Gegenüber, dass es sich „rollenkonform“ verhält, z.B. als Vater, als Kind, als Verkehrsteilnehmerin, als Vorgesetzte, als Frau oder Mann usw. Soziale Rollen sind aus dieser Sicht immer zweierlei: Erstens die Verfestigung einer Reihe von Normen (zugehöriger Gesten, Symbolen) zu bestimmten Verhaltenskomplexen und zweitens die Summe der Erwartungen, welcher der/die Andere an mein Verhalten richtet.

„Soziale Rollen tragen also dazu bei – sowohl für das Individuum, das die Rolle spielt, wie für die Mithandelnden -, dass in angebbaren Situationen klar ist, was wie getan werden muss. Verlässlichkeit, Dauerhaftigkeit und Erwartbarkeit sind die Dimensionen, die soziale Rollen zu einem grundlegenden Element des Sozialen machen, zu einer Kategorie, die die Verschränkung von Individuum und Kultur (Gesellschaft, Sozialstruktur) besonders anschaulich zum Ausdruck bringt.“ Korte/Schäfers, in: Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 2002. S. 33

Rolf Dahrendorf spricht hierbei vom rollenspielenden Menschen (homo soziologicus):

„Am Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft steht homo soziologicus, der Mensch als Träger sozial vorgeformter Rollen. Der einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft.“ Dahrendorf, 1958, in: dto. S.34

In der Rollentheorie lassen sich zwei Ansätze unterscheiden: die eher rigide Rollenauffassung, die von den Anforderungen der Gesellschaft und den sozialen Systemen aus die Ansprüche an eine Rolle formulieren; und die Rollenauffassung aus der Sicht des Handelnden Individuums, das aus der angesonnen Fremdrolle eine Eigenrolle machen will, um so seine personale Identität gegenüber der rollenspezifischen sozialen Identität zu behaupten. Krappmann formuliert für mich diese Ambivalenz einleuchtend:

„Die personale Identität verlangt, so zu sein wie kein anderer; die soziale Identität verlangt, so zu sein wie alle anderen (in der gleichen Rolle).“ Lothar Krappmann, 1972, in: dto. S. 34

In den soziologischen Lexika gibt es mehr als vierzig Differenzierungen zum Rollenbegriff: von Rollenauffassung bis zur Rollenvorschrift. Eine Unterscheidung möchte ich jedoch noch anfügen: Rollen können selbständig erworbene Rollen oder zugeschriebene Rollen sein. Die zugeschriebenen Rollen haben mit Herkunft, Alter und Geschlecht zu tun. In meinem Fall wären dies: zugeschriebene Rollen: Herkunft: Schweizerbürgerin; untere Mittelschicht; Geschlecht: weiblich, Alter: 42-jährig (geb.1961). Als erworbene Rollen gelten daher meine mehr oder weniger frei gewählten Rollen: als Sozialpädagogin (in Ausbildung), Teammitglied, Autofahrerin, Partnerin, Mutter eines erwachsenen Sohnes.

2.1.5 Biologisches und soziales Geschlecht

Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert herrschte im medizinischen Diskurs das Ein-Geschlecht-Modell vor, nach dem der weibliche Körper die gleiche biologische Ausstattung hat wie der männliche, jedoch mit nach innen gekehrten Geschlechtsteilen. Die weiblichen Geschlechtsorgane und Körperflüssigkeiten galten als eine innere Variante der männlichen.Dieser Sicht wurden alle anatomischen Kenntnisse untergeordnet. In der kosmischen Ordnung galt der weibliche Körper jedoch als der unterlegene und weniger vollkommene, verglichen mit der metaphysischen Vollkommenheit und Lebens-Energie des männliche Körpers. Wenn auch die soziokulturellen Geschlechterrollen klar unterschieden wurden, galt das biologische Geschlecht (sex) als für beide gleich. Nach Thomas Laqueur, der sich mit der kulturell geprägten Wahrnehmung der Geschlechter befasste, ist die Überwindung des Ein-Geschlecht-Modells nicht im Fortschritt der (Medizin-)Wissenschaften zu suchen, sondern im Wandel gesellschaftspolitischer Strukturen nach der französischen Aufklärung. Vgl.Laqueur, in: Making Sex, Body and Gender from the Greeks to Freud, 1990.(dt. Auf den Leib geschrieben, 1992)

Im Zuge der Industrialisierung und dem Wandel der sozio-kulturellen Umstände (> geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) wurde nach biologischen Begründungen einer Geschlechterdifferenz gesucht, zugleich aber auch nach Rechtfertigungen der klar abgegrenzten Geschlechterrollen. Nun setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Natur den männlichen und weiblichen Körper unterschiedlich ausgestattet hat, und dass diese Unterschiede verantwortlich für die sozialen Unterschiede seien. Nach Laqueur finden sich noch im 20. Jh. z.B. bei Sigmund Freud, Spuren des Ein-Geschlecht-Modells. vgl. Metzler Lexikon: Gender Studies. 2002. S.79

Heute wird das Geschlecht des Körpers auf den Ebenen des chromosomalen, gonadalen, hormonalen und morphologischen Geschlechts bestimmt. Abweichungen können zu unterschiedlich stark hervortretenden Ausprägungen führen, die von der Medizin zum Teil als Anomalien eingestuft werden. Sind die körperlichen Merkmale nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen (Intersexualität: > Androgynie/Hermaphrodit), wird in modernen Gesellschaften meist mit einem plastisch chirurgischen Eingriff eine Geschlechtskategorie bestimmt.

Neben geschlechtsspezifischen Unterschieden bei den Geschlechtsorganen, Hormonen und Chromosomen können beim männlichen und weiblichen Körper noch andere biologische Geschlechterdifferenzen festgestellt werden. Hier ein paar Beispiele: Obwohl Mädchen bei der Geburt etwas kleiner und leichter sind als Jungen, sind sie, gemessen an den Mittelwerten in der relativen körperlichen Entwicklung, den Jungen immer etwas voraus, was sich z.B. beim früher einsetzenden Wachstumsschub oder der früher abgeschlossenen Pubertät zeigt. Im Erwachsenenalter erreichen Frauen zwischen 88 und 99% der Durchschnittswerte von Männern für ihre Körpermasse. Männer haben eine grössere maximale Muskelkraft als Frauen; diese relativiert sich jedoch, wenn die weibliche Kraftleistung in Relation zum Körpergewicht gesetzt wird. Die Gemeinsamkeiten im Körperbau aller Menschen, sowie das Spektrum an Variationen auch innerhalb der Subkategorien Frau/Mann, werden bei der Zuordnung zu einer Geschlechtskategorie jedoch oft vernachlässigt. Nahezu alle Menschen haben per Geburt entweder männliche oder weibliche Geschlechtsorgane. Mit der Weiblichkeit ist die Ausreifung der Gebärfähigkeit und der Möglichkeit zum Stillen angeboren, mit der Männlichkeit die Zeugungsfähigkeit. Sind damit aber auch „typisch weibliche“ und „typisch männliche“ Eigenschaften naturhaft vorgegeben? Um zwischen biologischen und kulturellen Aspekten klarer unterscheiden zu können, wurden die Begriffe Sex und Gender eingeführt. Sex dient zur Bezeichnung der biologischen, im weitesten Sinn natürlich vorgegebenen Aspekte von Geschlecht, gender zur Bezeichnung der kulturellen, sozial vermittelten Aspekte:

„Gender umfasst somit alle Vorstellungen und Erwartungen, die in einer Kultur in Bezug auf Geschlecht existieren und die – nachweislich – in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit biologischen Aspekten von Weiblichkeit und Männlichkeit stehen. Der Begriff bezieht sich also auf all jene Aspekte, die nicht universell, kulturübergreifend, überall auf der Welt und zu allen Zeiten feststellbar sind, sondern auf jene, die in bestimmten Kulturen, Gesellschaften, Regionen und historischen Zeiträumen auftreten bzw. erwartet werden. In diese Kategorie fällt z.B. die in vielen Untersuchungen immer wieder geäusserte und in unserer Kultur weitverbreitete Annahme, Frauen seien generell sanftmütiger, emotionaler, passiver und beziehungsorientierter als Männer, Männer ihrerseits generell aggressiver, rationaler, aktiver und unabhängiger als Frauen.“ Gitta Mühlen Achs, in: Geschlecht bewusst gemacht. Ein Bilder- und Arbeitsbuch. 1998. S.24

Diese simplifizierenden Vorstellungen über relevante weibliche und männliche Eigenschaften, werden im Verlauf der Sozialisation als kognitive Wissensbestände übernommen. Merkmale wie Geschlecht, Rasse und Alter vereinfachen im Dienste einer kognitiven Entlastung die Orientierung und Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sie stellen auch Urteile und Entscheidungen über begrenzte Informationen bereit.

„Die Mitgliedschaft in einer sozialen Kategorie führt dazu, dass bestimmte Erwartungen aktiviert werden, die als Stereotype im Sinne von Wahrscheinlichkeitsannahmen wirken und als Rollenerwartungen normativen Charakter tragen können. Geschlechterstereotype sind schematische, auf bestimmte Normvorstellungen fixierte Zuschreibungen von Tätigkeiten und Eigenschaften an Frauen und Männer...“ Ilka Borchers, in: Metzler Lexikon: Gender Studies. 2002. S.377

2.1.6 Geschlecht: eine alltägliche Erfahrung

Ich gehe davon aus, dass wir in unserem Alltag in jeder Begegnung mit Menschen registrieren, ob wir es mit einem Mann oder einer Frau zu tun haben. Wir bemerken dies sogar dann, wenn die Begegnungen für unser Leben nicht weiter relevant sind, z.B. auf der Strasse oder beim Einkaufen. Die Zuordnung zu „Mann“ oder „Frau“ beeinflusst die Art und Weise, wie wir mit dem jeweiligen Gegenüber sprechen und ist deshalb keineswegs unerheblich. Auch Kinder nehmen Erwachsene als geschlechtsunterschiedene Wesen wahr, und wir, umgekehrt, die Kinder selbstverständlich auch. Spätestens ab dem Alter von etwa eineinhalb bis zwei Jahren ist unsere Wahrnehmung sofort darauf eingestellt, in einem Kinderwagen ein Mädchen oder einen Jungen auszumachen. Könnten wir das Kind nicht kategorisch eindeutig

zuordnen, werden wir höchstwahrscheinlich danach fragen. Helga Bilden meinte dazu:

„Ein männlich oder weiblich aussehender Körper ist Ausgangspunkt unterschiedlicher Etikettierung als Junge oder Mädchen (...). Wenn wir bedenken, wie desorientiert sich jede/r von uns fühlt, wenn er/sie nicht weiss, ob sein/ihr Gegenüber Mann oder Frau, Knabe oder Mädchen ist, wird deutlich, wie bedeutsam das Geschlecht als Orientierung für jede Beziehung zu einem anderen (und zu uns selbst) ist.“ Bilgen, 1980, in: Korte/Schäfers: Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 2002. S.86

Der Begriff Geschlechterrolle stammt aus der soziologischen Rollentheorie. Er bezeichnet die Summe der von einem Individuum erwarteten Verhaltensweisen als Frau oder Mann und damit ein überindividuelles, relativ stabiles und vorhersagbares geschlechtsspezifisches Verhaltensmuster.

„In der Rollentheorie zählen Geschlechterrollen zu den fundamentalen Rollen: Sie werden im Prozess der primären Sozialisation erlernt und so internalisiert bzw. persönlichkeitsstrukturell verankert, dass sie zur Ausbildung einer Geschlechtsidentität führen.“ Doris Feldmann, in: Metzler Lexikon: Gender Studies. 2002. S.158

Die Herausbildung einer Geschlechtsidentität wird als wesentlich für die psychosoziale Entfaltung angesehen. Eine Lebensform, die auf Einordnung in die Kategorien Frau oder Mann in der Selbst-und Fremdeinschätzung verzichten will, ist in unserer Gesellschaft bisher nur in einem marginalisierten sozialen Feld möglich.

„Da Menschen nur innerhalb einer dinglichen und sozialen Umwelt existieren können, ist die Fähigkeit zur Anpassung eine Grundvoraussetzung ihrer Existenz. Anpassung wird manchmal fälschlicherweise als ein Vorgang des passiven Unterwerfens angesehen; tatsächlich handelt es sich aber um einen aktiven und wechselseitigen Prozess zwischen Menschen und (gesellschaftlicher) Umwelt. Besonders klar gesehen und beschrieben hat Jean Piaget diese Anpassungsprozesse: als aktive Aneignung von Umweltgegebenheiten, in denen Menschen kognitive und soziale Strukturen aufbauen und gleichzeitig verändernd auf sie einwirken. – Anpassung im landläufigen Sinn meint dagegen, sich an soziale Normen und Regeln anzupassen, d.h. auch eine akzeptierte und vorgegebene Rolle anzunehmen.“ Tamara Musfeld, in: dto. S.15

Hier taucht die Frage nach Abweichung und abweichendem Verhalten auf. Der Anpassungsvorgang findet in der kindlichen Entwicklung über Erziehungsvorgaben statt, die von aussen durch Erklärung, Belohnung und Bestrafung gesteuert werden. Im Erwachsenenleben wird Anpassung eher durch sozialen Druck und soziale Kontrolle erzeugt oder durch bereits internalisierte Anpassungsmechanismen. Als Belohnung gelten hier z.B. gesellschaftliche Anerkennung, Status, Zugehörigkeit. Die Frage nach der geschlechtlich bestimmten Identität (> Geschlechtsidentität) und nach Verhaltensweisen, die der Geschlechterrolle angemessen scheinen, ist zentralim Bereich von Anpassungsleistungen. Mädchen und Jungen, die sich nicht an die Geschlechterrollenbilder halten, sind (auch und besonders von Gleichaltrigen)erheblichem Druck ausgesetzt. Erwachsene haben darum zu kämpfen, von der Norm abweichende Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen ohne Diskriminierung leben zu können.

„...Die bestehende Geschlechterdifferenz bestimmt demnach das Weibliche als Gegensatz zum Männlichen und umgekehrt. Die Festlegung von Frauen und Männern auf vorgegebene Schemata erfolgt durch wissenschaftliche Begriffe und Aussagen wie Frauen sind und Männer sind. Solche Aussagen vermitteln aber bestenfalls Halbwahrheiten; sie lassen keine Spielräume für individuelle Entwicklung zu. Dadurch werden persönliche Fähigkeiten von Frauen und Männern, die nicht geschlechtsspezifischen Rollenvorgaben entsprechen, nicht hinreichend berücksichtigt. Sie erscheinen im Lichte gesellschaftlicher Zuschreibungen und Anforderungen vielmehr als unweiblich resp. unmännlich und damit als unnormal und nicht als Geschlechterrollen überschreitendes Handeln.“ Korte/Schäfers: Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 2002. S.90

Das, was wir für normal halten, zeigt sich oft nur in der Abweichung des Normalen. Wir kommen diesen Konstruktionsleistungen des Normalen am ehesten auf die Spur, wenn die Norm verletzt wird, z.B. dann, wenn eine Frau sich sogenannt männlich oder ein Mann sich sogenannt weiblich verhält. Beim Gegenüber bewirkt dieses Verhalten Verunsicherung und beim Handelnden die Angst, nicht normal zu sein, aus familiären oder gesellschaftlichen Kontexten ausgeschlossen zu werden und Achtung und Zugehörigkeit zu verlieren.

[...]

Excerpt out of 103 pages

Details

Title
typisch Mädchen? typisch Knaben? kulturelle Geschlechterfabeln!
Subtitle
geschlechtsspezifische Sozialisation versus gleichberechtigte Pädagogik
College
Höhere Fachschule für Sozialpädagogik Luzern hsl
Grade
6 (Bestnote in der CH)
Author
Year
2003
Pages
103
Catalog Number
V177123
ISBN (eBook)
9783640987641
ISBN (Book)
9783640987856
File size
887 KB
Language
German
Notes
Die vorliegende Arbeit befasst sich in aussergewöhnlich fundierter und differenzierter Weise mit der gewählten Thematik. Insbesondere beeindruckt die Fülle an gelungener Theorieverarbeitung und die daraus resultierenden Thesen für eine Praxis der Verschiedenheit und der Gleichberechtigung. Zugleich bleibt diese Arbeit auf dem "Boden der Realität", denn es wird klar deutlich, dass wir einander und sich uns beruflich anvertraute Menschen nur dort abholen können, wo sie stehen und eben nicht dort wo es theoretisch doch so einleuchtend und doch so wünschbar wäre. M. Lindner, Dozentin HSL
Keywords
Pädagogik der Vielfalt, Gleichberechtigte Pädagogik, Chancengleichheit
Quote paper
Sozialpädagogin HFS Gabrielle à Porta (Author), 2003, typisch Mädchen? typisch Knaben? kulturelle Geschlechterfabeln! , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177123

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