"Von vielsagendem Verschweigen" oder Einladung zu einer außergewöhnlichen Textbegegnung

Eine kleine (didaktische) Auseinandersetzung mit Mascha Kalékos Gedicht „Kleine Auseinandersetzung“


Seminararbeit, 2011

25 Seiten


Leseprobe

Inhalt

1. Einleitung oder „Du hast mir nur ein kleines Wort gesagt“

2. Hauptteil oder „Nun geht das kleine Wort mit mir spazieren“
2.1. Sachanalyse oder „Was war es doch?“…
2.2. Didaktische Analyse oder „Uns reift so manches stumm in Herz und Hirn“
2.3. Lernziele oder ‚Und werde dabei langsam Opti- und nicht Pessimist’

3. Schlussbetrachtung oder „– Ob dies das letzte Wort gewesen ist?“

4. Bibliografie

1. Einleitung oder „Du hast mir nur ein kleines Wort gesagt“

„Es ist ein befreiendes Gefühl, seine eigensten Nöte in Versen ausgedrückt wieder zu finden“– so die bewegte Reaktion einer Leserin nach der Lektüre eines Gedichts von Mascha Kaléko.[1] Ein Text, der eine solch begeisterte Reaktion auch nur in einer einzigen Rezipientin hervorruft, ist aufgrund seiner positiven (Ventil-)Wirkung zumindest in Bezug auf dieses eine lesende Subjekt ein persönlicher Glücksfall. Ein Text, der eine solche oder ähnliche Reaktion in einer Vielzahl von Leserinnen und Lesern hervorruft, ist ein Glücksfall für die Verlagsindustrie wie für die (populäre) Literaturwissenschaft, die beide, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven, bemüht sind, das Geheimnis literarischen Erfolgs aufzuspüren. Ein Text schließlich, der in jungen, d.h. in unserem Fall kindlichen und jugendlichen, Leserinnen und Lesern eine solch positive Reaktion hervorzurufen vermag, ist ein besonderer Glücksfall für den Deutschunterricht – ein Glücksfall, dessen pädagogisch-didaktischer Wert kaum überschätzt werden kann. Denn welche Leserin und welcher Leser würde ein derartiges Aha-Lektüreerlebnis nicht wieder und wieder wiederholen wollen?[2] Kurzum, ein solcher Text kann Leselust, wenn nicht gar Lesesucht, wecken und Lesemuffel in Lese(sehn)süchtige verwandeln. Unanfechtbare Beweise dafür, dass Mascha Kalékos Gedicht „Kleine Auseinandersetzung“ ein solcher Text ist, wird diese Arbeit nicht erbringen können. Stichhaltige Hinweise hingegen, die dafür sprechen, dass diesem Text ein solches (Leselustaktivierungs-)Potential innewohnt, gibt es zur Genüge, und diese sollen auf den folgenden Seiten dargelegt werden.

Die vorliegende Arbeit möchte mithin verstanden werden als eine kleine (didaktische) Annäherung an Mascha Kalékos Gedicht „Kleine Auseinandersetzung“.[3] Dieses Gedicht wurde hier ausgewählt, da es, so die Grundannahme dieser Ausführungen, trotz – oder möglicherweise wegen – seiner unprätentiösen und simpel anmutenden Oberflächenstruktur, d.h. trotz seiner scheinbaren Schlichtheit in Aufbau, Lexik, Stil und Syntax, Schülerinnen und Schülern (im Folgenden SuS abgekürzt) tiefsinnige, wesentliche und ‚wissens- werte ’ Erkenntnisse vermitteln kann. Dies gilt vor allem, erstens, für den Themenkomplex Sprache als Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation, dabei besonders Sprachverwendung sowohl als Ursache für Konflikte als auch als Instrument der Vermeidung und Bewältigung von Konflikten. Es gilt zweitens hinsichtlich des Nicht-Ausgesprochenen wenngleich Mitzuverstehenden oder, um einen literaturwissenschaftlichen Begriff zu wählen, in Bezug auf das Phänomen der literarischen Leerstelle.[4] Drittens gilt es aber auch für weitere essentielle Aspekte menschlicher Identität, darunter vor allem das Verhältnis der Geschlechter in der vorherrschenden (heteronormativen) Geschlechterordnung und damit verbunden auch sexuelle Orientierung. Wie die nächsten Abschnitte zeigen wollen, lässt sich zu Recht behaupten: In der gemeinsamen Auseinandersetzung mit der „Kleine[n] Auseinandersetzung“ im Deutschunterricht können SuS gleich in mehrfacher Hinsicht zu elementaren, fundamentalen und exemplarischen Erkenntnissen gelangen, von denen einige im Rahmen von Sprachkompetenz- und Literaturunterricht von Bedeutung sind (Stichwort Fach-, Sach- und Methodenkompetenz), während andere als für eine ganzheitliche Persönlichkeitsbildung unabdingbare Voraussetzungen gelten dürfen (Stichwort personale und Sozialkompetenz).[5]

Im einleitenden Teil der Arbeit wird das Gedicht „Kleine Auseinandersetzung“ selbst vorgestellt. Im Hauptteil wird der Text zunächst einer Sachanalyse und danach einer didaktischen Analyse unterzogen, bevor in einem letzten Schritt eine Reihe sich daraus ergebener Lernziele formuliert werden. Eine kurze Schlussbetrachtung schließt die Arbeit ab. Lassen wir zunächst das Gedicht selbst zu Wort kommen.

Kleine Auseinandersetzung

Du hast mir nur ein kleines Wort gesagt,

Und Worte kann man leider nicht radieren.

Nun geht das kleine Wort mit mir spazieren

Und nagt ...

Uns reift so manches stumm in Herz und Hirn, 5

Den andern fremd, uns selbst nur nah im stillen.

Das schläft, solang die Lippen es verhüllen,

Entschlüpft nur unbewacht, um zu verwirrn.

Was war es doch? Ein Nichts. Ein dummes Wort ...

So kurz und spitz. Leis fühlte ich das Stechen. 10

In solchen Fällen kann ich selten sprechen,

Drum ging ich fort.

Nun wird ein Abend wie der andre sein,

Sinnlos mein Schweigen, ziellos mein Beginnen.

Leer wird die Zeit mir durch die Finger rinnen. 15

Das macht: ich weiß mich ohne dich allein.

... Ich muß schon manchmal an das Ende denken

Und werde dabei langsam Pessimist.

So ein paar kleine Silben können kränken.

– Ob dies das letzte Wort gewesen ist?[6] 20

2. Hauptteil oder „Nun geht das kleine Wort mit mir spazieren“

Bevor wir uns dem Gedicht schrittweise nähern, sei an dieser Stelle eines vorweggenommen. Die folgenden sachanalytischen und didaktischen Reflektionen, wie auch die formulierten Lernziele, erheben selbstverständlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Sie zielen vielmehr darauf ab, das Wesentliche und Exemplarische sichtbar zu machen, für das die „Kleine Auseinandersetzung“ Kristallisationskern sein kann.

2.1. Sachanalyse oder „Was war es doch?“

Versuchen wir nun, uns dem Gedicht zunächst sachanalytisch anzunähern. Wir werden sehen, dass sich die Kernaussage und -frage zu wenigen Worten ‚ver dichten ’ lassen:

Du hast mir nur ein kleines Wort gesagt (V. 1)

So kurz und spitz. Leis fühlte ich das Stechen. (V.10)

– Ob dies das letzte Wort gewesen ist? (V. 20)

Durch eine verbale Verletzung hat die noch genauer zu bestimmende Beziehung zwischen Ich und Du einen so empfindlichen Bruch erlitten, dass ihr Fortbestehen grundlegend in Frage steht. Es ist dabei mit Sicherheit kein Zufall, dass es genau der erste, mittlere und letzte Vers sind, in denen die Essenz des Gedichts aufscheint. Vielmehr spricht dies dafür, dass das Gedicht bei aller scheinbaren Einfachheit sehr elaborierten Kompositionsprinzipien unterliegt.

Noch vor dem ersten Lesen, bereits beim bloßen Anblicken des Gedichts, sticht unmittelbar seine klare Gliederung ins Auge. Ein genaueres Hinsehen zeigt, dass es sich dabei um eine Unterteilung in fünf vierzeilige Strophen, kurz um eine Quartettstruktur, handelt. Wir werden später sehen, dass diese optisch auffällig klare Unterteilung auch syntaktisch, thematisch und grammatikalisch nachweisbar ist. Schon beim ersten Lesen des Gedichts wird der so erweckte Eindruck einer klaren und scheinbar simplen Oberflächenstruktur durch reimisch und metrische Aspekte verstärkt. Genauer gesagt wird dieser Effekt durch die (fast) durchgängige Verwendung des Reimschemas umarmender Reim und eines fünfhebigen jambischen Metrums erzielt. Allerdings ist bezüglich der Verslänge ebenfalls sogleich augenfällig, dass zwei der insgesamt zwanzig Verse durch eine drastische Verkürzung stark von diesem ebenmäßigen fünfhebigen Silbenmaß abweichen (V. 4, 12). Mittels ihrer so markierten Andersartigkeit ziehen diese zwei Verse besondere Aufmerksamkeit auf sich. Die markante Verkürzung schlägt sich nicht nur visuell nieder, sondern das drastisch verkürzte Silbenmaß hat einen direkten, entschleunigenden Einfluss auf den Leseprozess. Sie zwingt den Leser regelrecht, im Lesen kurzzeitig innezuhalten und bietet auf diese Weise Anlass zur Reflexion. Das verkürzte Silbenmaß wird so zum mentalen Stolperstein.

Welche interpretatorischen Schlüsse diese Abweichung nahe legt, wird weiter unten erläutert. Doch auch ohne an dieser Stelle auf inhaltliche Aspekte der genannten Abweichung einzugehen, lässt sich bereits an diesem Einzelbeispiel ein wichtiges Grundprinzip textueller Vermittlung exemplarisch erkennen und benennen, das sodann auf unzählige weitere Beispiele übertragbar ist. So ist das vorliegende Gedicht hervorragend dazu geeignet, aufzuzeigen, wie in Texten, in denen die Prinzipien der Gleichmäßigkeit und Regelmäßigkeit vorherrschen, singuläre Abweichungen von diesen Prinzipien umso bedeutungsvoller hervortreten. Denn in Bezug auf den Rezipienten ist solch eine signifikante Abweichung als ein deutliches Textsignal zu verstehen, dass sich an dieser Stelle Bedeutsames verbirgt. Einmal verstanden, erleichtert diese Erkenntnis den Zugang nicht allein zum vorliegenden Text, sondern zu zahllosen weiteren Textbeispielen.

Wir werden sehen, dass die „Kleine Auseinandersetzung“ sich in mehrfacher Hinsicht dieser textuellen Strategie der gezielten Abweichung vom Regelmaß bedient. Verweilen wir noch einen Augenblick an der Textoberfläche, sehen wir die gleiche textuelle Strategie beispielsweise auch in den Bereichen Reimschema und Kadenzen am Werk. Während die ersten vier Quartette durchgängig umarmende Reime aufweisen, kommt es in der letzten Strophe zu einem Wechsel hin zum Kreuzreimschema. Das zunächst im Text (reimisch) vorherrschende Prinzip der Umarmung, oder ‚Um klammerung ’, wird am Ende abgelöst durch ein Prinzip der Wechselseitigkeit.[7] Ohne bislang inhaltlich in irgendeiner Weise in den Text eingedrungen zu sein, d.h. lediglich aufgrund der Beobachtung textueller Signale an der Text oberfläche, müssen wir als Leser eines bereits vermuten: dass zwischen den ersten vier Quartetten und dem Schlussquartett eine wie auch immer geartete signifikante Veränderung stattfindet.

Bevor wir uns der eher spezifischen Frage zuwenden, welche Interpretationsmöglichkeiten sich aus diesen Beobachtungen ergeben, nähern wir uns dem Inhalt des Gedichts gleichsam naiv an, indem wir basale Fragen, etwa nach Thema und Sprechsituation, stellen. Fragen wir also: Worum geht es in diesem Gedicht? Auf welche implizite Frage bietet der Text eine Antwort? Wer spricht, und zu wem wird gesprochen? Welchen Bezug haben Text und Titel zueinander? Und nicht zuletzt: Was will der Text (uns) sagen?[8]

Nun sind diese Fragen schon insofern nicht unkompliziert, als sie aufs engste miteinander verwoben sind und sich mögliche Antworten erst in einer Zusammenschau herauskristallisieren. Dennoch lässt bereits die Erstlektüre vermuten, dass das Grundthema des Gedichts im weitesten Sinne als ‚zwischenmenschliche Beziehungen’ paraphrasierbar ist. Etwas präziser lässt sich formulieren: Es geht um eine Art Streit, einen zwischenmenschlichen Konflikt, eben um eine im Titel angekündigte, verbal ausgetragene „[k]leine Auseinandersetzung“. Entsprechend dürfen wir annehmen, dass der Titel dem Thema entspricht. (Wir werden allerdings später sehen, dass das Gedicht auf mehreren Bedeutungsebenen lesbar ist. Auf einer zweiten Ebene ist das Thema wohl eher ein wenig weiter gefasst, Sprachverwendung und zwischenmenschliche Kommunikation.) Was die konkrete Sprechsituation angeht, so spricht hier ein lyrisches Ich zu einem lyrischen Du oder ein Sprecher-Ich zu einem Empfänger-Du. Aus dem im Verlauf des Gedichts Gesagten können wir schließen, dass das lyrische Ich eine Verletzung erlitten hat, die durch etwas in der Vergangenheit vom lyrischen Du Gesagten hervorgerufen wurde. So heißt es eingangs „Du hat mir nur ein kleines Wort gesagt“ (V. 1) und später: „So kurz und spitz. Leis fühlte ich das Stechen.“ (V. 10).

Allerdings, und auch dies ist sofort auffällig, ist die Kommunikationssituation hier keine dialogische, sondern eine monologische. Das adressierte „Du“ (V. 1) selbst kommt im Gedicht nicht zu Wort. Es findet kein Wechsel der Rollen zwischen Sprecher und Empfänger statt. Sofern wir aber, in Übereinstimmung mit den herkömmlichen Kommunikations- und semiotischen Zeichenmodellen, davon ausgehen, dass Kommunikation nicht nur die drei essentiellen Elemente (1) Artikulation eines sprachlichen Zeichens, (2) einen Zeichensender und (3) einen Zeichenempfänger notwendig voraussetzt, sondern zudem durch das Prinzip der Wechselseitigkeit oder des Austauschs gekennzeichnet ist, ist diese monologische Form bereits als erstes Anzeichen zu deuten, dass Kommunikation in diesem Text etwas potentiell Problematisches ist. Denn die monologische Form deutet an, dass die Kommunikation zwischen Ich und Du in irgendeiner Weise gestört und unterbrochen ist.

In Zusammenhang mit der Sprechsituation sticht eine weitere Besonderheit des Texts unmittelbar ins Auge. Der Text wird dominiert von Personalpronomina der 1. und 2. Person Singular. Nun ist es aber eine wesentliche Eigenschaft von Personalpronomina, dass sie – anders als etwa Adjektive oder Substantive – keine Geschlechtsmarkierungen aufweisen. In der Tat zeigt ein genaueres Hinsehen, dass der Text keinerlei Geschlechtszuschreibungen vornimmt. Ich gehe noch weiter und behaupte: Es handelt sich bei dem vorliegenden Gedicht um einen Text, der nicht zuletzt deshalb über ein außergewöhnlich großes Identifikationspotential verfügt, weil er sich rigiden Geschlechts- und Sexualitätskategorien verweigert, indem er eindeutige Geschlechtszuschreibungen durch das Prinzip der Geschlechtsambiguität ersetzt. Das lyrische Ich und das lyrische Du (oder Sprecher-Ich und Empfänger-Du) bleiben hier durchweg geschlechtsunmarkiert bzw. geschlechts ambig.[9] Diese Besonderheit des Textes kann kaum genug betont werden. Sie ist von größter Bedeutung, weil damit hinsichtlich der Beziehung zwischen Sprecher-Ich und Empfänger-Du sämtliche Paar-Konstellationen denkbar sind, d.h. nicht nur die übliche Konstellation weiblich-männlich, sondern auch männlich-männlich und weiblich-weiblich.[10] Welche Bedeutung diese textuelle Besonderheit für eine Begegnung unserer SuS mit dem Text hat und vor allem weshalb sie von unschätzbarem Wert für die aktuelle und zukünftige Persönlichkeitsentfaltung unserer SuS ist, werden wir genauer in der didaktischen Analyse erörtern.

[...]


[1] Nachlass, DLA Marbach: Edith Lorant, Köln, an Mascha Kaléko, 10.5.1933 (zit. in Rosenkranz 2007: 267).

[2] Aus Platzgründen wird im Folgenden hinsichtlich geschlechtsspezifischer Substantive, wie etwa Leser und Leserin, auf die explizite Nennung beider Geschlechter verzichtet. Die Verwendung der linguistisch unmarkierten männlichen Form schließt mithin weibliche Subjekte mit ein.

[3] Mascha Kaléko wurde 1907 als Golda Malka Aufen im galizischen Chrzanów geboren. Sie starb 1975 in Zürich. Ihr Gedicht „Kleine Auseinandersetzung“ erschien 1933 im Gedichtband Das lyrische Stenogrammheft. Verse aus dem Alltag, der rasch zu einem großen Verkaufserfolg wurde (vgl. Rosenkranz 2007: 47; Zoch-Westphal 1987: 15; 35-36; 202).

[4] Zur literarischen Leerstelle siehe Iser (1978).

[5] Nicht zufällig sind hier mit den Stichworten des Elementaren, Fundamentalen und Exemplarischen drei Kriterien genannt, die zumindest aus Sicht der bildungstheoretischen Didaktik nach Wolfgang Klafki als Auswahlkriterien bei der Wahl konkreter Unterrichtsgegenstände stets herangezogen werden sollten. Eine Ausrichtung des Unterrichtsstoffs an diesen drei Kriterien gehört nach Klafki zu den notwendigen Grundvoraussetzungen ‚guten Unterrichts’ und zielt auf eine Reduktion der Stofffülle (vgl. Klafki 2007; 1964). Zu den vier Kompetenzbereichen und der Förderung einer ganzheitlichen Persön­lichkeits­­bildung siehe Bildungsplan Baden-Württemberg (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg [KMBW] 2004: 14; 76).

[6] Zit. nach Kaléko (1982: 93).

[7] Ähnliches zeigt sich in Bezug auf die Kadenzen. Während in den ersten vier Strophen jeweils zwei männliche Kadenzen am Strophenanfang und -ende weibliche Kadenzen ‚umklammern’, kommt es in der letzten Strophe zu einem Bruch mit diesem Schema.

[8] Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass basale Fragen nicht mit banalen Fragen zu verwechseln sind. Im Gegenteil, es sind zumeist die basalen, d.h. grundlegenden und im wahren Sinn fundamentalen, Fragen, die uns als Rezipienten einen Zugang zum Text erst ermöglichen. Ich würde noch weiter gehen und behaupten, es gibt eine relativ beschränkte Anzahl (variierbarer) Grundfragen, die uns Zugang zu jedem, oder fast jedem, Text gewähren. Dazu gehören m.E. auch die oben genannten Fragen.

[9] Ich verwende hier bewusst den Begriff geschlechts ambig und nicht den gewöhnlicheren Begriff geschlechtsneutral, weil ersterer deutlicher macht, dass es sich dabei durchaus um eine intentionale textuelle Strategie handelt.

[10] Ich möchte an dieser Stelle einen möglichen Einwand vorwegnehmen und entkräften. So lässt die Tatsache, dass es sich bei der Textverfasserin um eine Dichter in handelt m.E. nicht den automatischen Schluss zu, dass auch das lyrische Ich ein weibliches ist. Ein solcher Schluss mag zwar auf den ersten Blick plausibel erscheinen – es ist aber weder der einzig mögliche noch der notwendige, geschweige denn der notwendig ‚richtige’. Zwar steht dieser Schluss – oder besser: diese Vermutung – in Einklang mit der nach der Erzähltheoretikerin Susan Lanser so genannten ‚Lanser’s rule’. (Diese Regel besagt, dass Leser in Bezug auf Erzählerfiguren, denen kein eindeutiges Geschlecht zugeschrieben ist, zu der Annahme tendieren, dass das Geschlecht der Erzählerfigur identisch ist mit dem Geschlecht des Autors bzw. der Autorin. Zur Lanser-Regel siehe Jahn (2005).) Dadurch ist aber keineswegs ein textuell begründbarer Beweis erbracht, sondern lediglich eine typische – ich bin versucht zu schreiben: stereotype – Standardannahme aufgedeckt. Unser biografisches Hintergrundwissen, dass die Verfasserin des vorliegenden Gedichts eine Frau war, die in heterosexuellen Beziehungen lebte, lässt aber keineswegs den Schluss zu, dass dies auch für das lyrische Ich gilt. Ob intendiert oder nicht, der Text funktioniert für jede andere, auch nicht heterosexuelle, Paar-Konstellation. (Besonders anschaulich wird dies, wenn man Lesern das Gedicht ohne Angabe der Verfassernamens präsentiert.) Aufgrund ihrer Unmarkiertheit in Bezug auf Geschlechtskategorien, funktionieren die im Gedicht verwendeten Personal­pro­nomina genau wie literarische Leerstellen. Nicht-Ausgesprochenes muss vom Leser mitgedacht werden. In textlinguistischer Ter­minologie können wir sagen: Hinsichtlich der Geschlechtszugehörigkeit und sexuellen Orientierung des Sprecher-Ich und Empfänger-Du ist der Text ‚referenziell unterspezifiziert’ und eröffnet damit verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Wenn ein Leser aus dem im Gedicht Artikulierten quasi automatisch schließt, dass die zugrunde liegende Beziehung eine heterosexuelle Frau-Mann-Beziehung ist, sagt dies außerordentlich viel über diesen Leser und seine impliziten Standardannahmen aus. Dem Text selbst und seinen Mehrdeutigkeiten wird er dadurch aber nicht gerecht. Ich habe oben behauptet, das Gedicht selbst nimmt keinerlei Geschlechtsmarkierungen oder -zuschreibungen vor. Dagegen mag der Einwand erhoben werden, dass an einer Stelle des Gedichts das Prinzip der Geschlechts­ambi­guität durch­brochen wird. Gegen Ende beschreibt das lyrische Ich sich selbst als „Pessimist“ (V. 18) – was immerhin ein gram­­matikalisch männliches Substantiv ist. Lässt dies nun darauf schließen, dass das lyrische Ich entgegen unserer bisherigen Argu­mentation doch ein geschlechtsmarkiertes und zwar männliches ist? Ich würde sagen: Nein. Doch sehen wir hier ein sehr interessantes Phänomen in Sachen (grammatikalischer) Geschlechtsmarkierung. Ich würde nämlich behaupten, dass die Ver­wendung des grammatikalisch maskulinen Lexems ‚Pessimist’ zwar nicht den Schluss nahe legt, dass es sich beim lyrischen Ich um ein männliches handelt, wohl aber uns ins Bewusstsein ruft, dass in Bezug auf viele Substantive nach wie vor die grammatikalisch männliche Form die linguistisch unmarkierte ist. Als solches kann ein grammatikalisch männlich mar­­kier­tes Substantiv aber sowohl für männliche als auch für weibliche Referenzobjekte verwendet werden. Damit bleibt die Form „Pessimist“zweideutig.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
"Von vielsagendem Verschweigen" oder Einladung zu einer außergewöhnlichen Textbegegnung
Untertitel
Eine kleine (didaktische) Auseinandersetzung mit Mascha Kalékos Gedicht „Kleine Auseinandersetzung“
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Autor
Jahr
2011
Seiten
25
Katalognummer
V177170
ISBN (eBook)
9783640986668
ISBN (Buch)
9783640986774
Dateigröße
666 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fachdidaktik Deutsch, Mascha Kaléko, Lyrik, Gebrauchslyrik, Kleine Auseinandersetzung, Mein Lied geht weiter, Gedichtinterpretation, Lernziele Lyrik, Heteronormativität, Lyrikunterricht
Arbeit zitieren
Hanna Kubowitz (Autor:in), 2011, "Von vielsagendem Verschweigen" oder Einladung zu einer außergewöhnlichen Textbegegnung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177170

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