Förderung von Gesundheitskompetenzen (Health Literacy) durch Gesundheitsbildung

Ergebnisse einer teilstandardisierten Befragung


Magisterarbeit, 2008

150 Seiten, Note: 1,2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

Teil I - Theoretischer Hintergrund

2 Gesundheitsbildung
2.1 Anforderung an das Individuum in einem sich verändernden Gesundheitsmarkt
2.2 Gesundheitsbildung mit dem Ziel, Gesundheitskompetenzen zu fördern
2.2.1 Ziele von Gesundheitsbildung
2.2.2 Definition Gesundheitsbildung
2.2.3 Gesundheitsbildungsaktivitäten in Deutschland
2.3 Das Konzept „Health Literacy“
2.3.1 Definition Health Literacy
2.3.2 Health Literacy Ebenen
2.3.3 Health Literacy in den USA
2.3.4 Health Literacy in Europa
2.3.5 Messung von Health Literacy
2.4 Interventionen zur Förderung von Gesundheitskompetenzen
2.4.1 Schriftliche Gesundheitsinformationen
2.4.2 Interaktive Ressourcen
2.4.3 Alphabetisierungs-Initiativen
2.4.4 Kampagnen in den Massenmedien

3 Gesundheitsbildung durch die Patientenuniversität an der MHH
3.1 Die Patientenuniversität - konzeptueller Rahmen
3.2 Die Veranstaltungsreihe „Gesundheitsbildung für Jedermann - Das Organsystem des Menschen
3.2.1 Expertenvorträge
3.2.2 Lernstationen
3.2.3 Dialog und Fragen
3.2.4 Das Tutorenkonzept mit Studierenden der Humanmedizin und anderer Studiengänge
3.2.5 Mischung der Lernformen und Einsatz von Medien

Teil II - Untersuchungsmethodik

4 Das Forschungsprojekt
4.1 Untersuchungsdesign
4.2 Entwicklung der Fragebögen
4.2.1 Erster Fragebogen (FB 1)
4.2.2 Zweiter Fragebogen (FB 2)
4.2.3 Dritter Fragebogen (FB 3)
4.3 Durchführung der Datenerhebung
4.4 Methoden der Datenanalyse / statistische Verfahren

Teil III - Die Ergebnisse

5 Die empirischen Befunde

6 Ergebnisse der Teilnehmerbefragung FB: 1 (Teilnehmerstruktur)
6.1 Beschreibung der Untersuchungspopulation
6.1.1 Altersverteilung im Vergleich
6.1.2 Geschlechterverteilung im Vergleich
6.1.3 Wohnorte der Befragten
6.2 Daten zur Gesundheit
6.2.1 Krankheit oder Behinderung
6.2.2 Subjektiver Gesundheitszustand
6.2.3 Art der Krankenversicherung
6.3 Gesundheitsinformationsverhalten der Teilnehmer
6.3.1 Gesundheitsbildungsveranstaltungen
6.3.2 Selbsthilfegruppen
6.4 Erwartungen der Teilnehmer

7 Ergebnisse der Teilnehmerbefragung FB: 2 (Bewertung der Teilnehmer)
7.1 Der Vortrag
7.2 Tutoren und Lernstationen
7.3 Mischung der Lernformen
7.4 Bewertung der Informationen
7.5 Gesamtbeurteilung aus Sicht der Befragten

8 Ergebnisse der Teilnehmerbefragung FB: 3- Erfüllung der Erwartungen und Anwendung der Teilnehmer in der Praxis
8.1 Erfüllung der Erwartungen
8.2 Anwendung des Gelernten im Alltag
8.3 Reaktion der Hausärzte
8.4 Abschließende Einschätzung der Veranstaltungsreihe
8.5 Empowerment und Selbstwirksamkeit

Teil IV - Abschluss

9 Zusammenfassende Diskussion

10 Ausblick

11 Abbildungsverzeichnis

12 Tabellenverzeichnis

13 Literaturverzeichnis

14 Anlagen

1 Einleitung

An der Medizinischen Hochschule Hannover wurde im Herbst 2006 die erste deutsche Patientenuniversität gegründet. Mit der Eröffnung der Patientenuni- versität wurde ein Angebot der Gesundheitsbildung geschaffen, das auf die wachsende Patientenbeteiligung im deutschen Gesundheitssystem reagiert und das dafür erforderliche Gesundheitswissen, den kritischen Umgang mit Ge- sundheitsinformationen sowie eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit in Gesundheitskontexten fördern will. Denn damit Bürger[1] und Patienten adäquate Entscheidungen für ihre Gesundheit und ihre Gesundheitsversorgung treffen können, benötigen sie Zugang zu unabhängigen, qualitativ hochwertigen, ver- ständlichen Gesundheitsinformationen. Es reicht dabei nicht aus, die Infor- mationen bereitzustellen, vielmehr sind Anstrengungen zu unternehmen, die In- formationen so aufzubereiten und darzubieten, dass die Bürger und Patienten diese verstehen und in ihrem Alltag nutzen können. Die Patientenuniversität hat deshalb ein Gesundheitsbildungskonzept entwickelt mit dem Ziel, die Ge- sundheitskompetenzen von Bürgern, Versicherten und Patienten zu erhöhen.

Die theoretische Basis ist neben dem Empowerment-Ansatz das „Health Literacy“ Konzept (vgl. WHO, 1998; Nutbeam, 2000), im deutschsprachigen Raum auch als „Gesundheitskompetenz“ bezeichnet. Dies meint die Fähigkeit von Menschen, sich im Gesundheitswesen kompetent zu verhalten und für die eigenen Interessen einzutreten (vgl. Duetz/Abel, 2004).

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Evaluation der zehnwöchigen Veranstaltungsreihe „Gesundheitsbildung für Jedermann - Das Organsystem des Menschen“, die von März bis Mai 2007 als ein Bildungsangebot der Patientenuniversität stattfand. Das Ziel der Veranstaltung ist es, medizinischen Laien ein Grundlagenverständnis der wissenschaftlichen Humanmedizin sowie Kenntnisse über das Gesundheitssystem in Deutschland zu vermitteln. Für die erste, zehnteilige Veranstaltungsreihe konnten 295 Teilnehmer angenommen werden. Pro Termin wurde ein medizinisches Thema behandelt, bei dem jeweils ein wichtiges Organ oder Körpersystem des Menschen (z. B. das Herz, der Darm oder der Bewegungsapparat) erklärt und entsprechende anatomische, physiologische und pathologische Fragen erörtert wurden. Der dreistündige Abend teilte sich in einen Vortragsteil und in eine anschließende offene Bildungsarbeit an Lernstationen zu dem jeweiligen Thema. Begleitet wurde die Arbeit von geschulten (studentischen) Tutoren und professionellen Tutoren aus verschiedenen medizinischen Disziplinen, die Erklärungen gaben und für Fragen zur Verfügung standen. Dabei wurde darauf Wert gelegt, dass ver- schiedene Medien und didaktische Methoden zum Einsatz kamen. Dazu wurden Anschauungsmaterialien (z. B. Tierpräparate), medizinische Modelle (z. B. das Blutdruckmodell), interaktive Medien (z. B. Internet) und medizinische Untersuchungsverfahren (z. B. Spirometer, Blutdruckmessung) eingesetzt.

In der vorgelegten Arbeit wird einleitend ein theoretischer Bezugsrahmen hergestellt, in dem Entwicklungen im Gesundheitswesen, Ziele von Gesundheitsbildung und das Konzept Health Literacy/Gesundheitskompetenz beschrieben werden (Teil I, Kapitel 1). Im zweiten Teil des theoretischen Hintergrundes (Teil I, Kapitel 2) werden die Patientenuniversität und im Speziellen die in dieser Arbeit untersuchte Veranstaltungsreihe „Gesundheitsbildung für Jedermann - Das Organsystem des Menschen“ erläutert.

Teil II der Arbeit beschreibt das methodische Vorgehen bei der Evaluation der Veranstaltungsreihe, an der 295 Menschen teilgenommen hatten. Hier kamen Methoden der quantitativen und qualitativen Sozialforschung zum Einsatz. Befragt wurden die Teilnehmer zu drei unterschiedlichen Erhebungszeitpunkten auf der Basis schriftlicher, anonymer Befragungen.

In der ersten Befragung zum Zeitpunkt des Beginns der Veranstaltungsreihe wurden persönliche Angaben der teilnehmenden Personen und deren Gesund- heitsinformationsverhalten bzw. das Gesundheitsbildungsverhalten erfragt. Jeder Veranstaltungstag sollte von jedem Teilnehmer unmittelbar im Anschluss anonym bewertet werden, und zwar unter Berücksichtigung des Vortrags, der Tutoren an den Lernstationen und der Organisation. Im Abschlussfragebogen, der dritten (postalischen) Befragung, die ein halbes Jahr nach Ende der gesamten Reihe erfolgte, ging es darum, den Nutzen an der Teilnahme aus der Retrospektive zu erfassen.

Die Ergebnisse der drei Befragungen werden im Teil III dieser Arbeit vorgestellt, im vierten Teil erfolgt die zusammenfassende Diskussion. Den Abschluss bildet ein Ausblick zu den Aktivitäten der Patientenuniversität.

Teil I - Theoretischer Hintergrund

2 Gesundheitsbildung

2.1 Anforderung an das Individuum in einem sich verändernden Gesundheitsmarkt

Gesundheit ist ein hochgeschätztes Gut. In der Werteskala von Gesellschaft und Politik sowie auf den Wunschlisten der deutschen Bürgerinnen und Bürger steht eine gute Gesundheitsversorgung weit oben (vgl. Stiftung für Zukunfts- fragen, 2007). Fast alle Deutschen wünschen sich, gesund zu sein (98 %), Freundschaften rangieren mit 87 % auf Platz zwei, gefolgt von der Familie (84 %).[2] Dabei sind der wachsende Wellness-Markt, die zunehmende Nach- frage nach gesunden Lebensmitteln und der zunehmende Gebrauch von Lifestyle-Produkten nur einige der Indizien für das steigende Interesse am The- ma Gesundheit. Auch der Gesundheitsmarkt wächst: Informationen, Produkte und Dienstleistungen inner- und außerhalb des medizinischen Versorgungs- systems werden in einer immer größeren Zahl angeboten (vgl. Kickbusch, 2006; Dierks/Schwarz, 2003). Bürger stehen in dem immer komplexer werden- den Gesundheitssystem vor einer immer größeren Anzahl von Veränderungen: der steigenden Zahl von chronischen Krankheiten (vgl. RKI, 2006), der Notwen- digkeit, sich als Partner an der Gesundheitsversorgung zu beteiligen und angesichts der stetig ansteigenden Fülle von Gesundheitsinformationen - aus den verschiedensten Quellen - kompetent zu agieren (vgl. Dierks/Seidel et al., 2006). Individuen sind hier gefragt, eine neue Rolle bei der Informationssuche einzunehmen, ihre Rechte in Bezug auf die Gesundheit durchzusetzen und Kenntnisse über verschiedene Behandlungsmöglichkeiten zu gewinnen. Die Fähigkeit, die eigene und die Gesundheit von Familienmitgliedern zu beob- achten, ist zudem eine weitere wichtige Fähigkeit, um adäquate Gesundheits- entscheidungen zu treffen (vgl. Institute of Medicine, 2004).

Diese Gesundheitsentscheidungen fallen nicht nur in Gesundheitsversorgungs- einrichtungen an, wie beim Hausarzt oder im Krankenhaus, sondern auch zu Hause, bei der Arbeit, in der Schule und im Gemeinwesen. Schließlich sind gesundheitsbezogene Aktivitäten Teil des Alltagslebens: „Es geht nun darum, Gesundheit als positive Ressource in einen aktiven Lebensalltag zu integrieren und sowohl als Emanzipation förderndes und Gemeinschaft stiftendes Moment einzusetzen.“ (Kickbusch, 2006, S. 9).

Gesundheit ist als positive Lebensressource zu verstehen, und Gesundheits- kompetenz entsprechend als die Fähigkeit, diese Ressource zu nutzen: „Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit der Menschen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken - Zuhause, auf dem Markt, bei der Arbeit und in der Gesellschaft ganz allgemein“ (ebd., S. 69). Diese Kompetenz wird für den Erhalt der Gesundheit immer zen- traler werden, und wir wissen heute, dass sie nicht selbstverständlich bei allen Menschen gleichermaßen vorhanden ist. Die kritische Aufnahme und Ver- arbeitung von Informationen zur Gesundheit und Krankheit, damit verbundene Anregungen zum gesundheitsfördernden Verhalten und Informationen zu verschiedenen Behandlungen sind eine Voraussetzung für den verantwortungs- vollen Umgang mit der eigenen Gesundheit.

Eine besondere Herausforderung für den modernen Menschen ist in diesem Zusammenhang die durch die neuen Medien (Internet, Fernsehen) ent- standene, wachsende Informationsflut. Das Angebot an Gesundheitsinforma- tionen, vor allem im Internet, ist heute kaum noch überschaubar, die Qualitäts- beurteilung für den Nutzer sehr schwierig, da es keine umfassende Qualitätssi- cherung von Patienteninformationen gibt. Für Laien ist die ungefilterte Informa- tionsflut kaum noch zu bewältigen, und die entsprechend vielfältigen Entschei- dungsmöglichkeiten können zur Entscheidungsqual werden. Zugleich sind für eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung der Wissensstand sowie auch die Zufriedenheit mit dem Entscheidungsprozess wichtig (vgl. Dierks/Diel/Schwartz, 2003; Kickbusch, 2006; Eysenbach, 2003).

Patienten interessieren sich sehr für Gesundheitsinformationen, wie zahlreiche Studien zeigen. Über die Hälfte der erwachsenen Befragten in einer Repräsentativerhebung in Bremen hat beispielsweise im Jahr 2007 mindestens einmal nach Gesundheitsinformationen im Internet gesucht, 22 % sogar mehrfach. Ungefähr ein Drittel der Befragten hält es fast immer für hilfreich, zusätzlich zum Arztbesuch eigenständig nach Gesundheitsinformationen zu suchen (vgl. Stroth/Post/Pfuhl et al., 2007)[3].

Dieser Wunsch nach eigenständiger Informationssuche ist ein Indikator dafür, dass sich auch das Rollenverständnis von Nutzern des Gesundheitssystems verändert hat (vgl. Dierks, 2008). Beeinflusst durch die Gesundheits-, Frauen- und Umweltbewegung in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts vollzog sich hier ein Wandel. Durch Forderungen nach mehr Emanzipation und Selbstbe- stimmung wollen sie an der Gesundheitsversorgung als „beteiligte Experten“ aktiv mitwirken (vgl. Kickbusch/Trojan, 1981). Dies zeigt sich z. B. in der Forde- rung nach Mitwirkung bei Diagnose- und Therapieentscheidungen, gerade da, wo eine Wahl zwischen verschiedenen Optionen besteht (vgl. Dierks/Seidel et al., 2006), aber auch bei dem Wunsch nach Beteiligung auf der Meso- und Makroebene des Gesundheitswesens (vgl. ebd.).

Für die Umsetzung eines partizipativen Verständnisses der Patientenrolle muss Bereitschaft von Patienten sowie Ärzten vorhanden sein. Verschiedene Bedingungen, wie z. B. Zeitmangel bei einem Arzt-Patienten-Gespräch, werden in der Praxis häufig gegen einen gemeinsamen Informations- und Entschei- dungsprozess vorgebracht. Außerdem beeinflussen u. a. Sozialisation, Alter, Geschlecht oder Krankheitsstadium den Wunsch der Patienten nach aktiver Beteiligung (vgl. Dierks, 2001; Dierks/Seidel et al., 2006). Festzuhalten ist, dass es zwar ein neues Rollenverständnisse des Patienten gibt, „alte“ und „neue“ Rollen aber weiterhin parallel bestehen und teilweise erst ausgestaltet werden (vgl. Dierks/Schwartz, 2003). Aus den skizzierten Veränderungen der Patientenrolle ergeben sich veränderte Erwartungen und Forderungen an das Gesundheitssystem. In der Untersuchung „The European Patient of the Future“, die in acht europäischen Ländern - Deutschland, Italien, Spanien, Schweden, Großbritannien, Polen, Slowenien und der Schweiz - stattfand, wurden in einer repräsentativen Befragung die Erwartungen und Forderungen der Bürger abgefragt. Die Ergebnisse waren trotz unterschiedlicher Versorgungssysteme sowie politischer und kultureller Unterschiede sehr ähnlich (vgl. Coulter/Magee, 2003):

- Patienten legen immer mehr Wert auf Ärzte, die bereit sind, zuzuhören, und die in der Lage sind, auch komplizierte Zusammenhänge zu Diagnosen und Therapien gut zu erläutern.
- Viele Menschen fühlen sich nicht gut genug informiert, wenn es um Krankheiten und Therapien, aber auch um spezielle Qualifikationen von Haus- und Fachärzten geht.
- Die Menschen wollen stärker in Entscheidungen über ihre Gesundheit eingebunden werden. Entsprechend ergeben sich Anforderungen an die Fähigkeiten von Patienten in diesem System. Menschen benötigen
- Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten, um Gesundheitsinformationen zu verstehen und umzusetzen,
- Kommunikationsfähigkeiten, um sich selbst mitzuteilen und erfolgreiche Arzt-Patienten-Gespräche zu führen,
- Wissen über die Funktionsweise des Gesundheitssystems, Wissen über Patientenrechte und die Fähigkeit, diese zu reflektieren,
- Wissen über die Versorgung und Behandlungsalternativen,
- die Kompetenz, mit einem hohen Maß von Gesundheitsinformationen und deren fehlender Qualitätssicherung umgehen zu können und/oder Beratung in Anspruch zu nehmen und kritisch damit umzugehen,
- Wissen über medizinische Zusammenhänge und Funktionsweise des Körpers, um komplexe Sachverhalte zu verstehen und dieses in der Praxis umzusetzen, und
- das Vertrauen und den Glauben daran, mit Gesundheitsproblemen umgehen zu können (Empowerment) (vgl. Dierks, 2008).

Ob diese Kompetenzen bei den Einzelnen vorhanden sind, ist nicht gesichert, z. B. zeigen in Bezug auf das Gesundheitswissen von Bürgern die Ergebnisse einer Schweizer Untersuchung Überraschendes. In der Studie „Do citizens have minimum medical knowledge?“ wurden deutschsprachige Schweizer Passanten zufällig ausgewählt (N=185) und nach wenigen medizinischen Grundkennt- nissen gefragt. Dabei wurden zu den Volkskrankheiten Chronisch-obstruktive Lungenkrankheiten (wie z. B. Bronchitis, Asthma), HIV-Infektionen, Herzinfarkt und Schlaganfall insgesamt neun Fragen[4] gestellt. Die durchschnittlich erzielte Punktzahl belief sich auf 32 von 100 erreichbaren Punkten. Auch Personen, bei denen man fundierte und umfassendere Kenntnisse erwartet hätte, schnitten kaum besser ab als der Durchschnitt, z.B. Bürger mit höherem Bildungsniveau (Durchschnitt 36 Punkte), Personen, die schon von einer der Krankheiten per- sönlich betroffen waren (37 Punkte), oder Befragte, die beruflich enger mit medizinischen Fragen zu tun haben (38 Punkte). Weder das Geschlecht noch das Alter hatten einen Einfluss auf die Ergebnisse.

Die Forscher schließen daraus, dass ein Großteil der Bevölkerung weder die Risikofaktoren für wichtige Volkskrankheiten kennt noch die Symptome, bei deren Auftreten dringend medizinische Hilfe in Anspruch genommen werden sollte (vgl. Bachmann/Gutzwiller et al., 2007).

Auch wenn diese Studie aus der Schweiz mit einer verhältnismäßig kleinen Teilnehmergruppe (n = 185) durchgeführt wurde, unterstützt sie die Vermutung, dass Gesundheitskompetenzen - hier insbesondere „minimales Gesundheitswissen“ von Bürgern - nicht im ausreichenden Maße vorhanden sind.

Es kann also nicht vorausgesetzt werden, dass die oben beschriebenen Anfor derungen von allen Bürgern bzw. Patienten erfüllt werden können: „Es wird nötig sein, die Handlungsfähigkeit und Kompetenzen der BürgerInnen zu fördern, um ihnen die Navigation in dieser Gesundheitskomplexität zu erleichtern“ (Kickbusch, 2006, S. 69).

Da wiederum alle partizipativ orientierten Ansätze der Patientenbeteiligung im Gesundheitswesen davon ausgehen, dass Menschen die erforderlichen Ge- sundheitskompetenzen besitzen (vgl. u.a. Kickbusch, 2006; Dierks, 2008), sind Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen erforderlich, um diese Kompetenzen zu verbessern.

2.2 Gesundheitsbildung mit dem Ziel, Gesundheitskompetenzen zu fördern

2.2.1 Ziele von Gesundheitsbildung

Ziel der Bemühungen in der Gesundheitsbildung ist es, Bürger und Patienten darin zu unterstützen, den Anforderungen eines modernen Gesundheitswesens gerecht zu werden, indem die dafür nötigen Fähigkeiten vermittelt werden. Dabei ist die Bereitstellung von Informationen zu Gesundheit und Krankheit allein nicht ausreichend. Vielmehr müssen Anstrengungen unternommen werden, um Menschen so auszubilden, dass sie Wissen und Fähigkeiten auf ganz unterschiedlichen Ebenen entwickeln (vgl. Seidel, 2007). Grundlage für die Entwicklung von Gesundheitskompetenzen sind Gesundheitswissen, aber auch Können (Fähigkeiten und Fertigkeiten) und Wollen (Interesse und Motivation). Entsprechend umfasst Gesundheitsbildung die Befähigung zu gesundheitskompetentem Handeln und impliziert die Vermittlung weiterer Aspekte der Gesunderhaltung des Menschen (Gesundheitsförderung): Gesund- heitsbildung informiert über Patientenrechte, vermittelt Kenntnisse über Struk- turen und Akteure des Gesundheitswesens und Präventionsmaßnahmen und unterstützt selbstorganisiertes Lernen, z. B. durch Bereitstellung von Informa- tionsmaterial, Hinweise auf weiterführende Patienteninformationen und Adres- sen von Akteuren des Gesundheitswesens in elektronischer Form und Print- version, Hinweise auf evidenzbasierte Patienteninformationen und Hinweise auf die Vorbereitung und Durchführung eines Arztgesprächs (Gesprächsführungs- techniken) (vgl. Seidel, 2007).

2.2.2 Definition Gesundheitsbildung

In dem von der WHO herausgegebenen „Glossar Gesundheitsförderung“ heißt es: „Gesundheitsbildung / Gesundheitserziehung umfasst bewusst gestaltete Lernmöglichkeiten, die gewisse Formen der Kommunikation einschließen und zur Verbesserung der Gesundheitsalphabetisierung (health literacy) entwickelt wurden. Letztere schließt die Erweiterung von Wissen und die Entwicklung von Alltagskompetenzen (live skills) ein, die die individuelle und kollektive Gesundheit fördern.“ (WHO, 1998, S. 10)

Diese Form der Gesundheitsbildung sollte nicht nur Erkrankte erreichen, son dern im Sinne einer Primärprävention auch gesunde Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichen Alters (salutogenetischer Ansatz): „Salutogenese meint, alle Menschen als mehr oder weniger gesund und gleichzeitig mehr oder weniger krank zu betrachten. Die Frage lautet daher: Wie wird ein Mensch mehr gesund und weniger krank?“ (BZgA, 2001, S. 24) Dies gilt insbesondere unter dem Aspekt, dass Bildung auf das Gesundheitsverhalten und die Einstellungen zur Gesundheit wirkt. So korreliert der Bildungsstand mit der individuellen Bedeu- tung, die die Vorsorge für und Investitionen in die gesundheitliche Zukunft ha- ben: „Bildung wirkt auf Gesundheitsverhalten und Einstellungen zur Gesund- heit“ (Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006, S. 187).

Um den Begriff Gesundheitsbildung genauer zu betrachten, ist es hilfreich, den Oberbegriff Gesundheitspädagogik zu untersuchen. Unter Gesundheits- pädagogik subsumieren sich verschiedene Termini wie Gesundheitserziehung, Gesundheitsbildung, Gesundheitsaufklärung, Gesundheitsförderung, die nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden können und oft nebeneinander Verwendung finden. Gemeinsam ist den Begriffen das Verständnis, dass Aktivitäten von Personen und Institutionen bezeichnet werden, die auf die Verhütung von Krankheit und die Förderung von Gesundheit ausgerichtet sind (vgl. Laaser/Hurrelmann/ Wolters, 1993). Die folgende Tabelle stellt die verschiedenen Begriffe zusammen (Tabelle 1).

Tabelle 1: Überblick über Begriffe der Gesundheitspädagogik[5]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Begriff Gesundheitsbildung konstituierte sich in den 1980er Jahren in den Programmangeboten der Erwachsenenbildung. Gesundheitsbildung war und ist eng mit sozialen Bewegungen verbunden, u. a. der Frauengesundheits- und Ökologiebewegung, die der Gesundheit einen neuen emanzipatorischen Stellenwert zuschrieben (vgl. Kickbusch/Trojan, 1981), bestehende technische und wissenschaftliche Macht und Machbarkeits-Utopien in Frage stellten und eine kritische Distanz zum medizinischen und naturwissenschaftlichen Wissen schaftsverständnis aufbauten. Als Eckpunkte der so entstandenen Verortung von Gesundheitsbildung können die Orientierung an gesundheitserhaltenden Faktoren, die Selbstbestimmung des Subjekts und die Offenheit für alternative und unkonventionelle Methoden gesehen werden (vgl. Hoh/Barz, 1999).

2.2.3 Gesundheitsbildungsaktivit ä ten in Deutschland

Mit Gesundheitsbildung befassen sich aktuell diverse Institutionen. So wurden 1997 im Projekt „Gesundheit und Allgemeine Weiterbildung“ 22 Organisationen identifiziert, die auf Bundesebene organisiert sind und sich mit Gesund- heitsbildung und/oder gesundheitsrelevanter Weiterbildung beschäftigen. Diese Träger können in drei Gruppen unterschieden werden: Träger allgemeiner Weiterbildung, soziale und gesundheitsbezogene Verbände und die Spitzen- verbände der gesetzlichen Krankenversicherung. Gesundheitsbildung kann damit als Schnittstelle in den Bereichen der gesundheitsförderlichen Aktivitäten vom Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen gesehen werden (vgl. Bundes- ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, 1997).

Die Gesundheitsbildung wird darüber hinaus federführend vom Deutschen Volkshochschulverband in Zusammenarbeit mit den Volkshochschullandes- verbänden (Rahmenplan Gesundheitsbildung an Volkshochschulen), der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Bundesvereinigung für Gesundheit ausgebaut. So waren im Jahr 2006 29,4 % aller angebotenen Kur- se der Volkshochschulen dem Bereich Gesundheit zuzuordnen (n = 547.462) (Abbildung 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Veranstaltungen zur Gesundheitsbildung an Volkshochschulen 1993-2006[6]

Gesundheitsbildung wird hier vorwiegend über präventive Kursangebote umgesetzt: Fast die Hälfte aller Angebote (n = 160.301) bezieht sich auf Gym- nastik/Bewegung/Körpererfahrung (47 %), in einem Viertel der Kurse werden autogenes Training/Yoga/Entspannung angeboten (24,9 %). In einem wesent- lich geringeren Umfang werden Kurse zu Ernährung (12,3 %), Erkrankun gen/Heilmethoden (4,4 %), Krankenpflege/Erste Hilfe (2,5 %), Abhängig keiten/Psychosomatik (0,3 %) und Gesundheitspolitik/-wesen offeriert (vgl. Pehl/Reichart/Zabal, 2006). Die Vermittlung medizinischen Wissens steht in der Volkshochschule demnach nicht im Zentrum der Gesundheitsbildung.

Für die vorliegende Arbeit wurde der Begriff Gesundheitsbildung in Analogie zu Angeboten diverser Träger gewählt, da

- die Veranstaltungsreihe „Gesundheitsbildung für Jedermann - Das Organsystem des Menschen“ in einem institutionellen Rahmen (Hochschule) organisiert wird,
- die Veranstaltung sich an Erwachsene richtet und die Teilnahme freiwillig ist,
- Methoden der Erwachsenenbildung Verwendung finden (Methodenvielfalt),
- (Gesundheits-)Kommunikation (durch das Tutorenkonzept) integriert wird und
- als Ziel die Gesundheitskompetenzsteigerung betont wird.

Bildung ist eine der wichtigsten sozialen Determinanten von Gesundheit. Grundsätzlich zeigen Personen mit höherem Bildungsstand ein gesünderes Verhalten, leiden weniger häufig an chronischen Erkrankungen, fühlen sich ge- sünder und leben länger als Personen aus niedrigen sozialen Schichten (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006). Gesundheitskompetenz bzw. Health Literacy Fähigkeiten und Bildung hängen eng zusammen: „Health Literacy kann als ein Ziel sowohl von Gesundheitserziehung als auch von Gesundheitsförderung im breiteren Sinn definiert werden. Über praktische Inter- ventionen der Gesundheitsförderung wird eine Verbesserung der Gesundheits- kompetenzen angestrebt, welche wiederum Grundlage bildet für eine Optimierung von Gesundheitsdeterminanten sowie nachfolgend des Gesundheitsstatus.“ (BZgA, 2003, S. 129)

2.3 Das Konzept „Health Literacy“

„Health Literacy“ ist ein Konzept, das bis heute vor allem in den USA und in Ka- nada untersucht und erforscht wurde. Der Begriff wurde das erste Mal in dem Artikel: „Health education as social policy“ von Simonds im Jahr 1974 erwähnt (vgl. Razan, 2001), darin wird auf die Verbindung von Health Literacy und Ge- sundheitsbildung hingewiesen. Die U.S. Agency for International Development (U.S. AID) hat Health Literacy als einen wichtigen Beitrag hin zu einer gesünde ren Gesellschaft beschrieben (vgl. U.S. AID, 2001). Die länderübergreifende Bedeutung zeigt sich darin, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Health Literacy als einen Schlüsselfaktor in der Gesundheitsförderung benannt hat (vgl. WHO, 2000). In jüngster Zeit wird das Thema auch von der europäischen Forschungsgemeinschaft aufgegriffen und gewinnt in Deutschland ebenfalls an Bedeutung.

Das „Committee on Health Literacy“ entwickelte ein Rahmenkonzept für „Health Literacy“, in dem drei Haupteinflussfaktoren beschrieben werden, die auf Health Literacy einwirken und bei denen mögliche Interventionen ansetzen könnten: die Kultur/Gesellschaft, das Bildungssystem und das Gesundheitssystem (vgl. Institute of Medicine, 2004).

Sprachfähigkeiten, Lesefähigkeit und nummerische Fähigkeiten (Literacy) sind für das „Committee on Health Literacy“ die Basis für Health Literacy, die wie- derum zwischen dem Individuum und den Gesundheitskontexten vermittelt. Das Individuum bringt eine Reihe von Faktoren (wie z. B. kognitive und soziale Fähigkeiten, psychische und physische Verfassung) mit in die verschiedenen Gesundheitskontexte. „Literacy“ macht es Individuen möglich, Gesundheitsin- formationen zu verstehen und zu kommunizieren: “Literacy is the ability to identify, understand, interpret, create, communicate and compute, using printed and written materials associated with varying contexts. Literacy involves a continuum of learning to enable an individual to achieve his or her goals, to develop his or her knowledge and potential, and to participate fully in the wider society” (UNESCO, 2004, S. 249). Dabei wird Literacy definiert als die Fähigkeit zu lesen, zu schreiben, zu zählen, zu sprechen und zu hören bzw. zu verstehen (vgl. Institute of Medicine, 2004),,(Abbildung 2).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Die Bestandteile von „Literacy“[7]

„Health Literacy“ ist die Verbindung zwischen „Literacy“ (und anderen Fähigkeiten) und den Fähigkeiten des Individuums, sich in Gesundheitskontexten zu bewegen, was sich wiederum auf den Gesundheitszustand und die Gesundheitskosten einer Gesellschaft auswirkt. Der kausale Zusammenhang zwischen „Health Literacy“ und „Health Outcomes“[8] wurde in mehreren Studien nachgewiesen (vgl. Institute of Medicine, 2004).

2.3.1 Definition Health Literacy

Im deutschsprachigen Raum wird Health Literacy auch als Gesundheitskompe- tenz, Gesundheitsbildung, Gesundheitsmündigkeit und als eine Befähigung zur Gesundheit bezeichnet. „Health Literacy“ wird definiert als die Gesamtheit der kognitiven und sozialen Fertigkeiten, welche Menschen motiviert und befähigt ihre Lebensweise so zu gestalten, dass sie für die Gesundheit förderlich ist (vgl. WHO, 1998;[9] Nutbeam, 2000). Weiterhin wird darunter der Zugang, das Ver stehen und der konstruktive Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen verstanden (vgl. Duetz/Abel, 2004; BZgA, 2003; Kickbusch, 2006; Wang et al., 2007). Im Amerikanischen liegt der Schwerpunkt bei der Betrachtung des The- mas „Health Literacy“ auf der Befähigung des Individuums, Basisgesundheits- informationen und Gesundheitsangebote zu verstehen und auf Grund dessen Entscheidungen im Gesundheitswesen zu treffen. Dort bezieht sich die For- schung und Gesundheitsberichterstattung vor allem auf die Verbindung von Literacy (Umgang mit Buchstaben, Zahlen und die Kompetenz, schriftliches Material zu verstehen) und Gesundheit (vgl. Institute of Medicine, 2004).

Kickbusch, Nutbeam, Abel und Bruhin betonen hingegen die wissensbasierte, soziale und kulturelle Kompetenz für eine gesundheitsförderliche Lebensfüh- rung: „Zum gegenwärtigen Stand kann Health Literacy am besten verstanden werden als wissensbasierte Kompetenz für eine gesundheitsförderliche Lebens- führung. Solches Wissen ist in erster Linie alltagspraktisches Wissen im Um- gang mit Gesundheit und Krankheit, mit dem eigenen Körper genauso wie mit den gesundheitsprägenden sozialen Lebensbedingungen. Dieses Wissen ist primär über Kultur, Bildung und Erziehung vermittelt bzw. weitergegeben.“ (BZgA, 2003, S. 129)

Wichtig ist die explizite Verbindung zwischen Informations- bzw. Wissensauf- nahme und einer Spezifizierung des handlungstheoretischen Gehaltes (vgl. BZgA, 2003). Fehlende Gesundheitskompetenzen führen dazu, dass (schriftliche) Gesundheitsinformationen nur unter Schwierigkeiten verstanden und umgesetzt sowie Anweisungen von Ärzten nicht immer befolgt werden können und damit auch ein schlechterer Gesundheitszustand verursacht wird (vgl. Join Committee in National Health, 2007; Institute of Medicine, 2004). Der Zusammenhang von Health Literacy Fähigkeiten (meist gemessen mit dem REALM- oder TOFHLA-Test[10] ) und Health Qutcomes, gesundheitsbezogenem Wissen und Verhalten wurde in verschiedenen Studien belegt. So zeigt sich, more general levels of literacy. Poor literacy can affect people’s health directly by limiting their personal, social and cultural development, as well as hindering the development of health literacy. dass Studienteilnehmer, die ein niedrigeres Health Literacy Level erreichten, im Vergleich zu Menschen mit einem höheren Health Literacy Level einen schlech- teren Gesundheitszustand hatten (Baker, 2002, n = 3.260), eine höhere Komor- bidität aufwiesen (Gurerra/Shea, 2003, n = 1.301), häufiger hospitalisiert wurden (Baker, 1998, n = 979), ein geringeres Wissen darüber hatten, welche Effekte das Rauchen auf ihre Gesundheit und die Gesundheit ihres Kindes hat (Arnold et al., 2001, n = 600), häufiger über depressive Symptome berichteten (Gazmararian et al., 2000, n = 3.260) und weniger präventive Gesundheits- leistungen in Anspruch genommen hatten (Scott et al., 2002, n = 2.722). Es ist dennoch zu erwähnen, dass in einigen der erwähnten Studien kein Zusam- menhang zwischen einem inadäquaten Health Literacy Level und dem Gesund- heitsstatus nachgewiesen werden konnte (vgl. Institute of Medicine, 2004).

2.3.2 Health Literacy Ebenen

Um Health Literacy differenzierter zu betrachten, ist die Unterteilung von Nutbeam hilfreich, die drei verschiedene Health Literacy Ebenen beschreibt: die funktionale, die interaktive und die kritische Ebene (vgl. Nutbeam, 2000)

(Tabelle 2).

Tabelle 2: Das Drei-Ebenen-Modell von Nutbeam

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die funktionale Ebene beschäftigt sich mit der Lese- und Schreibkompetenz eines Individuums, durch die es den Menschen möglich wird, am Gesundheitssystem teilzunehmen. Dafür muss eine Person befähigt sein, Gesundheitsinformationen zu lesen und sich in einfachen Worten schriftlich ausdrücken zu können[11] (vgl. U.S. Department of Education/Institute of Education Sciences/ National Center for Education Statistics , 2007).

Die zweite, „interaktive“ Ebene bezieht sich auf fortgeschrittene kognitive Fähig- keiten wie Lese- und Schreibfähigkeit und soziale Kompetenzen, die es ermög- lichen, eine aktive Rolle im Gesundheitswesen einzunehmen. Dazu gehört die Fähigkeit, sich an Veränderungen anzupassen und diese neu zu interpretieren. Dafür ist es wichtig, das die Individuen sich Informationen beschaffen und durch kommunikativen Austausch Gesundheitsinformationen im sozialen Umfeld im Lebensalltag praktisch umsetzen (Gesundheitskommunikation). Hier umfasst Empowerment die Fähigkeit der Menschen, ihre soziale Umwelt und ihr Leben so zu gestalten, wie sie selbst es wünschen. Empowermentprozesse zielen darauf ab, die vorhandenen Kompetenzen von Menschen zu fördern. Profes- sionellen in der Gesundheitsförderung kommt dabei die Rolle zu, fördernde Rahmenbedingungen zu schaffen, aber gleichzeitig die Eigenverantwortung bei den Individuen zu belassen (vgl. Kurtz/Dierks, 2008). Dazu ist es in Empower- mentprozessen prinzipiell wichtiger Fragen zu stellen, als Antworten zu geben (vgl. BZgA, 2003).[12]

Auf der dritten Ebene, die Nutbeam als „kritische Ebene“ bezeichnet, sind die Fertigkeiten angesprochen, die benötigt werden, um Informationen kritisch zu beurteilen und zu analysieren. Dazu sollen Individuen die politischen wie auch wirtschaftlichen Aspekte des Gesundheitswesens verstehen, um sich kritisch mit der eigenen Lebensgestaltung auseinandersetzen zu können. Auf dieser Ebene soll es zu einem interaktiven Prozess und einer konstruktiven Auseinandersetzung zwischen der Person und dem Gesundheitssystem kommen.

2.3.3 Health Literacy in den USA

Im Jahr 2006 wurde in den USA eine repräsentative Studie mit dem Titel „The Health Literacy of America’s Adults: Results from the 2003 National Assess- ment of Adult Literacy“ (Kutner et al., 2006) veröffentlicht. Die Studiengruppe des „National Assessment of Adult Literacy“ (NAAL) umfasste 19.000 US- Amerikaner im Alter ab 16 Jahren. Es ist die erste U.S.-weite Untersuchung, die „Health Literacy“ der amerikanischen Bevölkerung gemessen hat. Der NAAL beinhaltete 28 gesundheitsbezogene Fragen. In Zusammenarbeit mit dem U.S. Department of Health & Human Services (HHS) und Health Literacy Experten haben die Entwickler des NAAL drei Health Literacy Bereiche - Klinik (medizi- nische Behandlung)[13], Prävention[14] und Navigation (im Gesundheitssystem)[15] - beschrieben, aus denen sie einen Health Literacy Score entwickelten (vgl. Kutner et al., 2006). Erfasst wurde die Gesundheitskompetenz zum Lesever- ständnis mit einer Reihe von Texten, Tabellen, Formularen oder Beipackzetteln, die von den Teilnehmern zuerst gelesen wurden, anschließend mussten sie Verständnisfragen dazu beantworten.

Als Ergebnis zeigte sich, dass 14 % der befragten US-Amerikaner über eine deutlich unterdurchschnittliche, weitere 22 % nur über eine Basis-Gesundheits- kompetenz verfügten. 52 % fielen in die Kategorie „durchschnittlich“ und nur 12 % in die Kategorie „geübt“ (Abbildung 3). Die Health Literacy Fähigkeiten wurden in der NAAL-Studie primär auf der ersten, funktionalen Ebene nach Nutbeam erhoben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Verteilung der Health Literacy Level in den USA (Kutner et al., 2006)[16]

Hochgerechnet auf die gesamte US-Bevölkerung weisen die Ergebnisse der Studie darauf hin, dass bei etwa 87 Millionen US-Amerikanern (vgl. Einwohner in den USA: 292.000.000) die gesundheitlichen Kenntnisse und Fähigkeiten unzureichend sind und 36 % der erwachsenen US-amerikanischen Bevölkerung eine Gesundheitskompetenz aufweist, die von NAAL als niedrige „Health Literacy“ definiert wird (vgl. Kutner et al., 2006).

Aus den Ergebnissen lassen sich recht deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ablesen. Besonders schlecht schnitten Ältere (ab 65 Jahren), Hispano-Amerikaner und Bürger aus unteren Sozialschichten mit niedrigem Einkommen und Bildungsniveau ab.

In der Studie wurden Zusammenhänge zwischen dem Health Literacy Level und dem Gesundheitszustand hergestellt. So waren Bürger mit niedrigem Health Literacy Level häufig ohne Krankenversicherungsschutz und wiesen einen schlechten Gesundheitszustand auf (vgl. Kutner et al., 2006).

Ähnliche Ergebnisse ergab auch schon der vorausgegangene Survey des National Center for Education Statistics (NCES), der „National Adult Literacy Survey (1992)“ (NALS). Demnach konnten 90 Millionen U.S.-amerikanische Erwachsene Informationen aus Zeitungen, Anzeigen und Formularen nicht korrekt wiedergeben und einordnen (vgl. Kirsch et al., 1993) (Tabelle 3).[17]

Tabelle 3: Ausgewählte Charakteristika von amerikanischen Erwachsenen: Ergebnisse der niedrigsten Gruppe „Level 1“ im Vergleich zu der gesamten Population[18]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Auf dem untersten „Level 1“ standen im Jahr 1992 laut NALS 42 Millionen ame- rikanische Erwachsene. Auch dieser Survey zeigt, dass besonders Personen über 65 Jahre, mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status und anderer Ethnizität häufiger „Level 1“ erreichten als weiße Amerikaner (vgl. Kirsch et al., 1993).

Schließlich wird unter ökonomischen Aspekten das Thema „Health Literacy“ in der amerikanischen Forschung und Öffentlichkeit diskutiert. In dem Bericht „Low Health Literacy: Implications for National Health Policy“ wird davon ausge- gangen, dass in den nächsten Jahren 106 -238 Milliarden Dollar an vermeidbaren Kosten durch mangelhafte „Health Literacy“ entstehen. Dabei ist weitgehend unumstritten, dass Personen mit einer geringeren Gesundheits- kompetenz höhere Kosten im Gesundheitssystem verursachen (vgl. z. B. Weiss/Palmer, 2004)). zu belegen. Höhere Kosten können z. B. entstehen, wenn Patienten bei bestimmten Beschwerden gar nicht oder zu spät zum Arzt gehen und so die Chronifizierung ihrer Erkrankung begünstigen. Weitere in diesem Zusammenhang genannte Aspekte sind: Geringe Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen; fehlende Fähigkeiten oder Bereitschaft, bei chronischen Erkrankungen notwendige Kontrollen von Funktionswerten selbständig und zuverlässig durchzuführen; durch falsche Ernährung, Bewe- gungsmangel und andere Verhaltensrisiken die Entwicklung chronischer Er- krankungen begünstigen.

Auch im europäischen Gesundheitssektor werden vermutlich viele Millionen Euro ausgegeben, die durch eine bessere Gesundheitskompetenz der Bürge Bürger und darauf basierendem gesundheitsförderlichem Verhalten relativ einfach gespart werden könnten: „Zurzeit liegen keinerlei empirische Schätzungen vor, in welchem Ausmaß zusätzliche Kosten entstehen, die auf mangelnde Gesundheitskompetenzen zurückgeführt werden können. Wendet man die Ergebnisse einer amerikanischen Studie[19] auf die Schweiz an und nimmt einige Anpassungen für die hiesigen Verhältnisse vor, so dürften im Jahr 2004 rund 1,5 Mrd. Franken an vermeidbaren Mehrkosten entstanden sein“ (Spycher, 2006, S. 223).

2.3.4 Health Literacy in Europa

An der Universität Amsterdam wurde 2006 im Auftrag der Stiftung Lesen & Schreiben an der Fakultät für Ökonomische Wissenschaften und Ökonometrie die Studie durchgeführt: „Das stille Vermögen, eine Untersuchung über die ge- sellschaftlichen Kosten unzureichender Schriftsprachkompetenzen“[20]. In der Studie wurde festgestellt, dass eine niedrige Schriftsprachenkompetenz sta- tistisch signifikant verbunden ist mit dem häufigeren Auftreten von Krankheiten (wie z. B. Asthma, chronischer Bronchitis und Krebs). Infolge dieser Erkrankun- gen verschlechtert sich in der Regel auch der allgemeine Gesundheitszustand. Zugleich zeigt sich in der Amsterdamer Studie, dass ein hohes schriftsprach- liches Kompetenz-Niveau grundsätzlich einhergeht mit einem besseren Gesundheitsstatus. Förderung von Schriftsprachlichkeit hätte somit einen direkten positiven Effekt auf das geringere Auftreten von Krankheiten einerseits und auf einen allgemein guten Gesundheitszustand im Sinne verbesserter Lebensqualität andererseits. Des Weiteren wurden in der Studie die Folge- kosten unzureichender Schriftsprachkompetenz exakt berechnet, genauso wie das Finanzvolumen, das jährlich eingespart werden könnte: Das sich aus den Berechnungen ergebende „stille Vermögen“ beträgt 537 Millionen Euro jährlich. Folgerung der Forscher Groot und van den Brink ist, dass eine Investition in die Schriftsprachförderung zu einem signifikanten Anstieg des Brutto-Inlands- Produkts führen würde (vgl. Döbert, 2007b).

Im deutschsprachigen Raum wurde die einzige größere Untersuchung (n = 1.250) zur Erfassung von Gesundheitskompetenzen von einer Forschungs- gruppe der Universität Zürich durchgeführt. Dort wurde in dem „Swiss Health Literacy Survey 2006“ versucht, die Gesundheitskompetenzen der Schweizer Bevölkerung umfassend abzubilden. Die wichtigsten Ergebnisse in allen drei Sprachregionen (deutsche, französische und italienische Schweiz) waren auch hier, dass das Niveau der Gesundheitskompetenz mit dem Bildungsstand steigt. Des Weiteren wünschen sich die Bürger Wahlmöglichkeiten, aber ge sundheitsspezifische Entscheidungen sind komplex und die Informationen oftmals nicht verfügbar. Die Schweizer Bürger beziehen zudem ihre Gesundheitsinformationen aus verschiedenen Quellen, jedoch sind die Informationen - insbesondere in schriftlicher Form - für viele nicht leicht verständlich. Außerdem wollen die Schweizer bei Entscheidungen, welche die eigene Gesundheit betreffen, eine aktive Rolle spielen, doch mangelt es vielen an der nötigen Kompetenz (vgl. Wang/Schmid, 2007).

Für Deutschland gibt es zwar noch keine umfangreichen Analysen über die Ge- sundheitskompetenzen der Bevölkerung, jedoch existieren ungefähre Angaben zu „funktionalen Analphabeten“ in Deutschland. Funktionale Analphabeten sind Menschen, die trotz langjährigem Schulbesuch kaum lesen und schreiben können. Funktionaler Analphabetismus bezeichnet die Unfähigkeit, die Schrift im Alltag (auch in Gesundheitskontexten) so verwenden zu können, wie es ge- meinhin im sozialen Kontext als selbstverständlich gilt. Zwar erkennen funktio- nale Analphabeten Buchstaben und sind in der Lage, ihren Namen und einige Worte zu schreiben, jedoch verstehen sie den Sinn eines etwas längeren Tex- tes nicht oder nur mit unangemessenem Zeitaufwand. Laut des „International Adult Literacy Survey (IALS)“ (1994-1998) liegt die Zahl der funktionalen Analphabeten in zwei von drei Industriestaaten höher als 15 %. In Deutschland konnten 14,4 % der Befragten über 15 Jahre nur die einfachen Fragen im Be- reich „Umgang mit Prosatexten“ lösen und erreichten lediglich das niedrigste Ni- veau der Lesekompetenz (vgl. OECD, 1995, S. 38). Während IALS in vielen Ländern großes Interesse geweckt hat und als nationaler Bericht veröffentlicht wurde sowie bildungspolitische Konsequenzen gezogen wurden, blieb die Un- tersuchung in Deutschland politisch weitgehend unbeachtet (vgl. Tröster, 2005).

Die konkrete Zahl von „funktionalen Analphabeten“ in Deutschland schätzt der Bundesverband Alphabetisierung e.V. auf ca. 4 Millionen, dies sind 6,3 % der Gesamtbevölkerung, d. h. jeder 16. Bürger (vgl. Bundesverband Alphabetisie- rung e.V., 2005). Die Schätzung beruht auf den Ergebnissen der IALS-Studie. Weltweit gibt es ca. 860 Millionen erwachsene Analphabeten im Alter von 15 Jahren und älter (vgl. Giere, 2005). In der öffentlichen Diskussion in Deutsch- land hat das Thema auch durch den „Pisa Schock“, der durch die schlechten Ergebnisse bei der Pisa-Studie[21] (Programme for international Students Assessment) ausgelöst wurde, an Relevanz gewonnen und stellt eine Heraus- forderung für die Bildungspolitik dar (vgl. Tröster, 2005). Im Zuge der nationalen Umsetzung der Weltalphabetisierungsdekade, die die Vereinten Nationen am 13. Februar 2003 für den Zeitraum bis 2012 ausgerufen haben, unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung verschiedene Projekte, z. B. das Projekt „Zweite Chance online“ (vom Deutschen Volkshochschul-Verband). Ziel ist es, das Internet und Multimedia für die Alphabetisierungs- und Grundbil- dungsarbeit zu erschließen (vgl. Bundesministerium für Forschung und Bildung, 2007). Die meisten Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse (80-90 %) bieten die Volkshochschulen an. Darüber hinaus gibt es Vereine oder Initiativen, wie z. B. den „Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe (AOB)“ oder den Verein „Lesen und Schreiben“. Auch bestehen Angebote im Bereich der beruflichen Bildung sowie in Justizvollzugsanstalten (vgl. Tröster, 2005).

In Deutschland beschäftigen sich einige Forschergruppen mit dem Thema „Health Literacy“. An der Universität Hamburg existiert zum Beispiel das Pro- jekt: ebm@school: „Critical health literacy (Gesundheitsbildung) für Schüler der Gymnasialen Oberstufe“. Hier wurden sechs Kursmodule mit Online-Lerneinhei- ten zur Steigerung der critical health literacy entwickelt und durchgeführt (vgl. Steckelberg et al., 2007). Ein weiteres Forschungsprojekt ist das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2003/2004 geförderte Teilprojekt „Gesundheitsmündigkeit“. Es bearbeitete das Thema Health Literacy kulturüber- greifend und bezogen auf die Bioethik. Das Projekt beabsichtigte, mit der Aufar- beitung klassischer Themen und Texte die Thematik in die internationale bioethische Diskussion und in den öffentlichen Diskurs über Gesundheit und Gesundheitssysteme einzuführen. Von der Arbeitsgruppe „Health Literacy“ wurde als Arbeitsplattform die Website www.health-literacy.org eingerichtet.

Im Rahmen des Bielefelder ESF (Europäischer Sozialfonds)-Projektes „Alpha betisierung - Grundbildung - Gesundheit“ soll von der Volkshochschule Biele- feld in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Alphabetisierung und Grund- bildung ein kombiniertes Kursmodell - Alphabetisierung im Sinne von Health Literacy - entwickelt und erprobt werden. Das Projekt läuft von Februar 2007 bis zum Sommer 2008. Ziel des Projektes ist es, der bildungsfernen und ge- sundheitlich besonders gefährdeten Zielgruppe der funktionalen Analphabeten einen Zugang zu Gesundheitsthemen und Informationen zu ermöglichen. Diese Menschen sollen in die Lage versetzt werden, mit alltäglichen gesundheitsrele- vanten Schriftsprachsituationen (Lesen von Beipackzetteln, Einverständniser- klärungen z. B. vor Operationen, Ausfüllen von Formularen beim Arzt und von Kur- oder Beihilfeanträgen, Lesen von Kurbehandlungsplänen, Arbeitssicher- heitsvorschriften usw.) zurechtzukommen (vgl. Döbert, 2007a).

2.3.5 Messung von Health Literacy

Um Interventionen und Strategien der Gesundheitsbildung zu planen und zu evaluieren, ist es erforderlich, den Stand der „Literacy“ zu messen. Die Testung der Literacy Fähigkeiten hängt davon ab, wie Literacy definiert wird und wie die Testergebnisse verwendet werden sollen. In den USA wurden im Laufe der Zeit verschiedene Formen von „Literacy“ Tests entwickelt, die sich vorrangig auf die funktionale Ebene beziehen. Diese Messungen sind damit meist limitiert (vgl. Forschungsbereich Health Literacy, Università della Svizzera italiana, 2005).

Surveys

Die Messung von „Health Literacy“ in Surveys findet seit den späten 1980er Jahren in den USA statt, z. B. durch den „National Literacy Act of 1991“. Dort wurden die drei Komponenten Lesefähigkeiten, Schreibfähigkeit und mathema- tische Fähigkeiten betrachtet. Die gesprochene Sprache (sprechen, zuhören und verstehen) wurde, wie auch in anderen Studien, aus Zeitgründen und wegen der Belastung der Teilnehmer nicht einbezogen, so z. B. im „Young Adult Literacy Survey“ (1985), „The Department of Labor Survey“ (1990) und „The National Adult Literacy Survey“ (NALS, 1992). Im „International Adult Literacy Survey” (IALS, 1994-1998) ging es um das Erinnern und Vervollstän- 28 digen von Texten und Wörtern, Lesen und Textverständnis.[22] Die verwendeten Materialien wurden aus sechs Lebenskontexten entnommen, z. B. Heim und Familie, Gesundheit und Sicherheit, Gemeinschaft und Städte, Konsumenten oder Arbeit. Aufgabe war es, die rhetorische Struktur zu erfassen, z. B. in Gesprächen, Beschreibungen, Argumentationen, Anweisungen, Dokumenten oder Aufnahmen. Außerdem ging es um das Verständnis von Tabellen, Grafiken, Landkarten oder Diagrammen. Gemessen wurden die Ergebnisse mit Hilfe einer Punkteskala von 0-500 und einer darauf aufbauenden Einteilung in Levels von 1-5 (vgl. Mosenthal/Kirsch, 1998; Kirsch, 2001).

Grade Level Messung von Literacy

Ein bekanntes Messverfahren ist die Grad-Messung der Lesefähigkeit. Sie wird in zweifacher Weise genutzt: 1. zur individuellen Beurteilung der Literacy Fähigkeiten und 2. zur Beurteilung von Texten.

Grade Level Messung zur individuellen Beurteilung

Diese Messung vergleicht das individuelle Ergebnis der Lesefähigkeiten mit einer repräsentativen Gruppe (Norm-Referenz-Test). Die Werte werden dahin- gehend interpretiert, inwieweit die Person die Fähigkeit besitzt, Material zu le- sen, das in ihrem aktuellen Grade Level verfasst wurde. Verwendet werden u. a. der Cloze Test (vgl. Taylor, 1953) oder der Short-Word Recognition Test. Diese Tests werden in den USA zur Einteilung der Kursstufen in der Erwachse- nenbildung genutzt. Ein Beispiel dafür ist der „Wide Range Achievement Test- Revised (WRAT-R)“. Für diesen Test müssen die Teilnehmer eine Liste mit Wörtern lesen, die immer schwieriger werden. Dabei wird die Zeit gestoppt, bis zu der zehn Wörter falsch ausgesprochen werden (vgl. Jastak/Wilkinson, 1984).

Ein anderer Test, der die spanische Lesefähigkeit prüft, ist das „Instrumento Para Diagnostical Lecturas“ (IDL) (vgl. Blanchard et al., 1989).

Grade Level Messung von Texten und Materialien

In der Forschung werden häufig Lesbarkeits-Scores benutzt, die als Indikator für die Komplexität eines Textes dienen sollen. Ein anerkannter LesbarkeitsScore ist in den USA der „Simplified Measure of Gobbledygoole (SMOG)“. Die Überprüfung besteht darin, dass die mehrsilbigen Wörter innerhalb eines Absatzes gezählt werden. SMOG fokussiert die Satz- und Wortlängen, die mit der Lesbarkeit zusammenhängen (vgl. Mc Laughlin, 1969).

Weitere Tests sind der „Fry Readability Scale“ (vgl. Fry, 1977) und der „FleschKincaid Reading Grade Level“ (vgl. Flesch, 1974). Bei diesen Tests versucht man die Komplexität sowie Wort- und Satzlängen zu beurteilen. Ziel ist es, den Text im Lichte der Leserschaft zu sehen.

„Health Literacy“ Tests

Überprüfungen zur Testung von „Literacy“ in Zusammenhang mit Gesundheit wurden in den 1990ern entwickelt. Zwei häufig genutzte Tests sind der „Rapid Estimate of Adult Literacy in Medicine“ (REALM) (vgl. Davis et al., 1993) und der „Test of Functional Health Literacy in Adults“ (TOFHLA) (vgl. Parker et al., 1995). Der REALM Test testet das Wiedererkennen von medizinischen Wörtern und dessen Buchstabierung, Teilnehmer lesen von einer Liste 66 allgemeine medizinische Fachwörter, die sich in der medizinischen Versorgung wieder- finden. Die Wörter werden in drei Gruppen eingeteilt, die sich jeweils in der Zahl der Silben und dem Schwierigkeitsgrad unterscheiden (Tabelle 4).

Tabelle 4: Rapid Estimate of Adult Literacy (REALM): Auszug aus den Wortlisten[23]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Für jedes richtige Wort wird ein Punkt vergeben. Die Gesamtpunktzahl führt zu einer Einteilung in verschiedene Levels. Diesen Test gibt es, wie viele der bereits erwähnten, aktuell nur in englischer Sprache.

Messungen im deutschsprachigen Raum

Während in der internationalen Literatur verschiedene Definitionen zur Gesund- heitskompetenz bestehen, existieren bis heute keine Instrumente, die bürger- und patientenbezogene Kompetenzen messen, mit Ausnahme von Instrumen- ten, die die Lesefähigkeit in Bezug auf Gesundheit ermitteln (funktionale Ebene nach Nutbeam). Ein einheitliches Messinstrument für alle drei Health Literacy Ebenen gibt es bislang nicht (vgl. Forschungsbereich Health Literacy, 2005).

Als Fortsetzung des europäischen Future Patient Projektes[24] hat das Schweizer Forschungsteam des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich versucht, ein Befragungsinstrument zu entwickeln, um bei Bürgern und Patienten die Schlüsselkompetenzen für Gesundheit zu messen. Anhand der Operationalisierungen von Gesundheitskompetenzen wurde im Rahmen des Future Patient Projektes versucht, Wissen, Haltung, Werte sowie Verhaltens- kompetenzen in Bezug auf ihre Gesundheit zu messen. Anhand von Literatur- recherchen wurden 30 Kompetenzen identifiziert. Anhand von 60 Indikatoren wurden diese Kompetenzen operationalisiert und auf der Basis von 500 einzelnen Fragen gemessen. Letztlich wurde der Fragebogen auf 150 Fragen verdichtet. Als Fortsetzung dieses Projektes ist ein „Health Literacy Survey“ für ganz Europa geplant (HLS - Europe), in dem auch Daten über „Health Literacy“ in Deutschland gesammelt werden sollen. Dieses Projekt wird von der Euro- päischen Kommission gefördert.

Eine Zusammenstellung von bestehenden (möglichen) Messverfahren findet sich im Anhang (4. Messinstrumente Health Literacy).

[...]


[1] Aus Gründen der Lesbarkeit werden in der vorliegenden Arbeit Funktionen und persönliche Bezeichnungen nicht generell in der männlichen und weiblichen Form verwendet. Wenn diese Bezeichnungen in der männlichen Form formuliert sind, ist selbstverständlich das weibliche Geschlecht eingeschlossen.

[2] Repräsentativbefragung von 11.000 Personen ab 14 Jahren in Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland, der Schweiz und Ungarn.

[3] Die Studie „Ratlose Patienten? Gesundheitliche Information und Beratung aus Sicht der Be völkerung“ basiert auf einer repräsentativen Stichprobe von rund 3.600 Bürgern im Alter von 1880 Jahren im Jahr 2007 im Land Bremen.

[4] Die neun Fragen lauteten:
1.) Welche Risikofaktoren sind hauptsächlich verantwortlich für chronische Lungenerkrankungen?
2.) An welchen Symptomen erkennt man chronische Lungenerkrankungen?
3.) Was sind Symptome eines Schlaganfalls?
4.) Welche Krankheiten, Verhaltensweisen und Lebensumstände erhöhen das Risiko für einen Schlaganfall?
5.) Gibt es einen Unterschied zwischen HIV und AIDS?
6.) Wie kann man sich vor einer HIV-Infektion schützen?
7.) Ist eine HIV-Infektion heilbar?
8.) Was können Symptome für einen Herzinfarkt sein?
9.) Welche Krankheiten, Verhaltensweisen und Lebensumstände erhöhen das Risiko für einen Herzinfarkt? (Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche durch das Forum Gesundheitspolitik: http://www.forum-gesundheitspolitik.de/artikel/artikel.pl?artikel=0718)

[5] Modifiziert nach: Waller, 1995; Laaser/Hurrelmann/Wolters, 1993; Blättner, 1997; WHO, 1986; Sabo, 1996.

[6] Die Grafik wurde auf der Grundlage der Volkshochschul-Statistik erstellt. Quelle: DIE Deutsches Institut für Erwachsenenbildung: Volkshochschul-Statistik. Arbeitsjahre 1993. 1997. 2000. 2003. 2006. Online im Internet unter: http://www.die- bonn.de/themen/such_ergebnis.asp?Texte_online=checked&Suchmethode=link_differenziert& Suche=folge,+arbeitsjahr&B1=Finden&Operator=String 02-12-2007.

[7] Eigene Darstellung vgl. Institute of Medicine, 2004.

[8] The effect on health status from performance (or non-performance) of one or more processes or activities carried out by healthcare providers. Health outcomes include morbidity and mortality; physical, social, and mental functioning; nutritional status; and quality of life.

[9] WHO Health Promotion Glossary: “Health literacy represents the cognitive and social skills which determine the motivation and ability of individuals to gain access to, understand and use information in ways which promote and maintain good health.” Reference: new definition Health literacy implies the achievement of a level of knowledge, personal skills and confidence to take action to improve personal and community health by changing personal lifestyles and living condition s. Thus, health literacy means more than being able to read pamphlets and make appointments. By improving people’s access to health information, and their capacity to use it effectively, health literacy is critical to empowerment. Health literacy is itself dependent upon

[10] Werden im Folgenden noch genauer vorgestellt. 18

[11] “Using written information is an important part of everyday life in the United States. Adults in most workplaces are surrounded by written information: health and safety postings, brochures describing their benefits, instruction manuals, memos, reports, and e-mail” (U.S. Department of Education/Institute of Education Sciences/National Center for Education Statistics, 2007, S. 1).

[12] „Empowerment sucht und betont die weiterhin vorhandenen Stärken und Ressourcen, vor allem die Rechte von Hilfe- und Ratsuchenden, die in der traditionellen sozialen und gesundheitsbezogenen Arbeit oft vernachlässigt werden“ (BZgA, 2003, S. 30).

[13] “Most deal with a specific disease or condition, and generally relate to the specifics of a patient’s treatment; involves health care itself, such as, interactions between health care provider and patient, clinical encounters, and diagnosis and treatment of illness” (Kutner et al., 2006).

[14] “Tasks that involve understanding health guidelines. These tasks often involve understanding instructions for preventative health measures, warning labels, and guidelines for preventative screening” (Kutner et al., 2006).

[15] “Tasks that involve dealing with the bureaucratic demands of the health care system, for example, the ability to understand the benefits of a health insurance plan and the individual rights and responsibilities of the patient” (Kutner et al., 2006).

[16] Ins Deutsche übersetzt aus: Kutner, M. et al. (Hg.) U.S. Department of Education/Institute of Education Sciences/National Center for Education Statistics: Literacy in Everyday Life. Results From the 2003. National Assessment of Adult Literacy. 2006. Online unter: http://nces.ed.gov/pubs2006/2006483.pdf. 04-08-07

[17] “There were no statistically significant changes in the average prose and document literacy of the adult population of the United States between 1992 and 2003. Average quantitative literacy increased between 1992 and 2003. Between 1992 and 2003, the percentages of adults with Below Basic document and quantitative literacy decreased, and the percentages of adults with Proficient prose and document literacy also decreased.” (Institute of Medicine, 2004, S. 33)

[18] Quelle: U.S. Department of Education/National Center for Education Statistic: National Literacy Survey (Kirsch et al., 1992).

[19] CAS Center on an Aging Society Low Health Literacy Skills Increase Annual Health Care Expenditures by $ 73 Billion. 1998. Online unter: www.hpi.georgetown.edu/agingsociety/- pubhtml/healthlit.html.

[20] Originaltitel: „Stil vermogen, een onderzoek naar de maatschappelijke kosten van laagge- letterdheid“ von Wim Groot und Herniette Maassen van den Brink. Online unter: http://www.lezenenschrijven.nl/files/publicaties/stil%20vermogen.pdf.

[21] PISA untersucht in Abständen von drei Jahren Bildungsergebnisse, die in den teilnehmenden Staaten erreicht werden. Die Studie konzentriert sich dabei auf die drei Kompetenzbereiche Naturwissenschaften, Lesen und Mathematik. Bei der Internationalen Grundschule Lese- untersuchung IGLU (auch PIRLS: Progress in International Reading Literacy Study) wird das Leseverständnis von Schülerinnen und Schülern der vierten Jahrgangsstufe getestet.

[22] Die vorangegangenen Erhebungen werden im Folgenden näher beschrieben.

[23] Eigene Darstellung vgl. Davis et al., 1993. 30

[24] The Future Patient in Switzerland. Das Gesundheitssystem der Zukunft aus Sicht von Bürgerin und Bürger. In: SGGP-Schriftenreihe. Bd. 71. Bern. 2003.

Ende der Leseprobe aus 150 Seiten

Details

Titel
Förderung von Gesundheitskompetenzen (Health Literacy) durch Gesundheitsbildung
Untertitel
Ergebnisse einer teilstandardisierten Befragung
Hochschule
Medizinische Hochschule Hannover
Note
1,2
Autoren
Jahr
2008
Seiten
150
Katalognummer
V177404
ISBN (eBook)
9783640990146
ISBN (Buch)
9783640990443
Dateigröße
4252 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
förderung, gesundheitskompetenzen, gesundheitsbildung, ergebnisse, befragung, teilnehmern, veranstaltungsreihe, jedermann, organsystem, menschen, medizinischen, hochschule, hannover, literacy
Arbeit zitieren
Jennifer Wrede (Autor:in)Marie-Luise Dierks (Reihenherausgeber:in)Gabriele Seidel (Reihenherausgeber:in), 2008, Förderung von Gesundheitskompetenzen (Health Literacy) durch Gesundheitsbildung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177404

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