Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Grundlegendes zur Philosophie Arthur Schopenhauers
2. Verortung der Mitleidsethik in Schopenhauers Philosophie
3. Mitleid als zentrales Moment in Schopenhauers Ethik und deren Konsequenz
4. Literaturverzeichnis
1. Grundlegendes zur Philosophie Arthur Schopenhauers
Schopenhauers „pessimistische“ Philosophie ist erfüllt von einem Ausdruck des Leidens an den Widrigkeiten der Welt. Damit ist gemeint, dass eine Welt voller Schmerz, Qual, Furcht und Todesangst Impetus für eine Philosophie war, die als Konsequenz einen Erlösungsweg aufzeichnet. Um zu verstehen, warum Schopenhauer die Welt so pessimistisch betrachtet, in der Welt so viel Leiden sieht, richten wir unseren Blick zunächst auf die Voraussetzungen und Anfänge seines Schaffens. Im Anschluss werden wir uns der sogenannten „Mitleidsethik“ Schopenhauers zuwenden und herausstellen, was das Besondere an der Mitleidskonstruktion seiner Moralphilosophie ist und welche Möglichkeiten der Erlösung sie birgt.
Schopenhauer war durch den Anteil am Erbe seines Vaters (Heinrich Floris Schopenhauer), den er beim Erreichen der Volljährigkeit ausgezahlt bekam, finanziell unabhängig und damit einer der wenigen Philosophen, die ihr Leben ganz der Philosophie widmen konnten. Er selbst pflegte zu sagen, dass man für die Philosophie leben muss und nicht von ihr, worin auch eine Kritik am damaligen universitären Lehrstil und der damit verbundenen Dogmatik enthalten ist. Nachdem er zunächst dem Weg der Medizin gefolgt war (1809 Universität Göttingen), entschied er sichdoch recht schnellfür den leidenschaftlichen Pfad der Philosophie. Im Oktober 1813 erhielt er schließlich den Doktortitel der Universität Jena für die Schrift „Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“. Etwas später folgte sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“, welches 1819 bei Brockhaus erschien. Dieses Werk war nicht unbedingt ein „Kassenschlager“, und es verkauften sich zunächst nur verhältnismäßig wenige Exemplare. Auch was die Rezension seines Werks angeht, hatte es, bis auf eine Besprechung durch Jean Paul (eigentlich Johann Paul Friedrich Richter; deutscher Schriftsteller), keine größeren, fundamentalen Auseinandersetzungen mit der schopenhauerschen Lehre gegeben. Trotz dieser „Startschwierigkeiten“ sollte Schopenhauers Erkenntnistheorie noch für reichlich Diskussion, Ablehnung, Fürsprache und Begeisterung (gerade auch im Metier der Künstler) sorgen (Safranski, 2001: Kap. 1, 11 und 15).
Das Besondere, zunächst an seinem Philosophischen Haupt-/ bzw. Lebenswerk, ist (s)ein neues „Philosophie-Verständnis“. Schopenhauer wollte einen neuen Typus der Metaphysik an die Stelle des damals vorherrschenden Modells setzen und damit versuchen, die transzendentale Metaphysik durch eine „immanente“ zu ersetzen. Die „alten Systeme“ hatten versucht, die Welt aus letzten Prinzipien zu erklären und die jenseits der Erfahrung liegenden Bedingungen anzugeben, die zu Existenz, Struktur und Erkennbarkeit der Erscheinungswelt führen. Dagegen versucht die immanente Metaphysik, die Welt so zu verstehen, wie sie uns erscheint. Es soll also eine Beschreibung der Welt in ihren für uns bedeutsamsten Grundzügen sein, eine vollständige Wiederholung und Spiegelung der Welt in abstrakten Begriffen - es geht hierbei um die Gesamtheit aller Erfahrung, deren Sinn entziffert werden soll. Auf diesem Weg wird Schopenhauers Philosophie zwischen Wissenschaft und Kunst angesiedelt. Im Gegensatz zur Wissenschaft fragt sie nicht nach dem „Warum“ bzw. nach den Ursachen, sondern nach dem „Was“, dem Gehalt der Erscheinungen. Sie leitet darüber hinaus Existenz und Beschaffenheit der Phänomene nicht aus tiefer liegenden Prinzipien ab - sie zeigt nicht, was sein muss, sondern nur was ist. Neben der äußeren wird hier auch die innere Erfahrung mit einbezogen, also die Erfahrungen des Körpers und die subjektive Gefühlswelt (Fleischer und Henningfeld: 2004, Abs. 1-3).
Zur Kunst unterscheidet sie sich durch ihre Beschreibungsweise. Es geht hier nicht um konkrete Abbildung, sondern um begriffliche Abstraktion. Die Verbindung zur Kunst wird aber durch ihren Ausdruck, ihre Expressivität, die die gefühlshaften Seiten der Welterfahrung mit einbindet, wieder hergestellt. Dies vor allem, wie schon eingangs erwähnt, weil Schopenhauer den Ausdruck des gefühlten, wahrgenommenen Leidens in und an der Welt als eine „feste“ Verbindung der gefühlshaften Seiten der Erfahrung unserer Lebenswelt begreift, denn:
„Die Welt ist ein „Jammertal“, voller Leiden, alles Glück ist Illusion, alle Lust (s. d.) nur negativ, der rastlos strebende Wille wird durch nichts endgültig befriedigt (WWVI., § 59). „Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, solange es nicht befriedigt ist. Keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehen wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend. Solange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens“ (l. c. , §56). Die Basis alles Wollens ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz (l. c., §57). Das Leben „schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her zwischen dem Schmerz und der Langeweile“ (ib.). Schon seiner Anlage nach ist das Menschenleben keiner wahren Glückseligkeit fähig (l. c., §59). Jede Lebensgeschichte ist eine Leidensgeschichte, eine fortgesetzte Reihe großer und kleiner Unfälle (ib.). “
Schopenhauer ist Empiriker und folgt daher der Ansicht, dass dem „Ich“ keine kognitiven und praktischen Leistungen zugeschrieben werden sollen, die sich nicht durch den introspektiven Blick nach innen als gegeben ausweisen lassen. Für Schopenhauer ist es innen finster, wenn auch der Weg nach innen, den Schlüssel zur Welterkenntnis birgt:
"Da draußen liegt große Helle und Klarheit. Aber innen ist es finster, wie ein gut geschwärztes Fernrohr: kein Satz a priori erhellt die Nacht seines eigenen Innern; sondern diese Leuchtthürme strahlen nur nach außen" (Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens, Kap. 2, Bd. 6, 61.).
Aber wie kann im Inneren der Schlüssel zum Weltverständnis liegen, wenn es in uns finster ist? Schopenhauers Antwort lautet, dass wir in uns ein dunkles Drängen empfinden, eine Ur- oder Antriebskraft, eine Art innere Unruhe, durch die wir zur Erkenntnis der Allgegenwart eines erkenntnislosen Lebenstriebs, welchen Schopenhauer „Wille“ nennt, gelangen. Der Begriff des „Willens“ oder „Weltwillens“ ist nicht mit dem allgemeinen sprachlichen Begriff des Willens im Sinne von Wollen zu verwechseln. Schopenhauers Weltwille ist etwas ganz und gar Unpersönliches, etwas das in uns wirkt, aber nur in Grenzen bzw. gar nicht steuerbar ist. Daher sind gerade Gefühle, Affekte und spontane Verhaltensweisen Erscheinungsformen des Willens. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass diese Erscheinungsformen des Willens an sich nicht intensional auf Gegenstände gerichtet sind. Der Wille will nichts Konkretes, ist nicht mit dem unmittelbaren Bewusstsein auf einen Gegenstand, eine Sache, ein Ding oder einen Zustand gerichtet. Er will sich selbst, ist als Lebenskraft und Lebensantrieb der „Verursacher unendlichen Wollens, unendlichen Willens zum Leben“. Dieser Antrieb ist uns vertraut und unserem Bewusstsein zugänglich, von daher kann in diesem Zusammenhang von einer empirischen Grundlage gesprochen werden, die von Schopenhauer zur Leitmetapher der ganzen Natur gemacht wird.
Der Wille, und das ist eine Besonderheit, ist nicht als Teil eines Dualismus von Seele und Leib zu verstehen, sondern durchdringt alles. Das seelische und das leibliche sowie auch das gefühlte Streben stehen in Verbindung (Schmidt, 1986: S. 24ff).
Welche Bedeutung hat nun dieser „allmächtige“, ubiquitäre Wille für uns? Gehen wir noch einmal zurück an unseren Ausgangspunkt, dass unser Leben ein Ausdruck des Leidens an den Widrigkeiten dieser Welt ist, welches mitunter auch einen Anstoß für Philosophie überhaupt darstellt. Warum ist für Schopenhauer das Leben ein unermüdliches Leiden?
Die Unausweichlichkeit des Leidens ergibt sich für Schopenhauer vor allem aus zwei Tatsachen:
1. Der Wille findet sich in der Natur in allen Wesen, die je für ihr eigenes Überleben durch den ihnen eigenen, wirkenden „Egoismus“ alles tun, also auch andere aus Überlebenstrieb töten würden.
2. Daher ist die Natur ein ewiges Schlachtfeld, denn jeder Einzelwille liegt jeweils mit anderen Einzelwillen im Kampf um Lebens- und Fortpflanzungschancen.
Diesen inneren Trieb, diesen sogenannten Egoismus (nicht im herkömmlichen Sinne von „Selbstsucht“ zu verstehen) gilt es noch genauer darzustellen. In jedem Individuum, sagt Schopenhauer, sei der Wille in sich selbst entzweit. Lebenstrieb und Fortpflanzungstrieb/Sexualität richten sich nicht nur nach außen, sondern auch inwendig gegeneinander. Der Lebenstrieb ist als eine Art Streben nach einem ruhigen und heiteren, irgendwo „sicheren“ Leben zu verstehen. Aber hier kommt der Sexualtrieb ins Spiel, welcher Unruhe, Melancholie, Sorge und Not in dieses Streben hineinträgt, bzw. auch vorher schon ein Teil seiner selbst ist. Der Wille, soweit er bewusst als Drang und Verlangen empfunden wird, ist also von seiner Struktur her auf eine Perpetuierung des Leidens angelegt. Solange Wunsch und Trieb unerfüllt bleiben, leiden wir an der Unerfülltheit. Wird er aber erfüllt, tritt sofortige, aber nur vorübergehende Sättigung ein. Wir erleben also anstatt echten „Glücks“ nur ein Gefühl bloßer Indifferenz, welches schlicht die Abwesenheit von Unlust, Überdruss usw. darstellt - solange, bis der Trieb wieder übermächtig wird.
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