Leseprobe
1. Einleitung
Der zu untersuchende Text „Abstrake Zeit“, ist der Schrift „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx“ (2003, Ca Ira) von Moishe Postone entnommen. Um ein vorbereitendes Verständnis für den Text entwickeln zu können, ist zunächst zu empfehlen, einen Blick auf die Biographie des Autors zu werfen. Moishe Postone lebte von 1972 bis 1982 in Frankfurt am Main und promovierte 1983 an der Johann Wolfgang Goethe Universität. Heute lehrt er am Department of History an der University of Chicago, wo er Dozent für Geschichte ist. Seine Arbeitsschwerpunkte sind moderne europäische Geistesgeschichte, Kritische Theorie, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, Antisemitismus und globale Transformation. Er gilt darüber hinaus als prominenter Vertreter einer wertkritischen Fortschreibung der marx'schen Theorie. In dem uns vorliegenden Text behandelt Postone verschiedene Arten von Zeit, setzt sich namentlich mit „konkreter“ und „abstrakter“ Zeit auseinander und lässt darauf eine Beweisführung für den veränderlichen Charakter der zeitlichen Wahrnehmung in unserer Gesellschaftskonstruktion folgen. Er legt offen, dass die Veränderung und die heute gebräuchliche Form abstrakter Zeit nicht nur mit der neuen Struktur gesellschaftlicher Verhältnisse verbunden ist, sondern das sich dadurch auch eine neue Form von Herrschaft konstituiert hat. Er belegt schlüssig, dass obwohl diese Zeitform gesellschaftlich hervorgebracht wurde, sie innerhalb des Kapitalismus eine abstrakte Form von Zwang auf die Mitglieder dieser Gesellschaft ausübt. Ja sogar das sich Verhältnisse verkehrt haben. So zum Beispiel das Messen der Zeit durch Arbeit, das sich verkehrt und die Arbeit zum abhängig bestimmten Faktor werden lässt, über den die Zeit triumphiert. Dies ist der Beginn einer Explosion die den Rahmen sprengt. Jenen Rahmen der vormals die Lebensbereiche sorgsam abtrennte und der sie nun nicht mehr vor der Herrschaft der Zeit bewahren kann. Abschließend betont Postone, das eigentliche Objekt des Textes. Nämlich wenn er herausstellt, dass die zeitliche Entfremdung von der er spricht, den Charakter der Zeit selbst transformiert hat und wir es somit nicht nur mit zwei verschiedenen Arten Zeit des Messens von Zeit zu tun haben (wenn er von abstrakter und konkreter Zeit spricht), sondern mit zwei verschiedenen Arten von Zeit, die unser Leben maßgeblich beeinflussen. Das Postones Argumentation deutlich und folgerichtig und seine Schrift über „Abstrakte Zeit“ durchweg gelungen und erhellend ist, möchte ich in der folgenden Argumentationsanalyse darlegen.
2. Argumentationsanalyse
Postone geht ohne größere Umschweife auf seinen Begriff von konkreter Zeit ein, mit dem er verschiedene Arten von Zeit beschreibt, welche von Ereignissen abhängen. Beispielsweise Tätigkeiten wie eine Mahlzeit zu zubereiten oder aber naturliche Zyklen, wie der Tag-Nacht-Zyklus. Konkrete Zeit, so beruft sich Postone auf Gurjevich, ist in der vorkapitalistischen Gesellschaft keine festgesetzte Einheit in dem Sinne wie wir sie heute kennen, sondern ein durchaus bewegliches Instrument, das eben nicht wie wir es heute kennen unabhängig von Ereignissen war und das eine hohe Plastiztät aufwies, zumindest im westlichen Europa. So ist es auch möglich jene Zeitvorstellung religiös zu verorten, wie dies zum beispielsweise in der christlichen Zeitrechnung der Fall ist. Dort wird der Zeitstrang und so das Maß der Geschichte, die auch heute noch unserer allgemein akzeptierten Zeitrechnung hier in Westeuropa entspricht, an die religiöse Vorgabe geknüpft. Da dies ein unwiderlegbarer Fakt ist, kann hier Postones Kategorisierung absolute Gültigkeit eingeräumt werden. Der Sinn dieser Erklärung liegt in der Tatsache, das sich dadurch beweisen lässt, das konkrete Zeit im Wesentlichen durch den Umstand charakterisiert wird, das sie eine abhängige Variable ist. Und das somit die Richtung in der sie gemessen wird, nicht gleichermaßen bestimmend ist, wie bei anderen Zeitarten. Dies legt nahe, dass es sich hierbei also nicht um das genaue Messen fest vereinbarter Zeiteinheiten handelt, sondern um die zeitliche Bestimmung verschiedener Ereignisse wie der Tageslänge, Jahreszeiten und weiterer. Anschließend vertieft Postone seine Beweisführung, wenn er darauf eingeht, dass allem Anschein nach in der antiken Welt und in Europa bis zum 14. Jahrhundert die gerade beschriebene Art der Zeitmessung vorherrschend war. So kommt er zu der Behauptung, dass die Zeiteinheit nicht konstant ist, sondern selbst variiert, ..., dass diese Zeitform eine abhängige Variable ist, eine Funktion von Ereignissen; Geschehnissen oder Handlungen.“. (Postone, 2003, 309) Im Folgenden definiert er „Abstrakte Zeit“, die er als kontinuierlich, gleichförmig, homogen und leer versteht, als eine von Ereignissen unabhängige Variable. Eingehend auf Newton, Needham, Landes, Bilfinger und Whithrow arbeitet er heraus, das sich jene Zeitvorstellung zunehmend im 14. und 17. Jahrhundert durchsetzte. Dies wird damit belegt, dass es vor der Epoche des modernen Westeuropa, keine von der Zeit abhängigen funktionalen Bewegungen gab, bzw. das diese so nicht wahrgenommen wurden.
Demzufolge bescheibt er abstrakte Zeit als historisch einzigartig. Die Umstände und Bedingungen ihrer Entstehung werden nun dargelegt. Postone sieht die Ursprünge jener Zeitvorstellung im Zusammenhang mit einer spezifischen Form gesellschaftlicher Praxis, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf dem Weg war eine hegemoniale Stellung in der Gesellschaft einzunehmen und die eine Wandlung der Bedeutung von Zeit in bestimmtem Teilen der gesellschaftlichen Zeitauffassung mit sich brachte. Deutlich betont Postone hier, dass für ihn die Ausbreitung der Warenförmigkeit in den gesellschaftlichen Verhältnissen dafür maßgeblich ist. Die für die kanonischen Stunden der Kirche (horae canonicae) zugrundeliegende Einteilung des Tages in variable Stunden (diese Grundlage wurde in der Antike geschaffen) erfuhr nun eine „dramatische Wandlung“ hin zu konstanten Stunden, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts die klassischen Zeitvorstellungen verdrängte. Hier sieht Postone den Übergang von variabler zu konstanter Zeitmessung, die Entstehung abstrakter Zeit (unabhängige Variable), wie er schlüssig belegt (Postone, 2003, 311). Hinzu kommt die Entwicklung der Mechanischen Uhr zu Beginn des 14ten Jahrhunderts, in der Postone eine enge Verbindung zum Übergang in das neue, auf unveränderlichen, vergleichbaren und austauschbaren Stunden beruhende Zeitmessungssystem sieht. Jedoch ist die Erfindung der Uhr seiner Meinung nach nicht der alleinige Auslöser für den Übergang zu abstrakter Zeit (dies sehen einige seiner Kollegen anders, bspw. Mumford). Er sieht in jener Erfindung vielmehr einen soziokulutrellen Prozess der auf sich selbst referenziert. Er verweist darauf, das jene Entwicklung zur Messung der Zeit gesellschaftlich bedingt war, was durch viele nicht näher historische Beispiele beweisbar ist und demzufolge sich die Idee einer rein technologischen Folgeerscheinung ausschließt (Postone, 2003, 312). Er bringt hier mit der römischen und grieschischen „Wasseruhr“ ein sehr interessantes Beispiel, wenn er nämlich beschreibt, dass verschiedene Arten dieser Uhren trotz der Möglichkeit zur Messung und Anzeige konstanter und gleichförmiger Stunden, sogar mit einem Mechanismus ausgerüstet wurden, der eine Feineinstellung auf variable Zeitabschnitte ermöglichte. Somit bestätigt er seine These, denn es ist frappierend, dass wenn ein Instrument trotz der Möglichkeit zur Messung konstanter Stunden dazu verwendet wird variable zu messen. Daraus geht hervor, dass es sich hierbei um einen gesellschaftlichen Faktor handeln muss, der die Messung bestimmt und das technische Zwänge hierbei keine alleinige Rolle gespielt haben können.
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