Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Motiv der Phantastik
2.1 Verwirrung von Figurenidentitäten durch Vermischung von Traum und Wirklichkeit
2.1.1 Eckbert - Bertha
2.1.2 Das Inzestmotiv bei Eckbert und Bertha
2.1.3 Alte - Walther - Hugo
2.1.4 Alte - Vogel - Hund
3. Fazit
1. Einleitung
Das im Jahr 1796 entstandene Kunstmärchen Der blonde Eckbert von Ludwig Tieck hat von allen Phantasus-Märchen den größten Rezeptionserfolg und bringt nach wie vor eine Vielzahl an Deutungsversuchen hervor. Demnach übt dieses Kunstmärchen noch immer eine Faszination aus, die bis heute anhält.[1] Der blonde Eckbert hebt sich deutlich von den Volksmärchen ab, in denen es vordergründig um einen Helden geht, der sich aus einer Gefahrenlage befreit und am Ende mit Glück und Reichtum belohnt wird. In diesem Kunstmärchen hingegen dominieren Gewalt, Wahnsinn und Tod.[2] Ein glückliches Ende gibt es nicht. Der Titelheld Eckbert wird am Ende wahnsinnig und muss einsehen, dass er sein Leben in völliger Einsamkeit verbracht hat. Seine Gattin Bertha stellt sich als Halbschwester heraus. Welche Figuren sind am Schicksal Eckberts und Berthas beteiligt und wie wirken diese aufeinander? Im ersten Schritt möchte ich auf das Motiv der Phantastik eingehen, das das Ausgangsmotiv für diese Analyse darstellt. Daraus ergibt sich das Kernthema, nämlich die Vermischung von Traum und Wirklichkeit. Zentral und auffällig ist in diesem Zusammenhang die Verwirrung der Figurenidentitäten, auf die ich im Hauptteil konkret eingehe. Die Konstellationen Eckbert - Bertha, Alte - Walther - Hugo und Alte - Vogel - Hund werde ich ausführlich darstellen. Darüber hinaus möchte ich auf die InzestKonstellation von Eckbert und Bertha eingehen. Durch die Heirat der beiden macht sich Eckbert unwissentlich schuldig und büßt dafür am Ende mit dem Tod. Der Inzest kann somit als Ursache für den Untergang bezeichnet werden. Kann demnach Bertha als Auslöser für die Katastrophe betrachtet werden? Darauf bezogen möchte ich die Figurenkonstellationen der Alten näher herausarbeiten. Sie weiß darüber Bescheid, dass Eckbert und Bertha Halbgeschwister sind, behält jedoch dieses Wissen für sich und verhindert die Heirat der beiden nicht. Hätte das tragische Ende demnach verhindert werden können? Diese Analyse stellt einen Versuch zur Aufklärung des Wahnsinns und Todes Eckberts - unter genauerer Betrachtung der einzelnen Figuren - dar.
2. Das Motiv der Phantastik
Das Phantastische ist zu einem Zentrum der Poetik geworden: „[...] alles poetische muss mährchenhaft seyn. [...] (Novalis II, 691).“[3] Im Gegensatz zum Märchen weist die Ordnung im Kunstmärchen Brüche auf, ist irritierend und ambivalent.[4] Die Irritation wie auch Ambivalenz zeigen sich am deutlichsten in der Verwirrung der Figurenidentitäten durch die Vermischung von Traum und Wirklichkeit.
2.1. Verwirrung von Figurenidentitäten durch Vermischung von Traum und Wirklichkeit
2.1.1 Eckbert - Bertha
Eckbert und Bertha sind verheiratet und haben keine Kinder. Beide wissen nicht, dass sie miteinander verwandt sind. Das erklärt auch ihre Kinderlosigkeit. Auffällig ist, dass ihre Namen im jeweils anderen Namen enthalten sind: Eckbert - Bertha. Beide Figuren sind demnach, allein durch ihren Namen, miteinander verbunden. Zudem sind sie Halbgeschwister, was durch die Namensähnlichkeit unterstrichen wird. Auch ihr Schicksal, das des Todes, teilen sie am Ende: Bertha wird sterbenskrank, als sie bemerkt, dass Walther den Namen des Hundes, der ihm eigentlich unbekannt sein müsste, ausspricht. Eckbert verfallt am Ende dem Wahnsinn, weil er die Wahrheit über Bertha und sich erfährt und stirbt. Betrachtet man zuerst Berthas Erzählung über ihre Kindheit (S. 127- 140)[5], so fällt auf, dass diese ungefähr zwei Drittel des gesamten Kunstmärchens ausmacht: „Es ist eine mündliche Erzählung, die zum schicksalhaften Ereignis für alle Beteiligten wird.“[6] Ein wichtiges Element ist in diesem Zusammenhang das „Motiv der Verschachtelung, der Geschichte in der Geschichte.“[7] Berthas mündlich vorgetragene Biografie, also die Binnenerzählung, nimmt Einfluss auf die Rahmenerzäh-
lung, denn Eckbert „trägt die Schuld seiner Frau über ihre Vergangenheit hinaus selbst in der Gegenwart weiter.“[8] Die Vergangenheit Berthas, die in ihrer Erzählung dargestellt wird, ist gekennzeichnet durch Armut und Gewalt. Geboren ist sie in einem Dorf als Tochter einer armen Hirtenfamilie. Ihr Verhältnis zu ihrem Vater ist überschattet von Gewalt: Er straft sie „auf die grausamste Art“.[9] Daraufhin läuft Bertha von zu Hause weg. Ab hier wird ihre Flucht aus der Realität hinein in eine Phantasiewelt deutlich. Sie wird von der Alten aufgenommen, obwohl sie „kaum noch erwartet, eine neue Heimat zu finden an einem Ort, der in der Rückerinnerung zu einem ‘Paradies’ wird.“[10] Bertha erfährt die „Waldein- samkeit“[11], die sie von ihren Qualen aus der Realität erlöst. Erst an diesem wundersamen Ort erschließt sich Bertha die Welt und ihre Realität, „während zuvor im Bereich normaler Lebenspraxis ‘Welt’ nicht erkennbar wurde.“[12] Phantasie und alltägliches Leben verschmelzen miteinander und werden zu Berthas Wirklichkeit. Darüber hinaus wird Berthas Verwirrung, während ihrer ersten Nacht bei der Alten, deutlich: Bertha gelingt es nicht zwischen Traum und Wachzustand zu unterscheiden: „[...] daß es mir immer nicht war, als sei ich erwacht, sondern fiele ich nur in einen andern noch seltsamem Traum.“[13] Doch wie jedes Paradies birgt auch dieses eine Versuchung, die zum Sündenfall führt: „Wunderbare Geschichten“[14] eröffnen Bertha die Vorstellung und Sehnsucht nach dem „schönsten Ritter von der Welt“[15]. Die Sehnsucht nach geschlechtlicher Liebe keimt in ihr auf. Zudem erfährt sie den Wert von Materiellem. Hier wird die Versuchung deutlich, der Sündenfall. Denn Bertha lernt nicht zufällig von der Alten lesen. Durch das Wissen, das Bertha durch Bücher erlangt, erfährt sie von dem hohen Wert der Edelsteine und Perlen, die der Vogel jeden Tag legt. Der Wunsch nach einem schönen Ritter und danach ihren Eltern mit dem Vogel Reichtum zu bescheren, werden so groß, dass sie den Vogel stiehlt und mit ihm
in ihr Heimatdorf zurückkehrt. Dort angekommen, muss sie feststellen, dass ihre Eltern bereits gestorben sind. Demzufolge hat sich ihre Wirklichkeit fundamental verändert. Festzuhalten ist also, dass Bertha, in dem Moment, als sie zurück in ihr Dorf gelangt, wieder zurück zu sich selbst kommt. Die Gewalt, die sie in ihrer Kindheit von ihrem Vater erfahren hat, gipfelt in der Tötung des Vogels, welcher Bertha an ihre Schuld, nämlich den Diebstahl, erinnert. Ihre Schuld bezahlt sie am Ende mit dem Tod. In Form von Walther, der niemand anderes ist als die Alte, verwirrt er Bertha, indem er ihr den Namen des Hundes nennt, den sie namentlich in ihrer Erzählung nicht erwähnt hat. Festzuhalten ist also, dass Bertha, im Gegensatz zu Eckbert, nicht wahnsinnig wird. Es ist das „Entsetzen über diese unbegreifliche Vertraulichkeit“[16], an der sie erkrankt. Ihre Phantasien über ein Leben voller Reichtum und Liebe zerplatzen. Zurück bleiben ihr schlechtes Gewissen und die Erinnerung an ihre Schuld. „Den Empfindungen rettungslosen Verstricktseins in ein unbegreifliches Schicksal ausgesetzt, stirbt sie.“[17] Sie erfährt niemals die Wahrheit über Walther und ihren Ehemann. Dieses Schicksal wird Eckbert zu teil, der am Ende „wahnsinnig und verscheidend auf dem Boden [liegt].“[18] Eckbert ist eher unscheinbar. Er ist „von mittlerer Größe“[19] und ist mit „seinem blassen eingefallenen Gesichte“[20] eine unauffällige Erscheinung. Kennzeichnend für ihn ist „eine gewisse Verschlossenheit, eine stille zurückhaltende Melancholie.“[21] Auch bei ihm lassen sich Verwirrungszustände erkennen, da „ihm sein Leben in manchen Augenblicken mehr wie ein seltsames Märchen, als wie ein wirklicher Lebenslauf erschien.“[22] Eckbert kann also, genau wie seine Frau, Traum und Wirklichkeit nicht voneinander unterscheiden. Diese Verwirrung ist mit der Verwirrung von Figurenidentitäten stark miteinander ver- knüpft.[23] Diese beiden Formen der Verwirrung weisen eine „Logik des Widerspruchs [auf], derzufolge eine Szene zugleich Traum und Erlebnisrealität und eine Figur gleichzeitig sie selbst und eine andere sein kann [,..].“[24]
[...]
[1] Vgl. Kreuzer, Ingrid: Märchenform und individuelle Geschichte. Zu Text- und Handlungsstrukturen in Werken Ludwig Tiecks zwischen 1790 und 1811. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1983. S. 157.
[2] Vgl. Thalmann, Marianne: Das Märchen und die Moderne. Zum Begriff der Surrealität im Märchen der Romantik. Hrsg. von Fritz Ernst. Stuttgart: W. Kohlhammer 1961 (= Urban-Bücher Band 53). S. 55.
[3] Kremer, Detlef: Romantik. Lehrbuch Germanistik. 3., aktualisierte Auflage. Stuttgart: Metzler 2007. S. 187.
[4] Vgl. ebd. S. 189.
[5] Vgl. Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert. In: Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Manfred Frank, Paul Gerhard Klussman, Ernst Ribbat, Uwe Schweikert und Wulf Segebrecht. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1985 (= Band 6).
[6] Giese, Armin: Die Phantasie bei Ludwig Tieck. Ihre Bedeutung für den Menschen und sein Werk. Phil. Diss. masch.: Hamburg 1973. S. 204.
[7] Ebd.
[8] Neubner, Thomas: Das Paradies ist längst zerstört! Der Zerfall des Raum-Zeit-Kontinuums als erzählerisches Stilmittel. Eine werkimmanente Interpretation unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten am Beispiel der Biografie der Bertha in Ludwig Tiecks Werk „Der Blonde Eckbert“. In: Mauerschau 1/2010. Raum und Zeit. Fachzeitschrift Germanistik. Rhein-Ruhr: Universitätsverlag 2010. S. 82.
[9] Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert. S. 128.
[10] Giese, Armin: Die Phantasie bei Ludwig Tieck. S. 205.
[11] Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert. S. 132.
[12] Ribbat, Ernst: Ludwig Tieck. Studien zur Konzeption und Praxis romantischer Poesie. Kronberg/Ts.: Athenäum 1978. S. 142.
[13] Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert. S. 133.
[14] Ebd. S. 134.
[15] Ebd. S. 135.
[16] Giese, Armin: Die Phantasie bei Ludwig Tieck. S. 207.
[17] Ebd. S. 208.
[18] Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert. S. 146.
[19] Ebd. S. 126.
[20] Ebd.
[21] Ebd.
[22] Ebd. S. 143.
[23] Vgl. Kremer, Detlef: Romantik. S. 192.
[24] Ebd.
- Arbeit zitieren
- Magdalena Mai (Autor), 2011, Das Motiv der Phantastik im Kunstmärchen "Der blonde Eckbert" von Ludwig Tieck, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/178815
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