Englisch(unterricht) ab Klasse 1 (in NRW) – Begründungsmuster und empirische Befunde zur Wirksamkeit frühen Fremdsprachenunterrichts


Masterarbeit, 2009

89 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur Historie, Begründung und Wirksamkeit des frühen Fremdsprachenunterrichts
2.1 Die Anfänge des frühen Fremdsprachenunterrichts
2.2 Entwicklungen der sechziger und siebziger Jahre
2.3 Entwicklungen der achtziger und neunziger Jahre
2.4 Jüngste Entwicklungen und gegenwärtiger Stand

3. Neue psycholinguistische Erkenntnisse und Forderungen für einen wirksamen Frühbeginn
3.1 Stufen des Erstspracherwerbs in seiner Bedeutung für das Fremdsprachenlernen
3.1.1 Die Bedeutung des Inputs der Bezugsperson (caretaker talk) beim Spracherwerb
3.1.2 Natürliche Erwerbsfolge beim Lernen von Erst- und Zweitsprache
3.2 Zweitspracherwerb
3.2.1 Kennzeichen des ungesteuerten Zweitspracherwerbs
3.2.2 Kennzeichen des gesteuerten Zweit-, bzw. Fremdspracherwerbs
3.3 Didaktische und methodische Konsequenzen für einen wirksamen frühen Englischunterricht aus den Erkenntnissen der Psycholinguistik

4. Begründung für Englisch als Leitsprache im Frühbeginn

5. Begründungen für den Englischunterricht ab Klasse 1
5.1 Gesellschafts-politische und wirtschaftliche Argumente für den Frühbeginn
5.2 Pädagogische Argumente für den Frühbeginn
5.2.1 Persönlichkeitsentwicklung
5.2.2 Wirkung auf die Sprachentwicklung
5.3 Entwicklungs- und lernpsychologische Aspekte
5.3.1 Kognitive Entwicklung
5.3.2 Neurophysiologische Aspekte
5.3.3 Gedächtnis
5.3.4 Motivation
5.3.5 Das ideale Alter
5.4 Folgerungen für den Englischunterricht ab Klasse 1

6. Grundlegende Prinzipien des frühen Fremdsprachenunterrichts in der Grundschule
6.1 Allgemein geltende Prinzipien
6.1.1 Das Input-Prinzip
6.1.2 Das Prinzip der funktionalen Fremdsprachigkeit
6.1.3 Das Prinzip der Kommunikation
6.1.4 Das Prinzip der variierenden Wiederholung oder das Prinzip des Übens
6.1.5 Das Prinzip des kind-, bzw. altersgemäßen Unterrichtens
6.1.6 Das Prinzip der musischen und spielerischen Elemente
6.1.7 Das Bewegungsprinzip
6.1.8 Das Prinzip des multisensorischen Lernens und der verschiedenen Lernertypen
6.1.9 Das Prinzip der Anschaulichkeit
6.1.10 Das Authentizitäts-Prinzip
6.1.10.1 Authentizität des Unterrichtmaterials
6.1.10.2 Authentischer Grundschul-Englischunterricht
6.2 Eingeschränkt geltende Prinzipien
6.2.1 Das Prinzip der Integration
6.2.2 Das Prinzip der Mündlichkeit und der ‚auch schriftlichen Vermittlung‘
6.2.3 Das Prinzip der Progression

7. Stehen die Ziele des aktuellen Lehrplans Englisch für NRW im Einklang mit den bisherigen Erkenntnissen?

8. Studien und Projekte der letzten Jahre zum fremdsprachlichen Frühbeginn
8.1 Die Evaluationsstudie EVENING in NRW..
8.2 Die Hamburger Studien KESS 7 und LAU 7 zur Auswirkung des Englischunterrichts in der Grundschule
8.3 Eine empirisch-qualitative Studie zur Behandlung der Ergebnisse des Englischunterrichts in der Grundschule im bayrischen Schulsystem.
8.4 WiBe-Projekt in Baden-Württemberg zur Einführung des Englischunterrichts ab Klasse 1

9. Kritik am Fremdsprachenmodell für die Grundschule
9.2 Übergangsproblematik
9.1 Ausbildung der Lehrkräfte
9.1.1 Die Anforderungen an Englischlehrkräfte, deren Erfüllung einen wirksamen frühen Fremdsprachenunterricht ermöglichen
9.1.2 Wie steht es in NRW um die Lehrerausbildung?

10. Fazit/Ausblick

Literaturverzeichnis

Internetquellen

1. Einleitung

Im Februar diesen Jahres (2009) wurde in NRW der Englischunterricht ab der ersten Klasse an staatlichen Schulen eingeführt. Bereits im Vorfeld gab es heftige Diskussionen darüber, ob es überhaupt sinnvoll sei, mit der ersten Fremdsprache bereits so früh zu beginnen. Sowohl Eltern als auch Lehrer[1] und Sprachwissenschaftler meldeten Bedenken an, dass der zusätzliche Unterricht die Kinder überfordernkönne. Zwei Unterrichtsstunden in der Woche seien ohnehin zu wenig, um eine Sprache zu erlernen. Auf der anderen Seite wurde und wird vielfach die Position des ‚je früher desto besser‘ vertreten, die scheinbar geradezu darauf drängt, Englisch schon ab Klasse 1 – wenn nicht sogar schon ab dem Kindergarten – einzuführen.

Auch jetzt noch, nach der Einführung, sind die Meinungen geteilt. Dies geht hervor aus verschiedenen Stellungnahmen besonders in den schriftlichen Medien. In manchen Artikeln wird der frühe Beginn gelobt und die anscheinend gelungene Einführung beschrieben. In anderen Artikeln wird der Nutzen bezweifelt und die angeblich mangelnden Vorbereitungen sowie die Art der Einführung kritisiert.

Von der politischen Seite aus wird das Lernen von Englisch in der Grundschule als gesellschaftlich zunehmend wichtig angesehen. Nordrhein-Westfalen nimmt mit der flächendeckenden Einführung des Fremdsprachenunterrichts ab Klasse 1, wie Barbara Sommer unterstreicht, zusammen mit Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Brandenburg, eine Vorreiterposition in Deutschland ein.

In der Tat begegnet uns die englische Sprache verstärkt überall in unserer Umgebung; sie ist gar nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken. Es bietet sich also offenbar an, daran anzuknüpfen und die Kinder möglichst früh in dieser Sprache zu unterrichten. Auch im europäischen Ausland, wie z.B. in Norwegen oder Österreich, wurde das frühe Fremdsprachenlernen – hauptsächlich von Englisch – schon vor längerer Zeit eingeführt.

Das Ziel dieser Arbeit ist es, zu untersuchen wie dieser frühe Beginn begründet wird und welche organisatorischen und didaktisch-methodischen Voraussetzungen für einen erfolgreichen, bzw. wirksamen Englischunterricht ab Klasse 1gegeben sein müssen und dessen wirksame Weiterführung.Es gilt herauszufinden, welche Effekte der frühe FU auf die Schüler und welche Folgen er auf den Unterricht insgesamt hat.Dazu werden Erkenntnissezum Frühbeginn sowie die daraus resultierenden Prinzipien, die für den frühen Fremdsprachenunterricht[2] gel­ten sollten, dargestellt und erläutert.Ebenso gilt es, den derzeitigen Stand der empirischen Forschung zum Frühbeginnbezüglich der Wirksamkeit des Englischunterrichts ab dem ersten Schuljahr darzustellen und mit den Erkenntnissen der Arbeit abzugleichen. Dazu gehören die substantiellen Grundlagen, wie z.B. ausgebildete Englischlehrer, die kindgerechte Vermittlung und ein schulübergreifendes Gesamtkonzept. Es sollen aber insgesamt nicht nur Begründungen pädagogischer und lernpsychologischer Natur für den Englischunterricht ab der ersten Klasse eruiert werden, sondern auch Begründungen, die gesellschafts- politischer und wirtschaftlicher Art sind.

‚NRW‘ steht im Titel in Klammern, da sich die Arbeit nicht nur mit Grundschulenglisch in NRW befasst, sondern zunächst allgemein die Begründungen für den frühen Fremdsprachenerwerb eruiert werden sollen. Der Bezug zu NRW wird dort hergestellt, wo es um die konkreten unterrichtlichen Grundlagen wie Lehrerausbildung, Übergangsproblematik, Lehrplan und die Anzahl der in Englisch zu unterrichtenden Wochenstunden geht.

Verschiedene mögliche Modelle des Frühbeginns, wie z.B. das bilinguale Modell oder das Immersionsmodell, etc. werden nicht erläutert, da sie für die flächendeckende Einführung des Englischunterrichts an den staatlichen Grundschulen in NRW nicht relevant sind, obwohl es inzwischen Pilotschulen (wie z.B. die Europaschule [siehe dazu Keferstein 2007]) dazu gibt. Laut dem Bericht der Kultusministerkonferenz (KMK) herrscht bundesweit Einigkeit über das Konzept, nach dem früher Fremdsprachenunterricht in der Grundschule erteilt wird, und zwar „systematisch[e] und themenorientiert[e] […] auf Grundlage eines (Rahmen-) Lehrplans mit ergebnisorientierter Progression“ (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2005, 2/15). Der Rahmenlehrplan ist mittlerweile deutschlandweit etabliert.

Zu dem vorliegenden Thema stellen sich folgende Fragen: Welche Argumente werden für den Frühbeginn Englisch angegeben? Was sind die Ziele des fremdsprachlichen Frühbeginns, sind sie zu erfüllen (in NRW)? Was wird von den Kindern erwartet? Ist zu erwarten, dass die Kinder durch den früheren Beginn die Fremdsprache schneller und besser erlernen? Wie soll am besten – kindgemäß – im ersten Schuljahr unterrichtet werden? Kann Fremdsprachenunterricht zu früh erfolgen? Wie sind die Englischlehrkräfte ausgebildet und welchen (Sprach)Einfluss haben sie auf die Kinder?

Zu einigen dieser Fragen kann bereits der folgende historische Rückblick über den frühen FU eine Auskunft geben.Es werden in der Arbeit durchgehend, wo es möglich ist, empirische Studien angegeben, um die theoretischen Überlegungen zu stützen, um am Schluss der Arbeit einen Überblick über die wichtigsten aktuellen Studien und Projekte zu geben.

2. Zur Historie, Begründung und Wirksamkeit des frühen Fremdsprachenunterrichts

Es hat schon seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts Ansätze gegeben, modernen FU an staatlichen deutschen Grundschulen regional oder flächendeckend einzuführen. Diese Versuche sind jedoch zum größten Teil gescheitert. Im Folgenden wird ein Überblick über die Entwicklung des frühsprachlichen Unterrichts ab den frühen Anfängen bis heute gegeben. Dabei ist für diese Arbeit von Interesse, wie dieser Frühbeginn begründet wurde, unter welchen Bedingungen er in der Vergangenheit stattfand und aus welchen Gründen sich der früh beginnende FU in der Vergangenheit nicht durchgesetzt hat.

2.1 Die Anfänge des frühen Fremdsprachenunterrichts

Schon in den zwanziger und dreißiger Jahren wurden in den USA Schulversuche zum frühen Fremdsprachenlernen durchgeführt (vgl. Jaffke 1996, 18), welche die pädagogischen Reformbewegungen in Deutschland positiv beeinflussten (vgl. Pfitzer 2006, 16; Demircioglu 2008, 14). Zur Zeit der Weimarer Republik wurden an Waldorfschulen ab Klasse 1 und einigen staatlichen Schulen ab Klasse 3 im Schuljahr 1919/20 wahlweise Englisch oder Französisch eingeführt. Dabei kamen im Unterricht sowohl an Staatsschulen als auch an Waldorfschulen inhaltlich-methodische Reformen zum Tragen, die besonders das Mündliche und Spielerische betonten (vgl. Demircioglu 2008, 15). 1933, zur NS-Zeit, wurden diese Projekte ausgesetzt und erst in den sechziger Jahren an staatlichen Schulen teilweise wieder aufgenommen (vgl. Böttger 2005, 15). Die Ausnahmen dazu bildeten Waldorfschulen, die bereits ab 1945 den Englisch-, Französisch- und später Russischunterricht ab Klasse 1 wieder aufnahmen (vgl. Pfitzer 2006, 17). Und auch an den staatlichen Schulen des Saarlands – zu dieser Zeit französische Besatzungszone – wurde Französisch ab dem Schuljahr 1946/47 von der zweiten bis zur vierten Klasse obligatorisch eingeführt. Dies sollte vor allem dazu dienen, „die Beziehungen zwischen Besetzern und Besetzten zu erleichtern“ (Kubanek-German 2001, 114) – es handelte sich demnach also um einen Ansatz mit dem Ziel, Verständigung und Toleranz zwischen den Völkern zu schaffen.

Ein weiterer interessanter Versuch in der Grundschule bereits bilingual zu unterrichten, soll hier nicht verschwiegen werden[3]. Das Projekt fand Anfang der Fünfziger Jahre[4] in Schwetzingen (Baden-Württemberg) statt. Es wurde von einem Grundschullehrer der dritten Klasse durchgeführt und von Prof. Artur Kern, einem Vertreter der Ganzheitsmethode, begleitet. Auf Englisch unterrichtet wurde das Fach deutsche Heimatkunde. Mit diesem (bilingualen) Pilotprojekt, welches positive Ergebnisse aufweisen konnte, war Kern seiner Zeit weit voraus. Die Idee, Heimatkunde, also Fachunterricht, auf Englisch zu erteilen, wurde in den Sechzigern allerdings nicht weiter verfolgt (vgl. Pfitzer 2006, 1f.; Kubanek-German 2001, 120ff.).

Generell wurde ab 1950 jedoch Kritik am fremdsprachlichen Frühbeginn ab Klasse 2 laut. Die wichtigsten Argumente gegen den Frühbeginn waren:

Es gebe zu wenig kompetente Lehrer […]. 2. Der Stundenplan sei für die Grundschulkinder ohnehin überfüllt. 3. In der Grundschule seien die Kinder vor allem mit Lesen- und Schreibenlernen der Muttersprache beschäftigt. 4. Das siebte Lebensjahr sei unter psychologischen Gesichtspunkten zu früh, besonders für die weniger Begabten. 5. Für die Lehrer entstehe eine zusätzliche Bürde ohne entsprechende Anerkennung. (Kubanek-German 2001, 116)

Diese Argumente gegen den Frühbeginn werden auch heute noch von Kritikern angeführt und sollen im Verlauf dieser Arbeit auf ihre Richtigkeit untersucht werden.

2.2 Entwicklungen der sechziger und siebziger Jahre

Gegen Ende der fünfziger Jahre gab es erneut den bildungspolitischen Anstoß, Versuche zum Fremdsprachen-Frühbeginn mit Englisch (vorwiegend ab Klasse 3) in Deutschland durchzuführen, und zwar von verschiedenen Seiten. Ausschlaggebend war vermutlich die Tatsache, dass sich die englische Sprache zur lingua franca, der internationalen Verkehrssprache entwickelt hatte. Außerdem bestätigten die damals aktuellen Forschungen von Wissenschaftlern der Neurophysiologie die Wichtigkeit des frühen Beginns des Fremdsprachenlernens, wie z.B. die Untersuchungen zum optimal age[5] von Wilder Penfield und Lamar Roberts oder Eric Lenneberg (vgl. Jaffke 1996, 17f; Böttger 2005, 15; Graf/Tellmann 1997, 53). Der Fremdsprachendidaktiker Helmut Sauer begründete die damalige Vorverlegung des Fremdsprachenlernens damit, dass die Grundschüler durch den Zeitgewinn „die fremdsprachlichen Leistungen steigern und die Chancen für eine Diversifikation der Schulsprachen im Sekundarbereich durch eine früher einsetzende zweite Fremdsprache erhöhen“ (Sauer 1993, 89) könnten. Er sah demnach den Nutzen nicht nur in der Leistungssteigerung in der ersten Fremdsprache, sondern auch in einer positiven Wirkung auf den weiteren Fremdsprachenerwerb an einer weiterführenden Schule.

Weitere Anstöße für den Frühbeginn gaben auch einige vielversprechende Schulversuche. Das vorrangige Ziel dieser Versuche war es herauszufinden, ob und wie der frühere Beginn fremdsprachliche Kompetenz steigern könnte. Dazu zählte beispielsweise der ab 1961 in Kassel durchgeführte Versuch mit der Fremdsprache Englisch (von der 3. bis zum Ende der 5. Klasse).Hierbei wurde u.a. die Frage untersucht, wie sich der frühere Beginn des FU u.a. bei einer konsequenten und organisierten Weiterführung im Sekundarbereich auswirken würde. Die Ergebnisse wurden durchgehend positiv bewertet:

Alle Schüler haben eine recht saubere Aussprache, sie wenden die Satzmuster und neuen Wörter auch im freien Gespräch richtig an, sie lesen gut, grammatische Probleme werden schnell erfasst. Ihr Wortschatz ist erheblich größer als der einer normalen Sexta. Ein schnelles Arbeitstempo ist möglich, die Zahl der pro Stunde eingeführten Wörter ist erheblich größer als die in Normalklassen.

Dazu bleibt anzumerken, daß von der bewältigten Stoffmenge her die Versuchsgruppen zu Ende der Klasse 5 einen Stand erreicht hatten, der von der Normalklasse sonst etwa am Ende des ersten Halbjahres in Klasse 6 erreicht wird.

Es wäre jedoch verfehlt, den Erfolg des Schulversuchs nur im sachlich Meßbaren erkennen zu wollen. Als weitaus wesentlicheres Ergebnis muß betrachtet werden, daß die Schüler die Fremdsprache völlig unbefangen handhaben, sie als echtes Kommunikationsmittel gebrauchen und sich innerhalb der vertrauten Strukturen frei in ihr bewegen. Durch die frühe Bekanntschaft mit der Fremdsprache haben sie bereits einen Grad an Identifikation mit ihr entwickelt, den der Schüler in der Höheren Schule sonst erst zu einem viel späteren Zeitpunkt erreicht. (Martens/Windemuth 1970, 47)

Auch im ‚Hamburger Schulversuch’, der in den Sechzigern durchgeführt wurde, wurden positive Ergebnisse nach zweijährigem Unterricht in Englisch an der Grundschule festgestellt: Der Lautbestand wurde befriedigend und der vermittelte Wortschatz sehr gut (von 72% bis zu 96%) beherrscht und die Schüler waren in der Lage, einfache Aussagen selbstständig zu formulieren sowie Wünsche und Befehle zu äußern (vgl. Jaffke 1996, 20).

Weitere, anfänglich vielversprechende Ergebnisse kamen aus dem bekannten überregionalen Frühbeginn-Langzeitversuch mit Französisch in England, der vom Bildungsministerium veranlasst und im Jahr 1964 von der National[6] Foundation of Educational Research (NFER) durchgeführt wurde. Ungefähr 13000 Kinder sollten vom Anfang der 2. bis zum Ende der 6. Klasse im FU begleitet und deren fremdsprachliche Leistungen analysiert werden (Burstall 1969, 180f.).

Ein Jahr vor dem Abschlussbericht des NFER-Projekts erschienen im Jahr 1973 in Baden-Württemberg, Sachsen und Nordrhein-Westfalen die ersten Rahmenrichtlinien für den Englischunterricht an Grundschulen, nachdem die Kultusministerkonferenz (KMK) der Länder von 1970 empfohlen hatte, die Fremdsprachenvermittlung in den Jahrgangsstufen 3 und 4 anzubieten (vgl. KMK 1994, 6). Jedoch kam es nicht zur allgemeinen Einführung des frühen FU, da u.a. im Abschlussbericht der englischen Studie nach acht Jahren Testphase ‚Frühbeginn‘ keine Verbesserung der fremdsprachlichen Kompetenz der Schüler verzeichnet werden konnte, bis auf einen geringen Vorsprung im Bereich des Hörverständnisses (vgl. Jaffke 1996, 21f.; Sauer 1993, 86, Demircioglu 2008, 15). Diese Ergebnisse hatten negative Auswirkungen auf die gesamte Entwicklung des Frühbeginns in Deutschland. Denn die negativen Resultate des NFER-Projekts wurden durch die Kultusministerien unreflektiert auf die eigenen Schulversuche übertragen. Dabei wurde nicht beachtet, dass in den Unterrichtsversuchen der NFER der formal- grammatisch orientierte FU der Sekundarstufe einfach in die Primarstufe vorverlegt wurde. Das bedeutet, dass der Unterricht nicht altersgerecht durchgeführt wurde, und somit durch die Nichtbeachtung von grundschulpädagogischen Prinzipien für den frühen FU[7] nicht erfolgreich sein konnte. Daher sollten die Ergebnisse dieses Versuches auch nicht als Argumente gegen den Frühbeginn herangezogen werden (vgl. Freudenstein 1989, 339ff.). Als Folge der negativen Ergebnisse der NFER-Studie wurden damals in allen Bundesländern (bis auf Hessen) die Projektezum Frühbeginn abgebrochen und für neue Frühbeginn-Versuche wurden keine weiteren finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt (vgl. Jaffke 1996, 23). Dies geschah, obwohl Doyé und Lüttge 1977 mit einer fünf Jahre dauernden Untersuchung nachweisen konnten, dass „die Teilnahme am Frühbeginn des Englischunterrichts auch noch am Ende des 7. Schuljahres meßbare Leistungsvorteile [brachte] gegenüber solchen Schülern, die erst im 5. Schuljahr ihren ersten Englischunterricht erhielten“ (Doyé/Lüttge 1978, 102f.).

Doch die Frühbeginn-Versuche wurden nicht nur wegen des negativen Resultats des NFER-Projekts abgebrochen, dessen audiovisuelle Unterrichtsprogramme und Methoden im Übrigen später von mehreren Seiten kritisiert wurden (vgl. Jaffke 1996, 22). Laut Böttger scheiterten die Versuche aus nur zwei Gründen, nämlich weil „für den frühen Fremdsprachenunterricht nicht genügend ausgebildete Lehrer bereit[standen]“ (Böttger 2005, 15) und wegen der Problematik, „die in der Grundschule erworbenen Kenntnisse an den Unterricht in den 5. Klassen der weiterführenden Schulen anzuknüpfen“ (ebd.). Das heißt, aus seiner Sicht scheiterte der Fremdsprachenfrühbeginn aus rein organisatorischen, bzw. äußeren, nicht aber aus pädagogischen oder lernpsychologischen Gründen. Auch Jaffke und andere Fremdsprachenforscher führen das Scheitern des Frühbeginns nicht auf pädagogische oder lernpsychologische Faktoren zurück. Jaffke beispielsweise schiebt es auf die fehlende Durchsetzungsbereitschaft seitens der Lehrerschaft und der Schulverwaltung, dass Anfang der siebziger Jahre nicht mit der Einführung des frühen Englischunterrichts begonnen wurde (vgl. Jaffke 1996, 20f). Als weitere Gründe gelten die vorrangig notwendige sprachliche Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund in der Zweit –und Schulsprache Deutsch, die mangelnde Verknüpfung und Koordination von Schulversuchen zum FU in der Grundschule, sowie der Unwille der Bildungspolitik, bei empirisch nicht eindeutig belegtem Nutzen des frühen FU weitere Ressourcen zur Verfügung zu stellen (vgl. Thürmann 2009, 6). Der Frühbeginn wurde also auch deshalb nicht weiter verfolgt, weil die Frühbeginn-Versuche unter zu unterschiedlichen Bedingungen ausgeführt wurden und somit stark variierende Ergebnisse die Folge waren. Diese Ergebnisse hatten für die Politiker nicht genügend Aussagekraft, um den Weg füreinen generellen Frühbeginn zu ebnen.

Es bleibt also festzuhalten, dass es in der Geschichte des Fremdsprachenfrühbeginns schon mehrere Versuche in verschiedenen Teilen Deutschlands gab, Englisch (oder andere Sprachen) in der Grundschule einzuführen. Diese Versuche scheiterten in der Vergangenheit aufgrund der oben dargelegten Gründe. Interessanterweise gab es aber auch Versuche mit positiven Ergebnissen, und deutlich messbarer Wirksamkeit des Frühbeginns. Bei diesen wirksamen Versuchen waren stets drei Faktoren gegeben, nämlich „1. Grundschulgemäßes Lernen, 2. Sprachlich und methodisch qualifizierte Lehrkräfte, 3. Bruchlose Kontinuität des Lernens in den Sekundarschulen“(Sauer, 2000, 31).

Auffällig ist, dass es trotz der erfolgreichen Frühbeginn-Versuche ab Klasse 3 keine nennenswerten Versuche ab Klasse 1 oder 2 gegeben hat. Lediglich Jaffke schreibt über Versuche in einer ersten und einer zweiten Klasse(Jaffke 1996, 20). Ein Grund dafür mag sein, dass es in den sechziger und siebziger Jahren hauptsächlich um die Kompetenzsteigerung im Bereich der ‚4 Fertigkeiten‘ und den Kosten-Nutzen-Faktor ging. Pädagogische oder gesellschafts-politische Ziele, wie die Erziehung zu Toleranz und die Erweiterung des Weltbildes, waren bei den Versuchen der sechziger und siebziger Jahre an staatlichen Schulen nur nachgeordnet relevant (vgl. Sauer 1993, 85). Den Zielen (z.B. Erziehung zur Toleranz) und Erfolgen von Waldorfschulen, die immerhin schon seit 1919 zwei Fremdsprachen ab dem ersten Schuljahr mit Rudolf Steiners anthropologisch-pädagogischen Ansatz unterrichten, wurde von staatlicher Seite wenig Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Jaffke 1996, 32).

2.3 Entwicklungen der achtziger und neunziger Jahre

Im Zuge des zusammenwachsenden Europas gab es in den achtziger Jahren hinsichtlich des frühen FU neue Akzentsetzungen. Die empirischen Forschungen der sechziger und siebziger Jahre hatten zwar nicht die erhofften überzeugenden Ergebnisse zur Leistungssteigerung er­bracht, doch wurde die Fremdsprachenvermittlung in der Grundschule jetzt nicht mehr hauptsächlich unter linguistisch-leistungsmäßigen Gesichtspunkten gesehen. Es traten stattdessen im Kontext neuer Bildungskonzepte (wie dem grundschulpädagogischen Ansatz, dem interkulturellen Ansatz und dem ‚bilingualen‘ Modell[8] ) zunehmend Aspekte wie z.B. die Forderung nach interkulturellem Lernen in den Vordergrund. Es kam dementsprechend an den Grundschulen zu einem Paradigmenwechsel, wobei die Grundschule sich nicht mehr als Zubringer für die Sekundarstufe sah, sondern ein eigenes Profil zum Fremdsprachenlernen er­stellen wollte, welches auch ohne die Weiterführung in sich sinnvoll wäre (vgl. Sauer 1993, 86; Rück 2004a, 15).

Es gab vereinzelte regionale Vorhaben mit Schulentwicklungskonzepten und Unterrichtsangeboten, die mit Begriffen wie ‚Begegnungssprache‘ oder ‚Begegnung mit Sprachen‘ operierten. Diese ähnlichen Begriffe benennen jedoch sehr verschiedene Ansätze. Auf der einen Seite wird die „Begegnungsmetapher zur Kennzeichnung von Sprachlernprogrammen in Grenznähe benutzt“ (Thürmann 2009, 7), bei denen der Unterricht in der jeweiligen Nachbarsprache sowie Begegnungen mit Grundschülern aus dem Nachbarland stattfanden (= Begegnungssprache). Auf der anderen Seite wurde das Begegnungssprachenkonzept integrativ genutzt (besonders in NRW), um den zunehmend multikulturellen Klassengemeinschaften gerecht zu werden, d.h. die Begegnungsphasen waren fächerübergreifend und ermöglichten den Schülern themen- und inhaltsorientierte Sprachlernerfahrungen sowie die Erprobung fremdsprachlichen Handelns (= Begegnung mit Sprachen). Im Vordergrund steht bei letzterem Konzept die Sensibilisierung für fremde Sprachen und Kulturen, also die Bewusstmachung der Gleichwertigkeit. Das Ziel, die kommunikative Kompetenz in der Fremdsprache zu erlangen, wird als nachrangig betrachtet. In diesen Konzepten ist nicht Englisch die verbindliche erste Fremdsprache für die Grundschüler, sondern die Sprache oder die Sprachen, die für sie „in ihrem Leben anzutreffen und bedeutsam sind“ (ebd.; vgl. auch Sauer 1993, 90f.; Sauer 2000, 33).

In den Neunzigern stellte sich eine – durch das politisch und wirtschaftlich vereinte Europa entstandene – neue Situation für das frühe Fremdsprachenlernen ein. Der europäische Binnenmarkt erlaubte Anfang 1993 die ‚vier Freiheiten‘: „den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital“ (Thürmann 2009, 7) und der im selben Jahr abgeschlossene Vertrag von Maastricht forderte die Weiterentwicklung der Europäischen Union. Damit die ‚vier Freiheiten‘ ausgiebig genutzt werden konnten, wurde es zunehmend wichtig, möglichst früh fremdsprachliche Kompetenzen für kommunikative Zwecke herzustellen (vgl. ebd., 7f.). In zahlreichen europäischen Ländern gilt das Lernen einer oder mehrerer Fremdsprachen in der Grundschule, meist ab Klasse drei, schon seit mehreren Jahren als selbstverständlich, beispielsweise in Schweden (seit 1972), Finnland, Norwegen oder Österreich. Auch in Italien wurde im Schuljahr 1990/1991 Englisch, Französisch oder Deutsch an den Grundschulen eingeführt (vgl. Karbe/Schöne 1991, 274). Der Trend zum frühen Fremdsprachenlernen ist in Europa demnach schon seit längerem zu beobachten.

Das Bewusstsein für die Dringlichkeit des frühen Sprachenlernens entwickelte sich in der deutschen Gesellschaft erst im besonderen Maße ab ca. 1992/1993, nicht nur bei Politikern und Eltern (vgl. Thürmann 2009, 7f.). So weist auch die stark angestiegene Anzahl deutschsprachiger Publikationen zum Fremdsprachenlernen im Grundschulalter[9] auf diesen Wandel der Gesellschaft in ihrer Einstellung zum frühen Fremdsprachenlernen hin.

2.4 Jüngste Entwicklungen und gegenwärtiger Stand

Der erneute Anstoß für das frühe Fremdsprachenlernen in Deutschland erfolgte in den neunziger Jahren und hatte weitreichende Folgen. Die Kultusministerkonferenz der Länder begründete Anfang 2002 und erneut im Jahre 2005 den FU in der Grundschule u.a. mit der

veränderten Lebenswirklichkeit und den für den Spracherwerb günstigen Lernvoraussetzungen der Kinder dieses Alters […] [der] zunehmende[n] Mobilität der Bevölkerung […] [der] Internationalisierung der Medien, der Warenproduktion und der Alltagskultur […] [und der] Notwendigkeit, Kinder vom Beginn der Schulzeit an zu Toleranz und gegenseitigem Verständnis zu erziehen. (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2002, 2f.; Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2005, 2)

In Nordrhein-Westfalen trennte man sich zwischen 2001 und 2006 nach und nach von seinem Begegnungssprachen-Konzept, d.h. das Ziel, die kommunikative Kompetenz in der Fremdsprache zu erlangen, rückte in den Vordergrund. Mit dem Schuljahr 2006/2007 wurde der FU ab Klasse 3 flächendeckend mit mindestens zwei Stunden pro Woche eingeführt. Einige Bundesländer wie Berlin, Brandenburg und Schleswig-Holstein brachten die Geldmittel für eine dritte Wochenstunde auf (vgl. Gompf 2008, 2). Die meisten Bundesländer bieten nur Englisch oder vereinzelt wahlweise Englisch mit Französisch, Polnisch, Tschechisch, Russisch und Sorbisch an, wobei meistens die Wahl auf Englisch fällt. Lediglich das Saarland unterrichtet im ersten Schuljahr nur die Fremdsprache Französisch (vgl. ebd., 4).

In Baden-Württemberg wird schon seit dem Schuljahr 2003/2004 der FU ab Klasse 1 mit wahlweise Englisch oder Französisch praktiziert. Dabei wird sich an einem 2004 ausgearbeiteten Bildungsplan (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2004) orientiert. Ebenso haben Rheinland-Pfalz, Brandenburg und – seit diesem Jahr (Februar 2009) – auch Nordrhein-Westfalen den FU bereits ab der ersten Klasse eingeführt und in zahlreichen anderen Bundesländern werden Schulversuche oder regional begrenzte spezielle Programme ab dem ersten Schuljahr durchgeführt (vgl. Gompf 2008, 2f.).

Doch auch in ganz Europa hat sich, besonders im Zeitraum zwischen 2003 und 2007, viel in dieser Richtung getan: In Polen beispielsweise ist seit dem Schuljahr 2008/09 eine Fremdsprache für die Schüler im Alter zwischen sieben und zehn Jahren verpflichtend, in Portugal schon ab sechs Jahren (vgl.Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur 2008, 34). In deutschsprachigen Gebieten in Belgien sowie in autonomen Gemeinschaften Spaniens (vgl.ebd., 27) ist schon im Elementarbereich spielerisches Sprachenlernen sowie der FU ab Klasse 1 Pflicht (vgl. ebd., 34), in Spanien ab dem Jahr 2008 sogar ab dem dritten Lebensjahr. In Italien, Luxemburg, Malta, Österreich und Norwegen beginnt der FU grundsätzlich ab der ersten Klasse (vgl.ebd., 27).

Ohne hier alle Veränderungen aufzuzählen, wird an den genannten Beispielen deutlich, dass die allgemeine Tendenz dahin geht, immer früher mit dem FU zu beginnen. In fast allen europäischen Ländern finden sich verschiedene Sprachangebote ab dem Primar- oder vereinzelt sogar schon im Elementarbereich, die zunehmend obligatorisch werden. Es wird angestrebt, mindestens eine Sprache über einen längeren Zeitraum als verbindlich festzulegen.

Die Historie der vielen verschiedenen Vorstöße bezüglich des frühen Fremdsprachenerwerbs belegt, dass von pädagogischer Seite her eine große Chance im Frühbeginn erkannt wurde, sowohl im Hinblick auf sprachliche als auch kulturelle Ziele. Da die Erfolge aus damaliger Sicht jedoch nicht eindeutig ablesbar waren und eine Vorverlagerung des FU aus gesellschafts-politischen und wirtschaftlichen Gründen nicht zwingend notwendig erschien, erfolgte keine Analyse der Resultate zum damaligen Zeitpunkt. Pädagogische Begründungen für die Vorverlegung konnten vielfach wegen fehlender Rahmenbedingungen nicht verifiziert werden; u.a. fehlten damals auch wichtige psycholinguistische Erkenntnisse, die für einen wirksamen Frühbeginn unbedingt beachtet werden sollten. Im Folgenden werden psycholinguistische Erkenntnisse, sowie deren didaktische und methodische Konsequenzen für einen wirksamen frühen FU aufgeführt.

3. Neue psycholinguistische Erkenntnisse und Forderungen für einen wirksamen Frühbeginn

Obwohl der frühe FU Gegenstand dieser Arbeit ist, soll zunächst der Erwerb der Erstsprache[10] thematisiert werden, denn wenn auch der Fremdsprachenerwerb nicht eins zu eins auf den Erstspracherwerb abgebildet werden kann, sind dennoch die Erkenntnisse aus der Erstsprachenforschung für den Fremdsprachenerwerb wichtig. Infolge sollen die bestehenden Parallelen zwischen Erstspracherwerb und Fremdsprachenlernen herausgestellt werden.

3.1 Stufen des Erstspracherwerbs in seiner Bedeutung für das Fremdsprachenlernen

Die erste Phase der Lautproduktion im Säuglingsalter ist von Schreien und Gurrlauten geprägt und wird ab dem 4. Monat durch Lachen und vereinzelte Laute ersetzt, die in der folgenden Lallphase durch rhythmische Lautgebilde, die Silben ähneln, abgelöst werden. In dieser Phase beginnt das Kind bestimmte Lautkomplexe zu wiederholen und gezielt zu artikulieren, was als erste sprachliche Verständigung gilt (vgl. Böttger 2005, 36). Der Kehlkopf des Kindes wandert nach unten und ermöglicht so erst die Produktion von Sprache. Die Evolution hat also dafür gesorgt, dass erst die mentalen Voraussetzungen gegeben sind, bevor zu sprechen begonnen werden kann (vgl. Bleyhl 2000, 20). Das Kind verliert im Laufe dieser zweiten Phase zunehmend die Fähigkeit zur vielfältigen Lauterzeugung und beginnt damit, nur noch die Phoneme seiner Erstsprache zum weiteren Sprachaufbau zu nutzen (vgl. Böttger 2005, 36). Schwerhörige oder taube Babys kommen auch in die Lallphase, allerdings produzieren sie laut durchgeführten Studien andere Laute als gesunde Babys. Dies unterstützt die These, dass schon das Lallen eine linguistische Fähigkeit ist, die durch den erhaltenen sprachlichen Input gesteuert wird[11]. Taube Kinder, die anstatt auditivem sprachlichen Input einen Input über Zeichensprache erhalten, können zwischen dem vierten und siebten Monat anstelle von phonetischen Lautgebilden einzelne Elemente der Zeichensprache produzieren (vgl. Fromkin/Rodman/Hyams 2003, 354). „Babbling illustrates the readiness of the human mind to respond to linguistic cues from a very early stage” (ebd.).Babys haben also schon sehr früh die Veranlagung dazu, Sprachelemente zu dekodieren, auch ohne sofort sprechen zu können.

Das Kind setzt die Sprech-Bemühungen fort, wenn die von ihm gebildeten Sprachlaute von der Bezugsperson nachgeahmt werden, und somit dem Kind als Anreiz dienen, sie ebenfalls zu wiederholen. Wenn die Bezugsperson von sich aus dem Kind Laute vorspricht, ahmt dieses nur sprachliche Laute nach, jedoch keine „nichtsprachlichen“ (Weinert/Grimm 2008, 509f) Laute, da letztere anscheinend vom Kind nicht als Reize wahrgenommen werden (vgl. ebd.; Böttger 2005, 36).

Wenn die Kinder Wörter der Erwachsenensprache nachahmen, verfestigen sich weitere Lautgebilde, auch wenn der Sinn noch nicht verstanden wird. Diese „Imitation ist ein wesentlicher Faktor für die Sprachentwicklung, da wie auch in der Psychologie durch Nachahmen von Verhalten anhand eines Modells Verhalten erworben wird“ (Böttger 2005, 37). Allerdings wird nicht von jedem Kind gleich viel Sprache imitiert und es wird selektiv vorgegangen, d.h. es werden lediglich individuell aktuelle, für das Kind wichtige sprachliche Strukturen nachgeahmt (vgl. Mayer 2003, 62). Hinzuzufügen ist, dass Kinder – auch wenn sie versuchen etwas Gehörtes zu imitieren – nicht dazu fähig sind Sätze wiederzugeben, die sie nicht auch spontan von sich aus wiedergeben können (vgl. Fromkin/Rodman/Hyams 2003, 344), z.B. hört ein zwei-dreijähriges Kind den Satz „He’s going out“ (ebd.), ist aber nur dazu fähig „He go out“ (ebd.) wiederzugeben.

Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass es zu Problemen beim Spracherwerb kommt, wenn in dieser Phase die Phoneme der Sprache nicht unterschieden werden können und kein Hörverstehen entwickelt wird. Außerdem können dadurch die Schreib- sowie Lesefertigkeit weder in der Erst- noch in der Fremdsprache entwickelt werden (vgl. ebd., 43).

Kinder mit ‚gesundem’ Hörverstehen schaffen sich einen groben Überblick in allen Bereichen der Sprache und verfeinern darin mit der Zeit jeweils ihre Kenntnisse, bevor sie anfangen, gehörte Wörter selbst zu gebrauchen. Diese wichtige Phase im Erwerbsprozess, in der Bedeutungen von Wörtern schon enaktiv (durch Handlungen) erfahren, bzw. durch bestimmte Situationen erschlossen werden, das Kind aber noch nicht dazu bereit ist, die Worte auszusprechen, wird als ‚ silent period ’ oder ‚Inkubationszeit’ bezeichnet und kann mehrere Monate dauern (vgl. Mayer 2003, 65; Böttger 2005, 37). Die meisten Kinder können in der Zeit um ihr erstes Lebensjahr aber schon Handlungsanweisungen der Bezugspersonen verstehen und ausführen, wie z.B. wenn sie aufgefordert werden zu zeigen, wo die Nase vom Teddybär ist, o.ä. (vgl. Böttger 2005, 38). Man erkennt, dass Kinder in diesem Alter ein viel größeres passives Wissen haben, als das, welches sie aktiv nutzen.

In ungefähr demselben Alter beginnt die Einwortsatz-Phase, in der Kinder einzelne Wörter aussprechen, die häufig Satzcharakter haben und deren Bedeutungen meist nur aus der jeweiligen Situation erkennbar sind. Die Kinder bilden grobe Bedeutungskomplexe, z.B. indem sie alles, was vier Beine hat, mit ihrem Wort für Hund bezeichnen. Durch die Reaktionen in ihrer Umwelt auf diese Einwort-Äußerungen werden die Bedeutungskomplexe ggf. aufgebrochen, neu geordnet und akkommodiert[12] (vgl. ebd.).

Etwa ein Jahr später, zwischen dem 18. und 24. Monat gelangen die Kinder in die Phase der Zweiwortsätze (z.B. ‚Ball haben!’). Die Bildung von „morphologischen Strukturen wie Fragesätze, Negationssätze, Satzketten sowie Konjunktionen, Deklination und Komparation“ (ebd., 39) erfolgt erst ein wenig später. Bis zu ihrem dritten Lebensjahr sprechen die Kinder in dem sogenannten „Telegrammstil“ (ebd.) ohne Flexionsendungen, Hilfsverben und Bindewörter. Mit vier Jahren haben sie die Grundlagen der Grammatik erworben und ihre Sprache passt sich zunehmend an die der Erwachsenen an, es kommt aber noch häufig zu Übergeneralisierungen, besonders im Bereich der Flexion. Dies gibt sich meist bis zum 6. Lebensjahr, in dem die Grammatik und das Lautsystem weitgehend beherrscht werden. Der Wortschatz wird durch das Lesen lernen innerhalb kürzester Zeit stark erweitert (vgl. ebd. 39f.).

Generell kann man sagen, dass Kinder ihre erste Sprache „scheinbar mühelos, ganzheitlich und ohne explizit formulierte Regeln“ (Mayer 2003, 60) erwerben. Doch auch der Erstspracherwerb ist nicht völlig regellos. Er unterliegt einigen natürlichen Regelungen, die unter den zwei folgenden Punkten näher erläutert werden.

3.1.1 Die Bedeutung des Inputs der Bezugsperson (caretaker talk) beim Spracherwerb

Beim Erstspracherwerb ist der sprachliche Input, der in den meisten Fällen hauptsächlich von den Eltern gegeben wird, von hoher Bedeutung für das Kind. Die Eltern fungieren als ein von emotionaler Zuwendung beeinflusstes Sprachmodell. Sie bedienen sich i.d.R. dem Kind gegenüber einer bewusst oder unbewusst angepassten Sprache: Sie sprechen langsam und deutlich, benutzen eine ausgeprägte Satzmelodie sowie einen begrenzten Wortschatz, wiederholen sich häufig, die Sätze sind kurz und beziehen sich zumeist auf relevante, dem Moment entsprechende Inhalte und Themen. Das Hörverstehen des Kindes entwickelt sich durch diese Sprache weiter, selbst wenn es noch nicht alles Gesagte versteht. Bei völlig unverständlichen Äußerungen erfolgt allerdings keine Kommunikation, da das Kind einfach nicht weiter zuhört (vgl. Böttger 2005, 40).

Neben der Sprache spielen auch die Mimik und Gestik der Bezugsperson sowie die sozialen und situativen Bedingungen, unter denen die Kommunikation abläuft, eine wichtige Rolle, da das Kind diese noch vor der Sprache zu verstehen lernt (vgl. Graf/Tellmann 1997, 67).

Das vermutlich wichtigste Merkmal des caretaker talk ist jedoch, dass es nicht darum geht, das Kind zu unterrichten, sondern es dazu zu befähigen, sich mit Sprache zu verständigen. Eltern halten sich nicht an einen Plan, der ihnen sagt, dass das Kind in einem bestimmten Altersabschnitt z. B. das simple past beherrschen muss und sie erklären auch normalerweise keine grammatischen Regeln. Die sprachlichen Äußerungen, die das Kind hervorbringt, auch wenn sie grammatische Fehler enthalten, werden im Normalfall mit Anerkennung belohnt. Korrigiert wird an den Äußerungen nur der Wahrheitsgehalt, d.h. selbst wenn das Kind eine grammatisch korrekte Äußerung hervorbringt, wird diese korrigiert, wenn sie nicht wahr ist (z.B. wenn das Kind eine Giraffe als Hund bezeichnet oder ein Auto malt und sagt, es wäre ein Fahrrad). Das heißt es geht den Eltern bei der Kommunikation anfangs hauptsächlich um die Verständlichkeit und weniger um die richtige sprachliche Form von Seiten des Kindes (vgl. Johnson 2001, 79).

Ab dem zweiten Lebensjahr des Kindes bekommt der caretaker talk, in diesem Fall auch ‚ motherese‘ genannt, einen lehrenden und sprachanregenden Charakter. Merkmale der entwicklungsfördernden Sprache sind Wiederholungen, Umformungen und das Ausbauen der kindlichen Äußerungen durch die Bezugsperson (vgl. Weinert/Grimm 2008, 532).

3.1.2 Natürliche Erwerbsfolge beim Lernen von Erst- und Zweitsprache

In einer Studie mit drei Kindern, die in der Phase waren, grundlegende Morpheme[13] ihrer Muttersprache Englisch zu erwerben, fand der Linguist R. Brown heraus, dass die Reihenfolgen, in denen die Kinder diese Morpheme erwarben, signifikante Übereinstimmungen aufwiesen. Dies brachte ihn und auch andere Linguisten zu der Annahme, dass Muttersprachler eine Art „internal syllabus“ (Johnson 2001, 69) besäßen, der dazu führe, dass sie ihre Muttersprache auf dem gleichen Weg, sozusagen in der gleichen ‚Reihenfolge’, erlernten (vgl. ebd.). Nach Browns Vorbild versuchten auch H. Dulay und M. Burt 1973 eine natürliche Erwerbsreihenfolge bei Fremdsprachenlernern zu entdecken, und führten ihre Studie über die Erwerbsfolge von acht englischen grammatischen Strukturen mit Spanisch sprechenden Kindern in den USA durch (vgl. Dulay/Burt 1974, 38). Sie fanden tatsächlich eine spezielle Reihenfolge heraus, die allerdings nicht mit der Erwerbsfolge der Erstsprache erwerbenden Kinder von Browns Studie übereinstimmte. Dulay und Burt führten eine weitere Untersuchung durch, an der neben spanischen auch chinesische Kinder teilnahmen, um herauszufinden, ob sich bei Kindern mit unterschiedlichen Muttersprachen die Erwerbsreihenfolge beim Lernen der gleichen Fremdsprache ändern würde (vgl. Dulay/Burt 1974, 37). Laut den Testergebnissen erfolgte der Erwerb der Fremdsprache in beiden Sprachgruppen tatsächlich in einer ähnlichen Sequenz. Ihre Folgerung daraus war, dass es eine universelle Morphem-Erwerbsreihenfolge geben müsse, mit leichten Abweichungen (vgl. ebd., 38), wie sie selbst einschränken, die von allen Lernern befolgt werde und zwar unabhängig von ihrer Muttersprache (vgl. ebd., 51f.). Die Aufstellung einer solch allgemeingültigen Aussage erscheint natürlich fragwürdig angesichts der Tatsache, dass nur zwei verschiedene Sprachgruppen und nur die grundlegenden Morpheme untersucht wurden und zudem die Studien mit Kindern durchgeführt wurden, die ihre Zweitsprache in einem natürlichen Umfeld gelernt haben (vgl. auch Johnson 2001, 72).

Spätere Studien, beispielsweise von Manfred Pienemann, der den Erwerb von deutschen Satzstellungsregeln – von Schülern, die Deutsch als Fremdsprache lernten – auf der Basis von Erwerbsfolge-Studien untersuchte, bestätigten jedoch die Befunde von Dulay und Burt. Pienemann und andere fanden heraus, dass die Satzstellungsregeln nur, wenn sie in der ‚richtigen‘ Reihenfolge gelernt werden, auch von den Schülern angewendet werden (vgl. Pienemann 1985, dargestellt bei Johnson 2001, 222).

Pienemann stellt also ca. zehn Jahre nach den Forschungen von Dulay und Burt die ‚Lehrbarkeitshypothese‘ (teachability hypothesis) auf. Diese besagt, dass Lernende neue sprachliche Konzepte nur dann wahrnehmen und lernen können, wenn sie durch ihre innere Erwerbsfolge dazu in der Lage sind. Zusammenfassend kann man demnach vermutlich davon ausgehen, dass es eine „gesetzmäßig festgelegte Abfolge beim Erwerb bestimmter fremdsprachlicher Formen und Konzepte [gibt], die von den Unterrichtenden nicht dauerhaft umgangen werden können, und dies scheint auch für entsprechende Vermittlungshilfen von Lehrerseite zu gelten“ (Timm 2003, 32), also auch für Unterrichtsmaterialien. Johnson schließt daraus, dass die Informationen aus den Studien der Morphem-Erwerbsreihenfolge bei der Gestaltung der Progression der Schulbücher für den FU zugrunde gelegt werden sollten, was derzeit noch nicht der Fall sei. Laut Johnson wird aber auch noch daran gezweifelt, dass die Anpassung der Schulbücher an die interne Erwerbssequenz einen großen Unterschied beim erfolgreichen Lernen der Fremdsprache mache und es wird vermutet, dass der Aufwand der Umgestaltung der Schulbücher sich nicht lohne (vgl. Johnson 2001, 221f.). Diese Vermutung müsste aber erst verifiziert werden. Erst wenn sich die staatlichen Lehrpläne und Lehrbücher tatsächlich am inneren Lehrplan, also der natürlichen Erwerbssequenz, orientieren, ist eine Voraussetzung gegeben, dass sich bessere Erfolge beim Sprachenlernen einstellen können. Bislang wird die angeblich schlechte Behaltensleistung der Schüler von den Lehrern kritisiert, da schon eingeübte und trainierte Strukturen häufig nicht von den Schülern angewendet werden, was sich durch die Orientierung an den inneren Gesetzmäßigkeiten in eine positive Richtung entwickeln könnte.

Die umfassende empirische Langzeitstudie DiGS[14] von Diehl und anderen an 30 Klassen von der vierten bis zur zwölften Jahrgangsstufe von 1995 bis 1997 bestätigte ebenfalls die Befunde von Roger, Dulay und Burt bezüglich der Erwerbsfolgen. Zwar wurde diese Studie mit Schülern durchgeführt, die Deutsch als Fremdsprache lernten, jedoch können die Erkenntnisse auch auf das Lernen der Fremdsprache Englisch übertragen werden (vgl. Diehl u.a. 2000, 3ff.). Folgende gesicherte Ergebnisse der Studie sind hier hochrelevant:

1. Der Erwerb der […] Grammatik unter gesteuerten Bedingungen verläuft anders, als üblicherweise in der Fremdsprachendidaktik angenommen wird. Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass eine Grammatikregel normgerecht angewendet werden kann, sobald sie erklärt und eingeübt worden ist. Der Grammatikerwerb unterliegt internen Gesetzmäßigkeiten, die durch den Unterricht nicht kurzgeschlossen und nicht geändert werden können. Der Weg über Erwerbsstrategien ist unvermeidlich [Hervorhebung M.H.]; lernsprachliche Abweichungen sind konstituierender Bestandteil des Erwerbsprozesses.
2. In drei der von uns untersuchten Grammatikbereichen erfolgt der Erwerb in einer festen Abfolge von Phasen. […] es [gibt] deutliche Parallelen zur Phasenfolge unter natürlichen Erwerbsbedingungen; bei der Verbstellung gibt es zwar ebenfalls gewisse Parallelen, aber daneben auch signifikante Unterschiede zum L1-Erwerb.
3. In keinem der […] Bereiche verläuft der Erwerb parallel zum schulischen Grammatikpro­gramm [Hervorhebung M.H.]. […] Unterricht, der dieser natürlichen Reihenfolge entgegensteuern versucht, kann zwar zu kurzfristigen Trainingserfolgen führen, doch setzt sich auf lange Sicht die natürliche Reihenfolge wieder durch. (Diehl u.a. 2000, 359)

Diehl folgert daraus, dass implizite Lernmechanismen beim Spracherwerb effektiver sind, als explizite (vgl. ebd., 377).

Die didaktische Konsequenz daraus ist, dass sich der Unterricht, sowie die Lehrwerke, an diesem internen Lehrplan orientieren sollten.

3.2 Zweitspracherwerb

Der Zweitspracherwerb wird unterteilt in ungesteuerten und gesteuerten Zweitspracherwerb. Im ersten Fall geht der Erwerb in einer natürlichen Umgebung vonstatten, z.B. im Ausland, wo die Sprache die Amtssprache ist. Das zweitgenannte Sprachenlernen wird durch einen Sprachkurs gesteuert, wie z.B. durch den Englischunterricht in der Grundschule (vgl. Pfitzer 2006, 73).[15]

3.2.1 Kennzeichen des ungesteuerten Zweitspracherwerbs

Der ungesteuerte, bzw. natürliche Zweitspracherwerb geht ähnlich wie die Muttersprache eher unbewusst vonstatten, meist ohne den Gebrauch von Lehrbüchern. Häufig betrifft er Kinder von immigrierten Familien. Der Erwerb der Zweitsprache erfolgt zeitlich versetzt von der Erstsprache und unterscheidet sich somit aus sprachpsychologischer Sicht vom Erstspracherwerb. Graf und Tellmann (1997, 68) folgern, dass die entwicklungsbedingten Unterschiede sich vergrößern, je fortgeschrittener der Erstspracherwerb ist, d. h. dass das Fremdsprachenlernen zunehmend schwerer fällt, da der Abstand zur Eloquenz der Erstsprache bei zunehmenden Alter wächst. Ein Kind hat in einem fremden Land demnach weniger Probleme sich dem altersgemäßen Sprachgebrauch anzugleichen als ein Erwachsener.

Wenn der Zweitspracherwerb im frühen Kindesalter, d.h. im Alter bis zu etwa sechs Jahren, erfolgt, wird eine Art partieller Bilingualismus erworben. Allerdings müssen bestimmte Parameter gegeben sein, wie z.B. eine Bezugsperson sowohl für die Muttersprache als auch für die Zweitsprache. Zudem müssen die Sprachen im Umfeld des Kindes regelmäßig gesprochen werden, damit die zweite Sprache leicht und relativ unbewusst erworben werden kann (vgl. Böttger 2005,42).

Wird eine zweite Sprache erst zwischen dem sechsten und siebten Lebensjahr gelernt, wird automatisch der unbewusste Umweg über die Muttersprache gemacht, um die neue Sprache zu erschließen (vgl. Dalgalian 2005, 129). Auch wird die Sprache nicht so leicht erworben, wie die Erstsprache oder die frühe Zweitsprache, selbst wenn sich der Lernende in einem natürlichen Lernumfeld, also dem Land, in der die Zielsprache gesprochen wird, befindet. Dennoch gelten wie im frühen Zweitspracherwerb die Regeln: Wer der Zweitsprache regelmäßig ausgesetzt ist und hohe Kontaktzeiten mit der Sprache hat, womit „das Leben in und mit der Sprache, die inhaltsbezogene Kommunikation und vor allem der authentische sprachliche Input durch viele Sprecher“ (Böttger, 2005, 43) gemeint ist, der lernt die Sprache schneller, als jemand, der sich isoliert. Häufig kann dies bei Migrantenfamilien beobachtet werden. Die Kinder haben durch die Schule oder den Kindergarten viel Kontakt zur Zweitsprache und erlernen sie relativ schnell, auch aufgrund geringer Hemmungen und hoher Motivation, die Eltern hingegen halten sich oft im neuen Umfeld gesellschaftlich und sprachlich zurück.

Wie im Erstspracherwerb gegenüber den Kleinkindern, wird auch gegenüber den Zweitsprachenlernern eine vereinfachte Sprache benutzt. Diese unterscheidet sich jedoch vom caretaker talk insofern, als dass die Sätze zum Teil noch stärker reduziert werden, wenn der Lernende zu wenig versteht. Anfangs wird das Lernen der Sprache dadurch gefördert.Die Reduktion birgt jedoch die Gefahr, dass diese vereinfachte Sprache nicht zu einer wachsenden Sprachkompetenz führt, sodass die weitere Entwicklung der Zweitsprache stagniert, es also zu einer Fossilisierung[16] kommt (vgl.ebd.). Das gleiche kann auch im gesteuerten Zweitspracherwerb passieren, weshalb stets darauf geachtet werden sollte, dass die Lernenden nicht unterfordert werden.

3.2.2 Kennzeichen des gesteuerten Zweit-, bzw. Fremdspracherwerbs

Im ausschließlich gesteuerten Zweitspracherwerb im schulischen Rahmen sind die Schüler nicht einem Sprachbad wie im ungesteuerten Zweitspracherwerb, geschweige denn wie im Erstspracherwerb, ausgesetzt. Bei zwei Wochenstunden sind es im Idealfall insgesamt ca. 140-150 Unterrichtsstunden[17] die vom Beginn des ersten Schuljahres bis zum Ende der Schuleingangsphase (Ende des 2. Schuljahres) erteilt werden; eine im Vergleich betrachtet sehr geringe Stundenanzahl. Allein dieser Faktor lässt schon vermuten, dass das Fremdsprachenlernen in der Grundschule nicht genauso verlaufen kann wie der Erwerb in einer natürlichen Umgebung.

Zu dem Zeitfaktor kommt hinzu, dass die Kinder im schulischen Unterricht keine individuellen Bezugspersonen haben (vgl. Mayer 2003, 60), die sich (wie die Eltern im Erstspracherwerb) intensiv um sie kümmern und mit ihnen sprachlich interagieren, was auch für den Fremdspracherwerb essentiell ist. Dort steht lediglich ein Lehrer für viele Schüler zur Verfügung, der somit jedoch nicht auf die individuell verschiedenen Bedürfnisse aller Schüler eingehen kann. Da sich demnach alle Schüler an der Lehrperson orientieren und sich auf sie konzentrieren, liegt es auf der Hand, dass „[d]ie in der Lernanfangsphase erfahrenen Sprachmodelle prägend [sind], besonders für die Aussprache. Die Lehrerinnen und Lehrer des Anfangsunterrichts müssen deshalb sprachlich kompetent sein“ (Bleyhl 2000, 21).

Die Kommunikation leidet im gesteuerten Zweitspracherwerb darunter, dass sie zum einen eher sprach- als inhaltsbezogen ist und zum anderen zu wenige Anwendungsmöglichkeiten findet. Hier wären z.B. außerschulische Kontakte mit der fremden Sprache sinnvoll (vgl. Böttger 2005, 44f.).

[...]


[1] Zur lesefreundlichen Gestaltung des Textes werden in dieser Arbeit Schüler und Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen sowie Autoren und Autorinnen usw. nur mit dem männlichen Terminus bezeichnet.

[2] ‚Fremdsprachenunterricht‘ wird im Folgenden mit ‚FU‘ abgekürzt, mit Ausnahme der Kapitelüberschriften und der Zitate.

[3] Obwohl Projekte zum bilingualen Lernen in dieser Arbeit nicht weiter dargestellt werden.

[4] Hier widersprechen sich die Äußerungen: bei Pfitzer steht, dass der Schulversuch 1950/51 stattgefunden hat, bei Kubanek-German heißt es, er sei Ende der vierziger Jahre durchgeführt worden (vgl. Kubanek-German 2001, 120). Da bei Pfitzer ein genaues Schuljahr angegeben ist und es wiederholt heißt, dass der Versuch Anfang der Fünfziger stattgefunden habe, übernehme ich dieses Datum.

[5] Weitere Überlegungen zu diesem Thema unter Kapitel 5.3.5 ‚Das ideale Alter‘.

[6] Bei Jaffke (1996, 21) und Pfitzer (2006, 18) steht NFER fälschlicherweise ausgeschrieben als Nuffield Foundation for Educational Research. Richtig ist National Foundation for Educational Research. Die NFER und die Nuffield Foundation unterstützen lediglich von Zeit zu Zeit das gleiche Projekt (siehe http://www.nfer.ac.uk/index.cfm, http://www.nuffieldfoundation.org/).

[7] Siehe Weiteres zu den grundlegenden Prinzipien im frühen FU inKapitel 6.

[8] Siehe Bemerkung zum ‚bilingualen‘ Modell in der Einleitung.

[9] 51 Veröffentlichungen allein im Jahr 1992, im Gegensatz zu 55 Veröffentlichungen von 1980-1989 insgesamt (vgl. Sauer 2000, 28f.).

[10] Da die erste Sprache, die man lernt, nicht zwingend die Sprache der Mutter ist, können die Begriffe ‚Mutter­sprache‘ und ‚Erstsprache‘ differenziert werden. In dieser Arbeit wird der Begriff ‚Muttersprache‘ jedoch als gleichbedeutend mit dem Begriff ‚Erstsprache‘ verwendet.

[11] Weiteres zur Bedeutung des Inputs in Kapitel 3.1.1.

[12] Zum näheren Verständnis siehe auch ‚Kognitive Entwicklung‘, Kapitel 5.3.1.

[13] Morpheme sind die „kleinsten bedeutungstragenden Einheiten der Sprache“ (Karatas 2005, 87), z.B. „- ing (as in He is walking)” (Johnson 2001, 70) oder „- s (3rd person of simple present tense, as in She wants)“ (vgl. ebd.).

[14] = Deutsch in Genfer Schulen

[15] Laut Böttger habe man seit wenigen Jahren die Unterscheidung zwischen Zweit- und Fremdsprache zum größten Teil aufgegeben, da man davon ausgehe, dass der Erwerb beider Formen auf denselben neuropsychologischen Grundlagen wie der Erstspracherwerb beruhe. Beim Erwerb einer fremden Sprache in der Schule werde lediglich in einem anderen Kontext gelernt (vgl. Böttger 2005,42).

In dieser Arbeit geht es um den gesteuerten Zweitspracherwerb, weshalb der Einfachheit halber die Bezeichnung ‚Fremdsprachenerwerb’, bzw. ‚Fremdsprache’ benutzt wird, ausgenommen im vorliegenden Kapitel.

[16] Lerner einer fremden Sprache, ob im gesteuerten oder ungesteuerten Erwerb, gelangen früher oder später in ihrer Sprachentwicklung zu einem Punkt, an dem sich die Sprache ‚festfährt‘. Kaum jemand erlangt muttersprachengleiche Kompetenzen. Die Entwicklung bleibt von Individuum zu Individuum auf ganz unterschiedlichen Stufen des Spracherwerbs stehen (vgl. Johnson 2001, 7). Die Frage, wieso das Sprachenlernen bei manchen Lernern früher, bei anderen später stagniert, ist jedoch noch nicht ausreichend geklärt. Es wird vermutet, dass der Faktor Motivation dabei eine große Rolle spielt sowie die Ansprüche des Einzelnen, d.h. ob man sich nur funktional verständigen, oder ob man sich in eine Sprachgemeinschaft integrieren möchte und gesellschaftlich akzeptable Formulierungen nutzt (vgl. ebd., 97ff.).

[17] Abgerechnet aller Schulferien und Feiertage. Unterrichtsausfall durch Krankheit oder durch andere Gründe sorgt für zusätzliche Stundenabzüge.

Ende der Leseprobe aus 89 Seiten

Details

Titel
Englisch(unterricht) ab Klasse 1 (in NRW) – Begründungsmuster und empirische Befunde zur Wirksamkeit frühen Fremdsprachenunterrichts
Hochschule
Universität Münster
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
89
Katalognummer
V178953
ISBN (eBook)
9783656012214
ISBN (Buch)
9783656012344
Dateigröße
840 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Meine Professorin sagte mir, das Lesen meiner Arbeit sei sehr kurzweilig und erfreulich gewesen.
Schlagworte
früher Fremdsprachenunterricht, Prinzipien des frühen Fremdsprachenunterrichts, WiBe-Projekt, EVENING, Übergangsproblematik, Historie des frühen Fremdsprachenunterrichts, Erstspracherwerb, Zweitspracherwerb, Begründung für Englisch als Leitsprache im Frühbeginn, Begründungen für den Englischunterricht ab Klasse 1, psycholinguistische Erkenntnisse für den Frühbeginn, Kritik am Fremdsprachenmodell, das ideale Alter, Motivation
Arbeit zitieren
Michaela Harbich (Autor:in), 2009, Englisch(unterricht) ab Klasse 1 (in NRW) – Begründungsmuster und empirische Befunde zur Wirksamkeit frühen Fremdsprachenunterrichts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/178953

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