Leseprobe
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung
1.1 Zielsetzung und Vorgehensweise
1.2 Literatur und Quellen
Zeitgenössische Quellen und Literatur
Jüngere Sekundärliteratur
1.3 Historisch-geographischer Kontext
1.3.1 Ausgangslage im östlichen Europa zu Ende des Ersten Weltkrieges
1.3.2 Der Minderheitenschutz-Mechanismus des Völkerbunds
2 Ausgestaltung des Minderheitenschutzes
2.1 Polen
2.1.1 Minderheitenstruktur zu Ende des Ersten Weltkrieges
Interne Minderheiten
2.1.2 Minderheitenschutzabkommen unter Garantie des Völkerbunds
2.1.3 MinderheitenpolitikPolens 1921-1934
Motivation und Ziele
Unsystematische Assimilierungspolitik
Polonisierung, Pazifizierung, Entdeutschung
Unter Pilsudski: Zwischen Duldsamkeit und Repression
2.1.4 Reaktionen der betroffenen Minderheiten
Beschwerden an den Völkerbund
Radikalisierung
2.1.5 Ausblick auf die weiteren Ereignisse
Verschärfung des deutsch-polnischen Gegensatzes
Polens Aufkündigung des Minderheitenschutzvertrags mit dem Völkerbund
2.2 Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen
2.2.1 Minderheitenstruktur im SHS-Staat
Interne Minderheiten
2.2.2 Minderheitenschutzabkommen unter Garantie des Völkerbundes
2.2.3 Minderheitenpolitik des SHS-Staates 1921-1929
Motivationen und Ziele
Repression und Kolonisierung in Makedonien und im Kosovo
Assimilierung der Magyaren und der Deutschen
Verschärfung in den 1920-er Jahren
2.2.4 Reaktionen der betroffenen Minderheiten
Beschwerden an den Völkerbund
Radikalisierung
2.2.5 Ausblick auf die weiteren Ereignisse: Königsdiktatur ab 1929
3 Diskussion
3.1 Polen - SHS-Staat: Vergleich der Minderheitenpolitik
3.1.1 Bedeutung der Minderheiten für Polen und den SHS-Staat
Ideologische Faktoren
Sicherheitspolitische Aspekte
Internationale Beziehungen und Reziprozität in der Minderheitenpolitik
3.1.2 Umgang mit den Minderheiten
Mittel der Minderheitenpolitik
Unterschiede im Umgang mit den verschiedenen Minderheiten
3.1.3 Beziehungen zum internationalen Minderheitenschutzsystem
Umgang des Sekretariates mit den Beschwerden
3.2 Schlussfolgerungen
3.3 Zusammenfassung
3.4 Abschliessende Bemerkungen zur vorliegenden Arbeit
1 EINLEITUNG
1.1 Zielsetzung und Vorgehensweise
Die ostmitteleuropäischen Minderheiten bargen nach dem Ersten Weltkrieg ein Konfliktpotenzial, das vor dem Hintergrund eines wachsenden Nationalismus, einer fortdauernden so- zioökonomischen Unsicherheit und einer politischen Autokratisierung kaum zu überschätzen war. Ein unheilvoller Komplex aus ideologischen und geopolitischen Aspekten machte die Minderheiten auch für die staatliche Konsolidierung der beiden neuen Staaten Polen und Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen1 zu einem kritischen Faktor. Wie auch die meisten anderen Staaten in diesem Raum, sahen diese ihre Zukunft in einer nationalen Uniformierung, zu deren Vollendung die Minderheiten hinderlich waren.
In der vorliegenden Arbeit wird die Politik der Polnischen Republik und des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen gegenüber ihren Minderheiten in den 1920er-Jahren vergleichend aufgearbeitet. Dazu werden die Beweggründe und die Umsetzung minderheitenpolitischer Massnahmen sowie die Reaktionen der Minoritäten darauf für beide Staaten getrennt herauskristallisiert. Das internationale Minderheitenschutzsystem der Zwischenkriegszeit stellt dabei einen wichtigen Beobachtungsgegenstand dar, da die Berührungspunkte der beiden Staaten mit diesem Instrument einiges über deren Minderheitenpolitik und ihren Hintergrund offenbaren. Im Diskussionsteil werden schliesslich die erarbeiteten Erkenntnisse aus der Politik beider Staaten einander gegenübergestellt und vor dem Hintergrund relevanter soziopolitischer Rahmenbedingungen interpretiert.
Der zeitliche Rahmen ist auf das zweite Jahrzehnt des 20. Jhdts. beschränkt. Dessen Beginn wird durch die Etablierung der neuen politischen Landkarte im östlichen und südöstlichen Europa markiert. Die aussenpolitische Konsolidierung war für Polen mit dem Ende des Polnisch-Sowjetischen Krieges und für den SHS-Staat mit der Volksabstimmung in Kärnten nach dem „Abwehrkampf“ 1921 vorläufig weitgehend abgeschlossen. In demselben Jahr schlossen beide Staaten auch ihren innenpolitischen Aufbau formell durch die Verabschiedung von demokratischen Verfassungen ab. Ausserdem trat Ende des Jahres 1921 das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes in Kraft, wenn es auch erst ab 1923 voll funktionsfähig war.2 Der Abschluss des betrachteten Zeitraumes mit dem Jahr 1929 wurde vor allem auch zur Beschränkung des Umfangs gewählt, wenngleich sich auch am Ende der 1920er-Jahre einige relevante Veränderungen vollzogen. Dies waren vor allem die innen- und aussenpolitischen Umwälzungen im SHS-Staat nach Errichtung der „Königsdiktatur“ 1929 sowie prozedurale Anpassungen beim Minderheitenschutzverfahren, ebenso 1929. Auf die einschneidende Aufkündigung der Minderheitenschutzverpflichtungen durch Polen im Jahre 1934 wird in einem Exkurs eingegangen.
1.2 Literatur und Quellen
Zeitgenössische Quellen und Literatur
Ein Grossteil aller international minderheitenrechtlich bindenden Dokumente finden sich in den zeitgenössischen Quellensammlungen von Wintgens3 und von Kraus4 gewissenhaft zusammengetragen und kommentiert. Hilfreich sind ebenso die Annuaires5 des Völkerbundes, in welchen offizielle Verträge, Debatten und Beschlüsse des Völkerbundes zusammengefasst und mit Hintergrundinformationen versehen wurden. Die Ergebnisse offizieller Volkszählungen finden sich, ergänzt mit entsprechenden Anmerkungen sowie mit inoffiziellen Natio- nalitäten-Zählungen, bei Winkler6. In den von Ewald Ammende für den Nationalitätenkongress7 herausgegebenen „Lageberichten“8 werden die Zustände aus Sicht der Minderheiten anschaulich dargestellt. Die gesammelten Rapporte der einzelnen Minderheiten waren nicht systematisch erhoben worden, setzten unterschiedliche Akzente und könnten im Einzelnen Ungenauigkeiten aufweisen, sind aber doch überaus informationsreich und vermitteln gesamthaft wohl ein recht zutreffendes Bild.
Jüngere Sekundärliteratur
Die Minderheitenschutzverträge und das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbunds wurden in der jüngeren Zeit vor allem von C. Gütermann9 und S. Bartsch10 auf einer abstrakten Ebene analysiert. Eine grosse Bereicherung für die jüngere Forschung stellt die Arbeit von M. Scheuermann11 dar, der bei seinem Versuch, die Interaktionen aller involvierten Staaten und Minderheiten mit dem internationalen Minderheitenschutzverfahren übersichtlich aufzuarbeiten, als Erster alle relevanten Akten des Völkerbundarchivs systematisch auswertete. Ausreichend vorhanden ist gegenwärtige Literatur zur Lage der einzelnen Minderheiten in verschiedenen Staaten, worunter besonders auch die umfassende Darstellung A. Suppans12 sowie A. Kotowskis Habilitationsschrift13 beachtenswert sind. Zur Zeit noch dürftig abgedeckt sind hingegen die Interaktionen zwischen der Sowjetunion und ihren internen und externen Minderheiten im hier behandelten zeitlichen und geographischen Rahmen.
1.3 Historisch-geographischer Kontext
1.3.1 Ausgangslage im östlichen Europa zu Ende des Ersten Weltkrieges
Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs ebnete durch das Auseinanderfallen der Vielvölkerreiche in Ostmitteleuropa der Verwirklichung zahlreicher nationaler Bestrebungen den Weg. Auch die Westmächte waren an einem Staatengürtel zwischen Ostsee und Adria, einem sogenannten Cordon Sanitaire, interessiert, der sie vor dem Bolschewismus abschirmen würde.14 So gewährten sie der estnischen, lettischen, litauischen, polnischen, tschechoslowakischen und südslawischen nationalen Bewegung die Gründung eigener Staaten. Diese sollten nach dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung15 konstituiert sein, welches indes in der komplex durchwirkten ethnischen Landschaft des östlichen- und südöstlichen Europa de facto nicht umsetzbar war. Entsprechend waren alle neuen Nationalstaaten eigentlich Nationalitätenstaaten mit einem staatstragenden Volk, welches andere sprachliche, religiöse und nationale Gruppen seines Staates minorisierte. Es war absehbar, dass sich die benachteiligten Gruppen gegen eine nationale Homogenisierung durch die Titularnation wehren würden, und auch dass durch Staatsgrenzen von ihrer „Mutternation“ getrennte Minderheiten Anlass zu Revisionsforderungen geben würden. Dadurch wurden Minderheitenfragen zu einer Bedrohung für die Etablierung eines langfristig stabilen Staatengefüges in diesem Raum.16
1.3.2 Der Minderheitenschutz-Mechanismus des Völkerbunds
Um zu vermeiden, dass aus Minderheitenproblemen zwischenstaatliche Konflikte erwuchsen, verpflichteten die Siegermächte USA, Grossbritannien und Frankreich 1919 alle im ostmitteleuropäischen Raum neu- und wiederentstandenen Staaten17 sowie Rumänien, Bulgari- en, Albanien, Griechenland und die Türkei - im Gegenzug zur Gewährung ihrer staatlichen Souveränität - zur Subsumption unter ein Minderheitenschutzabkommen unter der Garantie des Völkerbunds. Darin waren Normen festgelegt, welche die Minderheiten vor Diskriminierung schützen und ihre Rechtsgleichheit sowie den Gebrauch ihrer Muttersprache imBildungswesen und im Ämterverkehr sicherstellen sollten.
Eine Minderheitenpolitik im Sinne dieser Direktiven setzten dann aber nur Estland völlig und Lettland bis zu einem gewissen Grad um. Alle anderen verpflichteten Staaten strebten mit grosser Selbstverständlichkeit ungeachtet der Vertragsbestimmungen eine sprachliche, kulturelle und religiöse Homogenisierungspolitik an.
Die Einhaltung der Minderheitenrechte sollte der Völkerbund über ein Beschwerdeverfahren garantieren: Mitglieder des Völkerbundrates oder aber Opfer von staatlichen Repressalien konnten das Völkerbunds-Sekretariat mit Beschwerden auf Vertragsverletzungen aufmerksam machen. Nach einer Zulässigkeitsprüfung befand ein „Dreierkomitee“ darüber, ob tatsächlich eine Vertragsverletzung vorlag. Das Dreierkomitee konnte die Beschwerde fallen lassen, die Minderheitensektion des Sekretariats zu informellen und vertraulichen Gesprächen mit der Regierung veranlassen, oder die Petition mit Empfehlungen zum weiteren Vorgehen an den Rat weiterleiten. Charakteristisch für das Verfahren waren eine generell überlegende Position der Regierungen gegenüber den Beschwerdeführern18 und eine ausschlaggebende Entscheidungsautonomie des Direktors des Völkerbundrats. In der Praxis wurde mit grosser Regelmässigkeit - bisweilen grob - von der offiziellen Prozedur abgewichen.
Da das Minderheitenschutzsystem in erster Linie einen politischen Mechanismus - und nicht etwa einen humanitären - darstellte, versuchte man immer einen für alle Seiten akzeptablen Kompromiss zu erzielen. Es besteht Einigkeit darüber, dass die Erfolge zugunsten der Minderheiten marginal waren; dagegen wird die Effektivität des Verfahrens in Hinblick auf sein primäres Ziel, nämlich die Konfliktvermeidung, im aktuellen historischen Diskurs unterschiedlich bilanziert. Während die meisten Autoren von einem völligen Scheitern des Systems ausgehen, betonen andere19 positive Aspekte einer gemessen an den historischen Umständen intensiven Zusammenarbeit zwischen den Regierungen und dem Völkerbund. Dafür, dass das System seine Wirksamkeit kaum entfalten konnte, waren aber letztlich weder die Unzulänglichkeiten der Verträge noch des Verfahrens entscheidend, sondern das unwillige Verhalten der verpflichteten Regierungen.
2 AUSGESTALTUNG DES MINDERHEITENSCHUTZES
2.1 Polen
Für Polen stellten Minderheitenfragen während der Zwischenkriegszeit ein gravierendes innen- und aussenpolitisches Spannungsfeld dar, das auch die internationale Bühne regelmässig vereinnahmte. Die nationalen Minderheiten in Polen wiesen mit fast einem Drittel nicht nur einen besonders hohen Anteil aus, sondern waren auch problematisch zusammengesetzt.
2.1.1 Minderheitenstruktur zu Ende des Ersten Weltkrieges
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1 (oben): Bevölkerungsstruktur der Republik Polen, nach offiziellem Zensus von 1921. Klassifiziert nach individueller Einschätzung der Nationalität. Exklusive der Bevölkerung des 1921 nochungeteilten Oberschlesiens.
Zahlen nach: Winkler: Statistisches Handbuch, S. 180-193.
Die sehr grosse Ukrainische Minderheit vor allem in den ehemals habsburgischen Gebieten strebte aktiv die Separation an. Die Deutschen in Posen und Pommerellen, die ehemals das Staatsvolk stellten, waren zu einer Minderheit degradiert worden. Vor dem Hintergrund der internationalen Beziehungen spielte besonders die deutsche Minderheit eine essentielle Rolle. Es war - nicht ohne Grund - zu befürchten, dass diese für die revisionistischen Absichten des Deutschen Reichs instrumentalisiert werden dürften. Ebenso war klar, dass die Vorgänge in den ehemals ostpreussischen Gebieten die Beziehungen zu Deutschland bestimmen würden. Aber auch das Verhältnis zu den anderen Minderheiten war problembeladen, unter anderem durch die territorialen Konflikte mit Litauen (Wilnagebiet) und mit der Tschechoslo - wakei (Teschener Gebiet).
2.1.2 Minderheitenschutzabkommen unter Garantie des Völkerbunds
Für Polen galten die Minderheitenschutznormen, zu deren Einhaltung es sich im Rahmen des internationalen Minderheitenrechts unter Garantie des Völkerbundes gegenüber den Alliierten am 28. Juni 1919 vertraglich verpflichtet hatte. Polen hatte sich entschieden gegen die Einführung der Minderheitenschutzverträge gewehrt, da es um seine staatliche Souveränität fürchtete, zumal andere Staaten, namentlich auch Deutschland, nicht in die Pflicht genommen worden waren. Schliesslich musste es sich aber dem Vorhaben der Siegermächte fügen. Zusätzlich galt für das geteilte Oberschlesien ein bilaterales Abkommen mit Deutsch- land, die sogenannte Genfer Konvention von 1922, welche den Minderheiten eine gewisse kulturelle und vor allem wirtschaftliche Teilautonomie zusicherte.20
In seiner Substanz enthielt der Minderheitenschutzvertrag Bestimmungen,21 welche die Minderheitenangehörigen als solche vor jeglicher Form von staatlicher Diskriminierung schützen sollten (Art. 2 u. 7). Der Signatarstaat musste muttersprachlichen Unterricht für die Minderheiten sicherstellen und ihnen in ihrer freien kulturellen Betätigung entgegenkommen (Art. 8-9). Weiter waren umfassende Optionsrechte bezüglich der Staatsbürgerschaft vorgesehen (Art. 3-6). Der Signatarstaat hatte diese Klauseln auf Verfassungsebene sinngemäss umzusetzen (Art. 1). Die Verpflichtungen standen unter der Garantie des Völkerbunds und im Falle von Streitigkeiten hatte der Ständige Internationaler Gerichtshof das letzte Wort (Art. 12).
Diese Struktur wurde im Wesentlichen für alle im internationalen Minderheitenrecht involvierten Staaten gleichartig übernommen und mit spezifischen Vorschriften ergänzt, welche auf historische, kulturelle und strukturelle Eigenheiten derjeweiligen Staaten eingingen.22
2.1.3 Minderheitenpolitik Polens 1921-1934
Motivation und Ziele
Die starken Minderheiten standen den polnischen Ambitionen23 zur Verwirklichung eines homogenen Nationalstaats nach über 150 Jahren Unabhängigkeitsstreben entgegen. Daraus ergab sich das grundsätzliche Ansinnen, diese entweder zu assimilieren oder aber zu verdrängen. Natürlich standen nicht alle Lager hinter dieser Konzeption - z.B. setzte sich die Kommunistische Partei Polens in einem gewissen Rahmen für die kulturelle Autonomie der Minderheiten ein24 - aber grundsätzlich entsprach sie in den 1920er-Jahren den Zielen der regierenden Macht.
Weiter prägten vorrangig sicherheitspolitische Vorstellungen den Umgang mit den Minoritäten. Entscheidend war vor allem, dass die ukrainische, die deutsche, die weissrussische, die litauische und die tschechoslowakische Bevölkerung Polens an konnationale Staaten angrenzte. Für den polnischen Zentralstaat war es daher besonders schwierig, deren Kontrolle und Loyalität sicherzustellen, um die ohnehin umstrittenen Grenzen zu legitimieren.
Innenpolitisch war auch die breite gesellschaftliche Rezeption des „Minderheitenproblems“ entscheidend. In der Mehrheitsbevölkerung war der Glaube verankert, dass Deutsche der polnischen Nation gegenüber grundsätzlich feindlich gesinnt seien.25 Aus der historischen Rolle der Deutschen als dominierendes Staatsvolk ergab sich ein latentes Vergeltungsbedürfnis. Die - begrenzt berechtigte - allgemeine Wahrnehmung einer wirtschaftlichen Supe- riorität26 der deutschen (undjüdischen) Minderheit schürte diese Ressentiments zusätzlich.
Es gelang Polen trotz mehrerer Versuche zu keinem Zeitpunkt, eine umfassende und auf allen politischen Ebenen gleichgerichtete Politik gegenüber seinen Minderheiten zu institutionalisieren.27 Zudem hielten sich die lokalen Autoritäten bisweilen nicht an die Weisungen.28
Unsystematische Assimilierungspolitik
Generell setzten die Behörden in den ersten Jahren der Republik besonders gegenüber den Deutschen, Ukrainern und Weissrussen in den Grenzgebieten auf eine aggressive Assimilierungspolitik oder aber, im Falle der Juden, auf deren Isolierung.29 Die Assimilierung wurde an erster Stelle durch eine Unterdrückung der Minderheitensprachen in der Bildung sowie im Behörden- und Wirtschaftsverkehr zu erstrebt. Zudem sollten Ansiedlungen und der gezielte Aufbau von wirtschaftlicher Konkurrenz die Stellung der Deutschen schwächen.
Polonisierung, Pazifizierung, Entdeutschung
Die Regierungen ab 1923 hielten die Assimilierung der Minderheiten für gescheitert und forderten einen härteren Kurs unter Stichworten wie „Pazifizierung“ der Ukrainer30 und „Entdeutschung“. Diese Politik äusserte sich mitunter in der Liquidation von MinderheitenOrganisationen, in zahlreichen politischen Verurteilungen, in Enteignungen und in breit angelegten Vertreibungen.31 Im Allgemeinen stiessen solche Massnahmen bei der polnischen Bevölkerung auf breiten Zuspruch.32
[...]
1 Dem sogen. SHS-Staat; ab 1929 offiziell Jugoslawien, wobei dieser Begriff schon früher gebräuchlich war.
2 Bartsch, Sebastian: Minderheitenschutz in der internationalen Politik. Völkerbund und KSZE/OSZE in neuer Perspektive, Diss., Opladen 1995, S. 91-96.
3 Wintgens, Hugo (Hg.): Der völkerrechtliche Schutz der nationalen, sprachlichen und religiösen Minderheiten. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Minderheiten in Polen, in: Handbuch des Völkerrechts, Bd. 2, Abt. 8, Stuttgart 1930.
4 Kraus, Herbert (Hg.): Das Recht der Minderheiten. Materialien zur Einführung in das Verständnis des modernen Minoritätenproblems, Berlin 1927. Zit. als: Kraus: Das Recht der Minderheiten.
5 Annuaire de la Société des Nations 1920-1927, 1928, 1929, 1930, 1931, 1932, 1933, 1934, hg. v. Georges Ottlik, 8 Bde., Genf 1927-1933. Zit. als: Annuaire de la Société des Nations.
6 Winkler, Wilhelm (Hg.): StatistischesHandbuchdereuropäischenNationalitäten, Wienu. Leipzig 1931. Zit. als Winkler: Statistisches Handbuch.
7 Der „Europäische Nationalitätenkongress“ war eine private Vereinigung mit dem Ziel, den Minderheiten ein internationales Podium zum Austausch und zur Verbreitung ihrer Forderungen zu bieten.
8 Die Nationalitäten in den Staaten Europas. Sammlung von Lageberichten, hg. im Auftrage des europäi- schenNationalitäten-KongressesunterRedaktionv. Ewald Ammende, Wienu. Leipzig 1931. Zit. als: Lageberichte. Dazu Bamberger-Stemmann: DerEuropäischeNationalitätenkongreß 1925 bis 1938, S. 216f.
9 Gütermann, Christoph: Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes, Berlin 1979.
10 Bartsch: Minderheitenschutz in der internationalen Politik.
11 Scheuermann, Martin: Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren, Marburg 2000.
12 Suppan, Arnold: Jugoslawien und Österreich 1918-1938. Bilaterale Aussenpolitik im europäischen Umfeld, München 1996.
13 Kotowski, Albert S.: Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919-1939, Habil., Wiesbaden 1998.
14 Vgl. Bamberger-Stemmann, Sabine: Funktionen und Anwendungen des Minderheitenschutzes in der Zwischenkriegszeit. Überlegungen zu einem Strukturvergleich, in: Lemberg, Hans; Marek, Michaela; Benes Zdenek; Kovác, Dušan: Suche nach Sicherheit in stürmischer Zeit. Tschechen, Slowaken und Deutsche im System der internationalen Beziehungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Essen 2009, S. 109-111.
15 Vgl. dazu u.a. Kroll, Frank-Lothar: Vertreibung und Minderheitenschutz im 20. Jahrhundert; in: Kroll, Frank-Lothar; Niedobitek, Matthias: Vertreibungen und Minderheitenschutz in Europa, Berlin 2005, S. 5f.
16 Ausführlich dazu Bartsch: Minderheitenschutz in der internationalen Politik, S. 63-175; Scheuermann: MinderheitenschutzcontraKonfliktverhütung?, S. 18-51 u. 377-499; sowie Gütermann: DasMinderheiten- schutzverfahren des Völkerbundes, S. 66-68. Zum offiziellen prozeduralen Verfahren vgl. auch: Annuaire de la Société des Nations 1920-1927, S. 66-68.
17 also Estland, Lettland, Litauen, Polen, Österreich, Ungarn, die Tschechoslowakei und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen
18 In aller Regel wurden diese vom Verfahren völlig ausgeschlossen. Sie waren nicht einmal über die Zulässigkeitskriterien in Kenntnis gesetzt. Z.B. wussten die Petenten nicht, dass sich eine Beschwerde nur an eine Regierung richten durfte, was u.a. zur Unzulässigkeit etlicher Petitionen der Bulgaren führte, die mehrere Staaten im geteilten Gebiet Makedoniens betrafen. Vgl. Scheuermann: Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung?, S.262.
19 So etwa Bartsch: Minderheitenschutz in der internationalen Politik, vgl. insbesondere S. 114fu. 129; ebenso Gütermann: Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes, vgl. S. 325-327.
20 Dieses Abkommen unterschied sich in einigen zentralen Aspekten erheblich von den Minderheitenschutzverträgen mit Völkerbund. Es begrenzte durch die Gegenseitigkeit und eine hohe Regelungsdichte generell den Spielraum für Pflichtverletzungen, weshalb gewisse Erfolge erzielt wurden. Vgl. u.a. Greiling, Christian: LaMinorité Allemande de Haute-Silésie 1919-1939, Paris, Budapestu. Torino 2003, u. Von Frentz, Christian R.: A Lesson Forgotten. Minority Protection under the League ofNations. The Case of the German Minority in Poland 1920-1934, New York 1999, S. 73-84.
21 Für den genauen Wortlaut vgl.: Vertrag zwischen den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten und Po len, abgeschlossen zu Versailles am 28. Juni 1919, zit. in: Kraus: Das Recht der Minderheiten, S. 50-59.
22 Für Polen betrafen diese diejüdische Bevölkerung: insbesondere wurdejüdischen Gemeinden Freiheiten bei der Verteilung von öffentlichen Geldern zur Unterstützung von Schulen (Art. 10), sowie die Respektierung des Sabbats, an dem namentlich keine Wahlen abgehalten werden sollen (Art. 11), zugestanden.
23 Vgl. Bamberger-Stemmann: DerEuropäischeNationalitätenkongreß 1925 bis 1938, S. 44.
24 Kotowski: Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919-1939, S. 83-87.
25 Kotowski: Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919-1939, S. 88.
26 Vgl. Von Delhaes, Karl: Zur Frage wirtschaftlicher Macht nationaler Minderheiten in Industrie, Handel und Bankenwesen Polens während der Zweiten Republik, in: Lemberg, Hans (Hg.): Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen (1918-1939). Stärke und Schwäche der neuen Staaten, nationale Minderheiten, Marburg 1997, S. 269-283.
27 Kotowski: Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919-1939.
28 Dieser Sachverhalt unterwanderte u.a. auch die seltenen obrigkeitlichen Bemühungen zu Verbesserungen der Lage der Minoritäten. Vgl. z.B. ebd., S. 95; ebenso Scheuermann: Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung?, S. 89, 108, 122 u. 126.
29 Scheuermann: Minderheitenschutzcontra Konfliktverhütung?, S. 98-192.
30 Bamberger-Stemmann: DerEuropäischeNationalitätenkongreß 1925 bis 1938, S. 45.
31 Vgl. auch unten zur Agrarreform, zum Optanten- und zum Ansiedlerfall. Diese Aktionen resultierten in einer Abnahme von über 250'000 Deutschen in zehn Jahren gegenüber 1921.In gewissen Regionen waren die Deutschen ganz verschwunden. Vgl. Von Frentz: A Lesson Forgotten, S. 171.
32 Kotowski: Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919-1939, S. 94f.
- Arbeit zitieren
- Remo Wasmer (Autor), 2011, Die Minderheitenpolitik in Polen und im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen in den 1920er-Jahren im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/179093
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