Leseprobe
„Bitterfelder Weg“ – Arbeiterbilder in der Literatur
DDR-Schriftsteller und ihre Ankunft im Alltag
„Das Bitterfelder Programm, ‚Greif zur Feder, Kumpel‘, war ja ganz einsichtig, heraus kam eine Parodie, Domestizierung statt Klassenemanzipation. Auch eine ABM für erfolglose Schriftsteller“1. So beschrieb der 1995 verstorbene Dramatiker Heiner Müller den 1959 in der DDR eingeschlagenen „Bitterfelder Weg“. Für viele Schriftsteller, Intellektuelle und Künstler stellte der „Bitterfelder Weg“ einen entscheidenden Einschnitt in ihrer künstlerischen Vita dar.
Im Kern dieses Essays soll die Frage stehen, welche Grundforderungen die Politik seit der Bitterfelder Konferenz an Schriftsteller wie auch Arbeiter stellte und inwiefern sich die Forderungen dieser politischen Agenda in den Werken des literarischen Zeitgeschehens wiederspiegeln. Dabei steht zunächst die Bitterfelder Konferenz selbst im Mittelpunkt. Ausgehend von den Prämissen der Konferenz stellen die lebensweltliche Realität der Arbeiter sowie die Schilderungen dieser Eindrücke in Form von Literatur den Kernpunkt der Betrachtung dar.
Die Bitterfelder Konferenz 1959 und ihre Forderungen
Am 24. April 1959 sollte ein Ruck durch die Autorenschaft der DDR gehen. Alfred Kurella, Leiter der Kulturkommission des Politbüros des ZK, hielt in Bitterfeld unter der Losung „Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht dich!“ das Hauptreferat der Konferenz. Den 680 anwesenden Teilnehmern, darunter etwa 200 ausgesuchte Arbeiter aus Produktionsbetrieben, 207 Schriftsteller sowie Kritiker und Parteifunktionäre2, musste schnell klar werden: Hier geht es um den gesamten Wandel des Arbeits- und Alltagslebens. Dabei forderte man zum einen die Aufhebung der historisch fixierten Trennung zwischen körperlicher und künstlerischer Arbeit und zum anderen die Mobilisierung der „arbeitenden Massen“ auf kulturellem Gebiet3. Zweifellos waren diese Kernpunkte nicht neu. Bereits seit 1951 sahen sich Schriftsteller und Schriftstellerinnen in der DDR mit der Forderung konfrontiert in Betriebe zu gehen und sich dort Kenntnisse über den Aufbau des Sozialismus sowie die Herausbildung des „Neuen Menschen“ anzueignen. Seit 1958 existierte im Ministerium für Kultur die neue Hauptabteilung „Örtliche Organe, Inspektion, Grundsatzfragen kultureller Massenarbeit“, welche die angestrebte Kampagne systematisiert hatte4. Im zweiten Halbjahr des Jahres 1958 begann dann eine Phase der intensiven Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium für Kultur, dem DSV (Deutscher Schriftstellerverband) und den Verlagen für Gegenwartsliteratur. Die eigentliche Bitterfelder Konzeption wurde dann im Dezember des gleichen Jahres in Lauchhammer geboren, als man bei der Auswertung der Aktion „Kunst hilft Kohle“ die Notwendigkeit feststellte, Themen aus dem Arbeitsalltag der Chemie literarisch zu behandeln. Das eigentliche Ergebnis der Bitterfelder Konferenz 1959 war dann lediglich die öffentliche Präsentation des Konzepts unter dem Leitbild der „sozialistischen Kulturrevolution“5.
Der eigentliche Hauptinitiator der Bitterfelder Konferenz von 1959, Otto Gotsche, kam allerdings selbst nicht zu Wort. Zu rigoros schien seine Feststellung, nahezu alle in der DDR ansässigen Schriftsteller seien nicht ausreichend mit der Arbeiterklasse verbunden gewesen6. Doch seine Forderungen, die Tätigkeit und der Wirkungsraum der Schriftsteller sollen sich auf die Industriezentren verlagern, fand auch in den obersten Reihen der Partei Zuspruch. Walter Ulbricht konstatierte bereits Mitte März, einen Monat vor der Konferenz: „Man braucht nur in die Betriebe zu gehen, in die Arbeitersiedlungen von Buna und Leuna, da kann man alles erfahren. Sie [die Schriftsteller] brauchen nur die Augen und Ohren aufzumachen, weiter gar nichts, und das richtige Empfinden für das neue“7. Dieses klischeehafte Verständnis von Literatur und literarischer Arbeit war innerhalb der Partei durchaus verbreitet. Auch die voraussichtlich erwarteten Ergebnisse der Konferenz durch das Ministerium für Kultur waren optimistisch. Man erhoffte sich nicht weniger als die Verlagerung der „Schriftsteller an die Zentren der Produktion, […] [die Entwicklung] des Typs des schreibenden Arbeiters […] [sowie] die führende Rolle der Arbeiterklasse in der literarischen Entwicklung durchzusetzen“8. Diese Forderungen schienen aus Parteisicht keineswegs illusorisch, immerhin sollte die führende Klasse des alltäglichen Lebens nun auch zur führenden Klasse des kulturellen Lebens werden. Der Schriftsteller hingegen, so der Vorwurf, bediene sich in seiner Kritik an Missständen eines spätbürgerlichen Habitus‘ und müsse sich nun aktiv am Aufbauprozess des Sozialismus‘ beteiligen9. Doch auch viele der anwesenden Zuhörer erkannten die schiere Utopie des Vorhabens und witzelten angeblich bereits während Kurellas Vortrag über den „Bitteren Feldweg“.
Arbeitende Schriftsteller und schreibende Arbeiter
Nach der Bitterfelder Konferenz war die Losung für beide Seiten klar. Ulbrichts Forderung, die Arbeiter müssten nun auch „die Höhen der Kultur stürmen und von ihnen Besitz ergreifen“10 konnte unmissverständlicher nicht sein. Die Schriftsteller, auf der einen Seiten, waren dazu angehalten worden in die Betriebe zu gehen, dort körperliche Arbeit fremd mitzuerleben oder selbst auszuüben und diese Erfahrungen zu verschriftlichen. Die Arbeiter aus den Produktionsstätten, auf der anderen Seite, sollten sich von nun an neben ihrer Tätigkeit im Betrieb künstlerisch, zumeist in den „Zirkeln Schreibender Arbeiter“, betätigen und ihren (Arbeits)Alltag literarisieren. Die Zwecke dieses Versuchs waren vielfältig. Grundsätzlich sollte das Bitterfelder Modell die Künstler an die ökonomische Basis des Staates binden und die Produktionskräfte in den kulturellen Bereichen involvieren11. Diese Bindung der Schriftsteller sollte im Weiteren eine intensivere ideologisch-politische Einbindung und Kontrolle des literarischen Establishments fördern. Die Verstärkung des sozialistischen Charakters der literarischen „Produktionen“ sollte außerdem in schriftstellerisch-künstlerischem Nachwuchs aus den Reihen der Arbeiter resultieren. Die Initiative der Parteiführung war auf die Hilfe fähiger Literaten angewiesen, die sie durch restriktive Maßnahmen als Folge des XX. Parteitages der KPdSU und des IV. Schriftstellerkongresses geradezu verängstigt hatten12.
Die Initiative „Greif zur Feder, Kumpel“ bot durchaus positive Anreize für beide Seiten. Der Kulturfunktionär Hans Koch stellte 1964, fünf Jahre nach der Bitterfelder Konferenz, fest, dass ein „enges Bündnis unter Führung der Arbeiterklasse zwischen Arbeitern, Genossenschaftsbauern und Kulturschaffenden hergestellt“13 worden sei. Diese ideologisch gefärbte Formulierung trifft im Kern zu. Durch die Integration von Künstlern, die sowohl in den Betrieben recherchierten wie auch die Arbeiter in den Zirkeln anleiteten, wurde die Bewegung schnell zum Erfolg. Innerhalb der Laienbewegung entstand in der Tat eine große Vielfalt, die von der Bewegung Schreibender Arbeiter, über organisierte Arbeiterfestspiele bis hin zu Versammlungen in den Zentralhäuser für Kulturarbeit (wie beispielsweise in Leipzig) reichte14. Kunst wurde sowohl von der Partei als auch im Wirtschaftsleben eine enorme Bedeutung zugemessen. Mittenzwei konstatiert dazu: „Daß sich Menschen jetzt mit Literatur, Malerei und Theater beschäftigten, wertete man als Beitrag zur Produktion, ging in die Wettbewerbsverpflichtungen der Betriebe ein“15. Für die Schriftsteller war die Arbeit „an der Basis“ ebenfalls durchaus reizvoll. Sie konnten hautnah verschiedene Milieus und Realkonstellationen kennenlernen und diese Kenntnisse als Recherchegrundlage für ihre Arbeiten nutzen. Zusätzlich bot die Aussicht auf eine Aufbesserung des Schriftstellergehaltes in Form eines Betriebsvertrages und die Chance auf eine eigene Wohnung nah am Recherche- und Arbeitsort weitere Anreize.
Die konkrete Darstellung des Arbeiterbildes innerhalb der Literatur des „Bitterfelder Weges“ gestaltet sich schwierig. Viele Bücher, die im Rahmen Bitterfelds entstanden sind, wurden von der Literaturkritik häufig als „Ankunftsliteratur“ kategorisiert und ihr Einfluss irgendwo zwischen dem Beginn der „Lesenation DDR“ und einer Beschäftigungstherapie mit Ventilfunktion für Werktätige16 angesiedelt. Prinzipiell beginnt mit der Konferenz 1959 vor allem während der 1960er Jahre eine Blütezeit der Konstruktion verschiedenster Arbeiterbilder in Kunst und Literatur. So durchläuft die Arbeiterfigur in der DDR-Literatur der späten 40er und gesamten 50er Jahre meist einen einigermaßen historisierten Werdegang, der mit dem Aufbau oder Wiederaufbau der Produktionsstätte korrespondiert, bis die Figur merkt, dass der Aufbau des Sozialismus seine Sache sei17. Arbeit wurde als oberster Wert geschätzt und Ehrentitel wie „Held der Arbeit“ untermauerten diesen Ausnahmestatus. Die Literatur der 1950er und 60er Jahre hatte dabei maßgeblichen Anteil an dieser Stilisierung. Insgesamt wurde der kulturrevolutionäre Impuls des „Bitterfelder Weges“ von den Autoren und Autorinnen mehrheitlich als Neuansatz „im Sinne der Demokratisierung der Arbeitswelt“18 verstanden und als solcher klar unterstützt. Für die Entstehung einer echten sozialistischen Literatur war die Koproduktion von Schriftstellern und Arbeitern unerlässlich. Mit Ende der 50er Jahre, indirekt durch die Bitterfelder Maxime und direkt durch die gemachten Erfahrungen, gewinnt die literarische Darstellung der Arbeiterfigur zunehmend kritische Tendenzen.
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1 Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Frankfurt am Main 2009, S. 119.
2 Vgl. Krenzlin, Leonore: Soziale Umschulung und neuer Lebensstil. Der „Bitterfelder Weg“ und ein Blick auf Brigitte Reimann. In: Badstübner, Evemarie (Hrsg.): Befremdlich anders. Leben in der DDR. Berlin 2000, S. 539.
3 Vgl. Aust, Ulf: s. v. Bitterfelder Weg. In: Opitz, Michael/Hofmann, Michael (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart 2009, S. 41-42.
4 Vgl. Lokatis, Siegfried: Der Aufstieg des Mitteldeutschen Verlages (MDV) auf dem „Bitterfelder Weg“. In: Barck, Simone/Langermann, Martina/Lokatis, Siegfried (Hrsg.): „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin 1997, S. 148.
5 Vgl. Ebd., S. 149.
6 Vgl. Krenzlin, Leonore: Soziale Umschulung und neuer Lebensstil, S. 540.
7 SAPMO-BArch, NY 4182/587, Bl. 10, zitiert nach: Ebd., S. 543.
8 BA DY 30, IV2/9.06/259, S. 9f., Abt. Kultur an die Sekretäre für Kultur der Bezirksleitungen, 13.04.1959, zitiert nach: Lokatis, Siegfried: Der Aufstieg des Mitteldeutschen Verlages (MDV) auf dem „Bitterfelder Weg“, S. 145.
9 Vgl. Aust, Ulf: s. v. Bitterfelder Weg, S. 42.
10 Ulbricht, Walter: Der Kampf für den Frieden, für den Sieg des Sozialismus und für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer Staat. Referat auf dem V. Parteitag der SED. Berlin 1958, S. 120, zitiert nach: Barck, Simone/Mühlberg, Dietrich: Arbeiter-Bilder und Klasseninszenierung in der DDR, S. 170.
11 Vgl. Groth, Joachim-Rüdiger: Widersprüche – Literatur und Politik in der DDR 1949-1989. Zusammenhänge – Werke – Dokumente. Frankfurt am Main 1994, S. 55.
12 Vgl. Krenzlin, Leonore: Soziale Umschulung und neuer Lebensstil, S. 543.
13 Koch, Hans: Fünf Jahre nach Bitterfeld. In: Neue Deutsche Literatur. 12. Jahrgang, Heft 4/April 1964, S. 8.
14 Barck, Simone/Mühlberg, Dietrich: Arbeiter-Bilder und Klasseninszenierung in der DDR. Zur Geschichte einer ambivalenten Beziehung. In: Hübner, Peter/Kleßmann, Christoph/Tenfelde, Klaus (Hrsg.): Arbeiter im Staatsozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit. Köln 2005, S. 173.
15 Mittenzwei, Werner: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 bis 2000. Berlin 2003, S. 168.
16 Vgl. Aust, Ulf: s. v. Bitterfelder Weg, S. 42.
17 Vgl. Heukenkamp, Ursula: Proletarisch – Sozialistisch – Arbeiterlich? Arbeit und Arbeiter in der DDR-Literatur. In: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft. Heft 15, 2006, Berlin 2006, S. 68.
18 Ebd., S. 69.