Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Klärung des Begriffes Austerity
2. Austerity im Kontext der wirtschaftlichen, sozialen und wirtschaftspolitischen 5 Situation Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg
3. Das Vorgehen zur Lenkung der Nachfrage nach Nahrungsmitteln: Das System Beveridge während des Ersten Weltkrieges als Vorbild
4. Nahrungsmangel als Grund für die Rationierung in der Nachkriegszeit
5. Austerity im Verhältnis zum Programm der Labour-Partei
6. Austerity im Kontext des wirtschaftlichen Wiederaufbaus
7. Soziale Akzeptanz und Vermittelbarkeit der Rationierung
8. Austerity als Lösungsstrategie: Ein Erfolg?
9. Die Abschaffung der Austerity als Gegenstand politischer Kontroversen
10. Fazit und Ausblick
Bibliographie
Einleitung
„Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.“1 „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.“2 „Der ersparte Pfennig ist redlicher als der erworbene.“3 Sprichwörter wie die- se sagen aus, dass der einzelne Mensch sparsam mit seinem Besitz umgehen soll. Auch der Staat als größeres Gemeinwesen hat ein Interesse daran, vorsichtig zu wirtschaften. Heutzutage hat z.B. die Bundesrepublik Deutschland eine Schuldenbremse in der Verfassung verankert4, wenngleich diese als Lösungsstrategie umstritten ist5. In Kriegsphasen und den Jahren danach müssen Staaten des Öfteren nicht nur selbst eine besonders sparsame Haushaltspolitik betreiben, sondern auch bestimmte Güter rationie- ren, wenn die Nachfrage über einen längeren Zeitraum das Angebot überschreitet; die Gefahr ist in solchen Phasen eher gegeben als in stabilen Friedenszeiten6. Diese Hausar- beit wird klären, weshalb in Großbritannien welche Rationierungsmaßnahmen speziell im Hinblick auf Nahrungsmittel noch nach dem Zweiten Weltkrieg erforderlich waren, ob diese eine Besonderheit der Jahre nach dem Kriege darstellten und welche Sichtweisen auf die Rationierung der Lebensmittel in der politischen Diskussion und in der Bevölke- rung möglich waren. Wenngleich die Rationierung nicht nur Nahrung, sondern auch Klei- dung, das Hauswesen, Produkte für den Bedarf von Kindern, Kosmetik und Öl betraf7, soll der Schwerpunkt in dieser Arbeit auf Nahrungsmitteln liegen, weil sie in jeder Kultur fürs menschliche Überleben unabdingbar sind.
Bisherige Veröffentlichungen stellen fest, dass die Rationierung in vielen Ländern mit Be- ginn des Zweiten Weltkrieges oder früher einsetzte, eine starke staatliche Einmischung in die Wirtschaft darstellte und viele Menschen zu einer Sparsamkeit zwang, die diese gar nicht leben konnten oder wollten; dementsprechend suchten sie auch nach Möglichkeiten, die Vorschriften etwa durch den Schwarzmarkt zu umgehen. Das war auch in Großbritan- nien der Fall8. Einige Behörden hatten die hauptsächliche Aufgabe, die Rationierung durchzusetzen, und es ist unklar, ob die Regierung die gewünschte Sparsamkeit seitens der Bevölkerung immer erreichen konnte9. Zudem ist davon auszugehen, dass sich ein staatlicher Sparkurs auch auf den Städtebau auswirkt, zumal in Phasen der Rationierung auch die Städte kleiner geplant werden müssen10. Als nahezu gesichert gilt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Staatsverschuldung Rekordwerte erreicht hatte und die Regie- rung Attlee allein deshalb nicht auf einen rigiden Sparkurs verzichten konnte11 ; anderer- seits sahen einige Politiker darin auch die positiv zu verstehende Herausforderung, ein neues Großbritannien aufzubauen12. Der wirtschaftliche Verfall, dem Großbritannien aus- gesetzt war, war ein längerfristiger Prozess, der schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte. Da dieser Verfall bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg anhielt und das Land dann wirtschaftlich am Boden lag, glaubten Pessimisten am Anfang der 1950er Jah- re gar, dass sich Großbritannien kurz vor dem Staatsbankrott befinde. Dies war unter an- derem eine Folge der hohen Militärausgaben und somit geeignet, die militärischen Erfolge des Königreiches zu schmälern13. Jedoch war die Sparsamkeit als Notwendigkeit weder ein Spezifikum Großbritanniens noch eines der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Denn De- batten darüber, welche Ausgaben sich der Staat leisten könne, wurden z.B. auch in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland geführt, wobei die Verfassungs- konformität der Staatsausgaben in Frage gestellt wurde14. Eine Besonderheit stellte viel- mehr das Ausmaß der Verschuldung und der damit verbundenen Notwendigkeit zum Spa- ren dar.
Dieser Überblick zeigt, dass es sich um ein sehr komplexes wirtschaftspolitisches und -historisches Thema handelt, zusätzlich zu der kontrovers zu diskutierenden Frage, welcher Sparkurs vertretbar und vermittelbar ist und ab wann Widerstand in der Bevölkerung befürchtet werden muss.
1. Klärung des Begriffes Austerity
Austerity als englischer Ausdruck für Entbehrung, Knappheit, Sparpolitik, Sparkurs oder Strenge15 ist in diesem Kontext so zu verstehen, dass die Sparsamkeit immer auf einen staatlichen Eingriff, d.h. einen Gesetzesbeschluss, zurückgehen muss und somit das gan- ze Gemeinwesen betrifft16. Zudem soll hier der Aspekt berücksichtigt werden, dass diese Sparsamkeit als Sachzwang in allen Lebensbereichen gleichermaßen wirkt. Ab welchem Grad von Austerity gesprochen werden kann, ist nicht definiert, d.h. eine eindeutige zah- lenmäßige Grenze gibt es nicht, wohl aber Einzelmaßnahmen, die ein Gesamtbild erge- ben können.
2. Austerity im Kontext der wirtschaftlichen, sozialen und wirtschaftspolitischen Situation Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg war noch keinesfalls gesichert, dass vergleichbare Konflikte in Europa längerfristig nicht mehr auftreten würden; zudem wurde unter anderem in Asien noch weiter gekämpft. Die britische Regierung unter Winston Churchill wollte offensichtlich stabilen und sicheren Frieden erreichen und gleichzeitig verhindern, dass sich Massenarbeitslosigkeit, Armut und soziale Spannungen, wie es sie in der Zwischenkriegszeit gegeben hatte, wiederholen17. Diesbezüglich sollte ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit erfolgen, obwohl dieselben Parteien, Gewerkschaften, Vereine und Behörden weiter existierten. Von einem vollständigen Neuanfang in allen Lebensbereichen kann daher nicht gesprochen werden, wohl aber davon, dass ein Wohlfahrtsstaat errichtet werden sollte mit dem Ziel, soziale Probleme nicht mehr so weit aufkommen zu lassen, dass sie gefährlich werden könnten18. Vor allem die Labour-Partei verfolgte das Ziel, alle Bürger19 von der Geburt bis zum Tode zu schützen. Im Zuge dessen konnte die Austerity als eine Einzelmaßnahme eines größeren Paketes angesehen werden, welches auf einen starken Sozialstaat ausgerichtet war und die Versorgung aller sichern sollte. Dass mit dem National Insurance Act eine für jedermann verpflichtende Sozialversicherung ins Leben gerufen wurde, war für britische Verhältnisse eine Neuheit, weil diese nun in staatlicher Hand lag und nicht mehr von privaten Versicherungen organisiert wurde. Sie ging einher mit einer Politik, deren übergeordnetes Ziel Vollbeschäftigung und hohe Steuereinnahmen waren20. In den Jahren 1946 bis 1951 kam es daher zu einer Reihe von Verstaatlichungen, von denen z.B. Banken und die Eisen- und Stahlindustrie betroffen waren. Durch sichere Beschäftigungsverhältnisse sollten Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung garantiert werden. Der politische Kurs der Verstaatlichungen stellte teilweise eine Kontinuität dar, die auch in konservativen Kreisen Unterstützung fand. Andererseits hatte Großbritannien allein bei den USA Kriegsschulden von 30 Milliarden Dollar angehäuft, auf deren Bezahlung die USA bestanden. Die Verstaatlichungen verursachten ihrerseits erneut Kosten, und Großbritannien musste zusätzlich zum Abtragen der Schulden den Wohlfahrtsstaat vom Geld seiner Steuerzahler finanzieren21. Im Jahre 1946 kam es durch einen harten Winter zu Versorgungsengpässen bei der Brotlieferung, was der Bevölkerung und der Regierung Sorge verursachte. Diese Probleme erforderten Opfer von den Bürgern; durch Steuererhöhungen, gelenkte Investitionen, staatliche Eingriffe in die Nachfrage und Rationierung sollten die Probleme gelöst werden22. Da sich Erfolge insofern einstellten, als dass die Soldaten nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg Arbeit fanden, stieß die Politik, die auf starken staatlichen Eingriffen basierte, bis 1951 zumindest bei den Gewerkschaften auf Zustimmung. Gleichwohl blieb vor allem die Rationierung ein umstrittener Eingriff, und mit wachsender Distanz zum Krieg wuchs auch die Ablehnung gegen sie23. Auf diese soll später noch eingegangen werden.
3. Das Vorgehen zur Lenkung der Nachfrage nach Nahrungsmitteln: Das System Beveridge während des Ersten Weltkrieges als Vorbild
Während des Zweiten Weltkrieges war das Ziel der staatlichen Eingriffe hauptsächlich, der Entwicklung des unkontrollierten Konsums entgegen zu wirken. Dass die Kontrollen erst in den 1950er Jahren schrittweise abgebaut wurden, hing mit der Bestrebung zusammen, dass die knappen Mittel den Bedürfnissen aller Bürger gerecht werden sollten, und dieses Ziel schien erst einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich erreicht zu werden24. Die Kontrollen der Mengen, die konsumiert werden durften, begannen schon im Ersten Weltkrieg, nach dessen Ende wurden sie zunächst abgeschafft und im Jahre 1936 auf Initiative des Staatssekretärs William Beveridge wieder aufgenommen. Sie wurden dann von Händlern und Zivilpersonen durchgeführt und waren eine Konsequenz aus den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, d.h. Beveridge wollte verhindern, dass es im Falle erneuter Knappheit zu nicht zu bedienenden Nachfragespitzen komme25.
Für die Phase während des Ersten Weltkrieges schilderte Beveridge selbst ein System, an welches dasjenige während des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach angelehnt war. Als erster Schritt wurde ein Schema der zulässigen Verkaufspreise erstellt, als sich ein Lieferengpass beim Brot abzeichnete. Dies war ab 1914 gängige Praxis, bevor es 1916 zur Bildung einer Sonderkommission für Weizenlieferung kam. Gegen Ende desselben Jahres wurden Verkaufsagenten eingestellt, die die Menge und Qualität aller Getreidesorten zu untersuchen und zu dokumentieren hatten. Gleichzeitig wurde zu Sparsamkeit in allen Sektoren aufgerufen, die Verpflichtung hierzu bestand seinerzeit jedoch nur bezüglich des Getreides26. Beveridge stellte fest, dass z.B. bei Kartoffeln Schwierigkeiten bestanden, die staatlich vorgeschriebenen Preise durchzusetzen. Als dritter Akt sollte eine genaue Aufstellung über die Menge, die die 40 Mio. Staatsbürger jährlich aßen und tranken, erstellt werden. Sinn dessen war, dass spätestens ab Juli 1918 jedes Detail der Nahrungsversorgung kontrolliert und nichts mehr dem Zufall überlassen werden sollte; speziell Beverdige befürchtete, dass sonst die Versorgung für jedermann nicht mehr gesichert sei27. Der vierte Schritt bestand in der Bildung eines Rates, der für die Deckung der Nahrungsbedürfnisse der Alliierten und deren Streitkräfte eintreten sollte. Das eigens dafür eingerichtete Ministerium befand sich in dieser Phase in einer starken internen Krise, bevor als letzter Schritt die Kontrollen wiederum abgebaut wurden28.
Die ab 1936 erneuten Maßnahmen vollzogen sich in einem ähnlichen Phasenmodell. Brot war 1936 noch ohne Kontrollen erhältlich und sollte den Energiebedarf der Menschen vollständig decken. Die Beschränkungen führten dazu, dass die Warteschlangen ver- schwanden29, es gab jedoch auch zahlreiche Versuche, die Kontrollen zu umgehen. Allein die Registrierung bei den zuständigen Behörden stellte einen langwierigen Verwaltungsakt dar, durch den viele Menschen sich in der Gefahr sahen, nicht mehr rechtzeitig bedient zu werden30. Das Land wurde in 19 Gebiete unterteilt, die Organisation der Nahrungsvertei- lung oblag 1.400 lokalen Komitees, die die entsprechenden Dokumente teilweise mit Hilfe des Militärs an die Bevölkerung ausgaben. Die Kontrolle verfolgte das Ziel, dass jeder genug und niemand übermäßig bekommen sollte. Um die Produktion im eigenen Lande zu erhöhen, rief das Landwirtschaftsministerium die Bevölkerung dazu auf, nach Möglichkeit Nahrung für den eigenen Bedarf selbst anzubauen31. Um an den Ausgabestellen bedient zu werden, war eine Registrierung erforderlich; die Ausgabe erfolgte dann gegen Coupons und Empfangsbestätigungen. Bei der Importware wurde strenger kontrolliert als bei Produkten aus Großbritannien selbst. Demselben Ziel der fairen Verteilung dienten die Rationierungsbücher32, in denen jeder Verkaufsvorgang festgehalten werden sollte. 50 Mio. Exemplare wurden nach dem Beginn der erneuten Kontrolle verteilt33.
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1 Homepage „Sprichwort-Plattform“: http://www.sprichwort-plattform.org/sp/Spare%20in%20der%20Zeit,%20dann %20hast%20du%20in%20der%20Not [9. Mai 2011]
2 Homepage „Redensarten-Index“: http://www.redensarten-index.de/suche.php?suchbegriff=~~Wer%20den %20Pfennig%20nicht%20ehrt%2C%20ist%20des%20Talers%20nicht %20wert&bool=relevanz&suchspalte[]=rart_ou [9. Mai 2011]
3 Homepage „Gut zitiert“: http://www.gutzitiert.de/zitat_autor_martin_luther_thema_sparsamkeit_zitat_19159.html [9. Mai 2011]
4 Homepage des Bundesfinanzministeriums: http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_54180/DE/BMF__Startseite/Service/Glossar/S/031__Schuldenbremse. html [9. Mai 2011]
5 Homepage der Zeitschrift „Handelsblatt“: http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/die-schuldenbremse- reicht-nicht/4019762.html [9. Mai 2011]
6 Homepage „Wirtschaftslexikon 24“: http://www.wirtschaftslexikon24.net/d/rationierung/rationierung.htm [9. Mai 2011].
7 Ina Zweiniger-Bargielowska: „Austerity in Britain: Rationing, controls, and consumption 1939 - 1955“, Oxford 2002, S. VIII.
8 Ebd., S. 1 f.
9 Ebd., S. 10.
10 Pierre Clavel, John Forester, William Goldsmith, Sander Kelman: „New opportunities for planners“, in: Pierre Clavel et al. (Hrsg.): „Urban and regional planning in an age of Austerity“, New York 1980, S. 5 f.
11 David Kynaston: „Austerity Britan 1945 - 51“, London 2007, S. 20.
12 Ebd., S. 21.
13 Thomas Mergel: „Großbritannien seit 1945“, Göttingen 2005, S. 9 f.
14 Helga Ostendorf: „Dilemma Staatsverschuldung. Austerity-Politik in der Bundesrepublik Deutschland 1975 bis 1981“, Berlin 1987, S. 23.
15 Homepage „Leo“: http://dict.leo.org/ende?lp=ende&search=Austerity [10. Mai 2011]
16 Homepage „Dictionary“: http://dictionary.reference.com/browse/Austerity [10. Mai 2011]
17 Franz-Josef Brüggemeier: „Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert“, München 2010, S. 222 f.
18 Ebd., S. 223 f.
19 Sofern der Kontext es nicht anders erfordert, ist die weibliche Form immer mit gemeint.
20 Ebd., S. 224 f.
21 Ebd., S. 226 f.
22 Ebd., S. 228.
23 Ebd., S. 229.
24 Zweiniger-Bargielowska, S. 9.
25 Ebd., S. 12.
26 William H. Beveridge: „British Food Control“, London und Oxford 1928, S. 1 f.
27 Ebd., S. 2 f.
28 Ebd., S. 4.
29 Ebd., S. 206 f.
30 Zweiniger-Bargielowska, S. 13.
31 Homepage National Archives: http://nationalarchives.gov.uk/cabinetpapers/themes/employment-rationing.htm [26. Mai 2011, Login erforderlich].
32 Ministry of Food: „How Britain was fed in war time : Food control 1939 - 1945“, London 1946, S. 56.
33 Zweiniger-Bargielowska, S. 16.