Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Einordnung
2.1 Zur Historizität der Vermessung der Welt
2.1 El hablador und der Indigenismus
Wissenschaft und Kolonialismus
3.1 Humboldts Rationalismus
3.2 Die Linguisten-Missionare I
Religion und Kolonialismus
4.1 Die Heidenmission in der Vermessung
4.2 Die Linguisten-Missionare II
Das Erzählen im Kulturkontakt
5.1 Die Symbolkraft des Nicht-Erzählens in der Vermessung
5.2 Das Erzählen als interkulturelle Brücke im hablador
Fazit
Literaturliste
7.1 Texte
7.2 Sekundärliteratur
1. Einleitung
Nicht nur Paul Michael Lützeler hat die Argumentation, Deutschland habe „so gut wie keinen Anteil an der europäischen Kolonialgeschichte gehabt, weswegen es auch keine postkolonialen Bürden gebe“,[1] widerlegt. In diesem Sinne gilt, dass auch deutsche Schriftsteller insbesondere der postmodernen Ära aus einem Interesse an der Reflexion der Fremddarstellung „die diskursive Praktiken im Umfeld des kolonialen Erbes darstellen und am postkolonialen Diskurs partizipieren.“[2] Ausgehend davon, dass Daniel Kehlmanns fiktive Doppelbiografie Die Vermessung der Welt[3] in den Passagen, die das Leben Alexander von Humboldts thematisieren, Kulturbegegnungen zwischen den westlichen Forschungsreisenden und den Indigenen schildert, kann der Roman durchaus im Zuge der Postkolonialismus-Debatte gelesen werden.[4]
Mario Vargas Llosa hat mit seinem Roman El hablador[5] ein Werk vorgelegt, dass „als eine der gelungensten Manifestationen“[6] des postkolonialen Blicks bezeichnet wurde, wenngleich es einer völlig anderen Konstellation entspringt, als die Romane westlicher Autoren.
In der vorliegenden Arbeit soll eine vergleichende postkoloniale Lektüre der Romane Kehlmanns und Vargas Llosas erprobt werden. Es wird zu zeigen sein, dass beide Texte trotz großer Unterschiede ihrer Kontexte und Perspektiven in maßgeblichen Elementen des (post-)kolonialen Diskurses verglichen werden können und sogar merklich aufeinander Bezug nehmen.
Zunächst bedarf es einiger Erläuterungen zur Einordnung der Romane (Kapitel 2), um die Romane in ihren jeweiligen Kontexten zu situieren und einen Vergleich angemessen vorzubereiten. Daraufhin soll versucht werden, sie unter den Gesichtspunkten Wissenschaft und Kolonialismus (Kapitel 3), Religion und Kolonialismus (Kapitel 4), sowie Das Erzählen im Kulturkontakt (Kapitel 5) zu vergleichen. Eine Beschäftigung mit dem im kolonialen Kontext so bedeutsamen Zusammenhang zwischen Erotik und Kolonialismus soll in dieser Arbeit unterbleiben, weil Elemente und Kritik dieser Verknüpfung bei Kehlmann quasi überdeutlich[7], bei Vargas Llosa dafür bestenfalls marginal erscheinen.
2. Einordnung
2.1 Zur Historizität der Vermessung der Welt
Daniel Kehlmanns Bestseller, hält Manfred Geier kategorisch fest,
„ist ein Roman, keine Biographie. […] Aber in der erzählerischen Fiktion spielen umfassend recherchierte Fakten mit, und das raffiniert geknüpfte Netzwerk aus Tatsachen und Erfindungen macht einen besonderen Reiz des Romans aus.“[8]
Kehlmann hat einen historischen Roman vorgelegt, der auf einer Bearbeitung zweier Lebensgeschichten historischer Persönlichkeiten fußt.[9] Seine Poetologie des historischen Romans erläutert Kehlmann damit, dass es „seit alters her eine Domäne der Literatur [sei], ihre eigenen Versionen historischer Personen nachzuerschaffen.“[10] Dabei müsse, schreibt er mit Blick auf seine literarische Produktion „immer […] ein Element existentieller Wahrheit geben, eine Berührung mit den Grundtatsachen unseres Daseins.“[11] Aus beiden Äußerungen des Autors ergibt sich ein Anspruch, den Kehlmann selbst an seinen Roman zu stellen scheint: Er muss, so könnte man formulieren, einen ästhetischen Aussagewert über die Sphäre der Literatur hinaus haben, was auch für eine Lektüre im Kontext der (Post-)Kolonialismus-Debatte relevant ist. Die Einordnung als historischer Roman ist auch deshalb bedeutsam, weil sie im Rückblick eine Kritik am Kolonialismus ermöglicht, wie noch gezeigt werden wird.
Wie an der entsprechenden Stelle ausgeführt wird, finden sich in Kehlmanns Roman auch Elemente, die dem magischen Realismus[12] zuzuordnen sind. Das wird im Fortgang der Arbeit von Belang sein, soll allerdings schon im Zuge der Einordnung des Textes thematisiert werden. Im magischen Realismus wird das „als magisch oder phantastisch gefaßte Außergewöhnliche […] der alltäglichen menschlichen Erfahrungswirklichkeit nicht fremd gegenübergestellt, sondern [erscheint] gerade als ihr integraler Bestandteil.“[13] So „will der magische Realismus die hinter der Wirklichkeit verborgenen, irrealen und irrationalen, magischen Sinnzusammenhänge deutlich machen.“[14] Das Unerklärbare und Unheimliche ist hierbei nicht einmalig: „Es ist vielmehr ein wesentliches Merkmal der erzählten Welt, das, durch die Situation begünstigt, nur mit besonderer Intensität hervortritt.“[15] Das Geheimnisvolle muss also in die normal anmutende Welt integriert sein.
Dort, wo die „Grenze zwischen dem Unwahrscheinlichen und dem Unmöglichen“[16] in Kehlmanns Romanen nicht leicht nachweisbar ist, erkennt auch Gunther Nickel Bezüge Kehlmanns zum magischen Realismus. Diese Elemente tauchen nicht selten auf - sie aus europäischer Autorenperspektive zu integrieren, erscheint Kehlmann selbst allerdings problematisch. Er, der den südamerikanischen Roman als „die interessanteste experimentelle Strömung unserer Zeit“[17] einschätzt, versucht daher nicht etwa, aus westeuropäischer Perspektive die Mittel dieser Strömung zu kopieren, sondern ist sich des poetologischen Problems dabei bewusst: Im Gegensatz zu den südamerikanischen Autoren könne er, schreibt Kehlmann, „nicht einfach so Wunder in die Erzählung einfügen, das ist eine Kultur, der eben andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen.“[18]
Allerdings finden sich zahlreiche Textstellen, an denen Kehlmanns Roman zwar „nicht die Regeln der Syntax bricht, sondern die der Wirklichkeit.“[19] Das auf der Reise nach Teneriffa plötzlich auftauchende Seeungeheuer[20], die Erscheinung von Humboldts toter Mutter, die länger blieb „als es sich für eine Sinnestäuschung gehörte“,[21] und eine UFO-artige Scheibe, die die – allerdings fiebergeschüttelten – Reisenden zu verfolgen scheint[22],sind hier zu nennen. Entscheidend ist dabei, dass Humboldt „selbst diese Dinge als Einbildungen abtut, sie zu unterdrücken sucht und nicht schriftlich festhält, [...] der Roman sie [aber] unkommentiert in den Raum seiner erzählerischen Welt“[23] stellt und damit nicht grundlegend anzweifelt, was wiederum die erzählerische Komik des Textes unterstützt. Dass ist jedoch nicht der einzige Effekt der Einbeziehung von Elementen dieser Strömung. Das Unheimliche korrespondiert in Kehlmanns Text auch mit der bereits erarbeiteten problematischen Herangehensweise an den Kontakt mit der Fremde, denn
„der europäische Gelehrte versucht im südamerikanischen Dschungel vergeblich, seine aufklärerische Auffassung des Kosmos als eines einheitlichen Ganzen, das dem menschlichen Verstand zugänglich sei, der neuen Welt aufzuerlegen.“[24]
Inwiefern die Diskrepanz zwischen nicht zu leugnenden Elementen des magischen Realismus und Humboldts Ignoranz gegenüber diesen auch für diese Arbeit von Belang ist, wird in den entsprechenden Kapiteln erarbeitet.
2.2 El hablador und der Indigenismus
Vargas Llosas Roman ist zunächst vor dem Hintergrund des lateinamerikanischen Indigenismus zu bestimmen. Im Gegensatz zum oberflächlicheren Indianismus meint der Indigenismus den Versuch, „sich der Wirklichkeit der indianischen Lebensbedingungen zu nähern, das Unglück und den Schmerz der indigenen Bevölkerung zu thematisieren und ihre Rechte zu verteidigen.“[25] Damit hat er den Indianismus überwunden und geht mit reflektierten Konstruktionen des Fremden ans Werk.[26] Allerdings bleibt auch der Indigenismus in seiner Herangehensweise nicht unproblematisch: Der Indigenismus, erklärt Fröhlicher, ist „dadurch bestimmt, daß der Autor über eine Welt schreibt, der er selber nicht angehört. Im indigenistischen Text richtet sich ein Weißer oder Mestize an seinesgleichen […] mit der Absicht, Mitgefühl für die Lage der Indios zu wecken.“[27] Die Indios sind damit, wie Fröhlicher selbst anerkennt, „nur Objekt der literarischen Kommunikation,“[28] was den Indigenismus trotz seiner Vorzüge zu einer letztlich fehlerbehafteten Form der literarischen Verarbeitung von Fremdwahrnehmung werden lässt.
Beim Geschichtenerzähler jedoch „handelt es sich nur zum Teil um die Darstellung der Eingeborenenwelt“[29], weil der Ich-Erzähler versucht, die „nahezu unüberwindbare Kluft [zwischen seiner Lebenssphäre und der der Machiguenga] gedanklich zu ermessen und vor allem ästhetisch fruchtbar werden zu lassen.“[30] Das geschieht über die Zweiteilung der Erzählung in Passagen des Hablador und die des Erzählers, was Vargas Llosas Roman empfehlenswert macht für eine postkoloniale Lektüre: Die in der postkolonialen Theorie bedeutsame
„Selbstreflexivität, in Form eines pragmatischen Eingeständnisses eigener Unfähigkeit als Reaktion auf die moralischen Implikationen der Fremddarstellung, und [die] Mehrstimmigkeit, verstanden als Absage an die olympische Perspektive des kolonialen Diskurses“[31]
werden hier verwirklicht. Das Hauptanliegen des Romans ist konkret „die Schwierigkeit des nach Europa orientierten peruanischen Intellektuellen, sich […] seiner Heimat so zu nähern, daß ein seinen Ansprüchen gerecht werdendes literarisches Werk entsteht.“[32]
Deswegen, erklärt Norbert Lentzen,
„ist das Thema der Indios […] nicht der ausschließliche Gegenstand der Handlung. Vargas Lloas stellt ihm […] einen zweiten Erzählstrang gegenüber, durch den aus der Perspektive der westlich zivilisierten Welt der Zugang in das archaische, fremde Universum der Amazonasgebiete erschlossen wird.“[33]
Schon an der Struktur des Textes ist dieser Sachverhalt erkennbar:
„Das dritte, fünfte und siebte Kapitel, die die Denk- und Sprechweisen der Indianer im Spanischen nachempfinden, stehen im Gegensatz zu den übrigen Kapiteln, welche in europäischer Manier dem Geheimnis um den hablador auf die Spur zu kommen versuchen.“[34]
Dieses skizzierte Verhältnis zum Indigenismus und zu den Machiguenga, die einen Gegenstand des Textes bilden, macht die Stärke des Romans aus: „Die zwei alternierenden Geschichten […] erscheinen als Versuch, dem traditionellen indigenistischen Standpunkt eine Sicht von innen entgegenzustellen“[35] und damit dem immanenten Problem zu begegnen, das Fremde zu konstruieren. Damit soll nicht behauptet werden, Vargas Llosas Text habe die Aporie der Unvoreingenommenheit - „ein absolut vorurteilsfreies und voraussetzungsloses Sehen“, schreibt Buch, „gibt es nicht“[36] - überwunden. Es kann nicht einmal behauptet werden, dass der Versuch des Autors, „durch die alternierende Erzählperspektive, entsprechend seinen Forderungen an den Indigenismus, der fremden Kultur eine Stimme zu verleihen,“[37] unproblematisch sei. Vielmehr darf aus der Diskussion des postkolonialen Blicks übernommen werden, dass es ein kolonialer Akt wäre, wie Axel Dunker schreibt, würde man „einfach die Perspektive [umkehren und] ein Mimikry der Kolonisierten zu schreiben“.[38] In jedem Fall von Bedeutung ist die Tatsache, dass Vargas Llosas Roman eine quasi-koloniale Konstellation über ein gegenwärtiges Phänomen: Anders als Daniel Kehlmann schreibt Vargas Llosa nicht in rückblickender Perspektive, was Konsequenzen für den Umgang mit der Thematik hat.
3. Wissenschaft und Kolonialismus
3.1 Humboldts Rationalismus
Wissenschaft und Rationalismus gehen schon in den Titel des Romans ein und stehen – im Falle beider Protagonisten der Vermessung – nicht zuletzt für den Wunsch, die Welt in Gänze erfassen zu können um sie letztlich beherrschbar zu machen: „Der Anspruch auf Vermessung der Welt ist Ausdruck der Vermessenheit des menschlichen Anspruchs auf Kontrolle und Beherrschung der Welt“[39], leitet Wolfgang Pütz einen tadelbaren Charakterzug aus dem Vorgang des Vermessens ab. Durch Ironie, „die parodistische Verkehrung von Mustern heroischen Handelns“[40] und den melancholischen Grundton wird der Anspruch zwar im Text unterwandert, bleibt aber präsent – nicht zuletzt in den Begegnungen Humboldts mit der Fremde.
Die Prägung des Protagonisten durch Aufklärung und Rationalismus und sein Versuch, die Erde durch naturwissenschaftlich-technische Methoden messbar und damit beherrschbar zu machen, haben direkte Auswirkungen auf seine Haltung gegenüber der Fremde, die er als Forschungsreisender besucht. Im Falle Humboldts führt sein Rationalismus nicht grundsätzlich zu einer herablassenden Haltung gegenüber der Fremde. Seine Haltung ist vielmehr geprägt von einer Dialektik: „Stets konkurriert in Humboldts Figur ein nach potentieller Erkenntnis lechzender Forschungsdrang mit der Selbstverpflichtung zu Toleranz, Humanismus und Freiheitsdenken.“[41]
In vielen Fällen lässt sich Humboldts persönliche Dialektik der Aufklärung erkennen:
Humboldt zeigt eine „eurozentristische Wahrnehmung der Fremde“, schreibt Marx: „Als Wissenschaftler versteht Kehlmanns Humboldt nicht, wie sehr es die Indiander verstört, daß er mehrere Leichen aus einer Grabhöhle entwendet.“[42] Mehr noch: Humoldts pietätloser Umgang mit den mumifizierten Toten zeigt eine tiefe Respektlosigkeit vor der Glaubenssphäre der Indios: „Humboldt zerrte mehrere Leichen aus ihren Körben, löste Schädel von Wirbelsäulen, brach Zähne aus Kinnladen und Ringe von Fingern.“[43] Dass Humboldt auf die verschreckten Reaktionen der Indigenen hin seinem Bruder schreibt, „diese Leute seien allesamt so abergläubisch, […], man merke, welch weiter Weg es noch sei zu Freiheit und Vernunft“[44], verweist direkt auf die Dialektik der Aufklärung: Aus postkolonialer Perspektive wird hier reflektiert, wie die von Horkheimer und Adorno nachgewiesene Entmythologisierung und „Entzauberung der Welt“[45] auf der Basis der mit Freiheit und Vernunft lockenden Aufklärung[46] umschlägt in Barbarei. Humboldts „Mischung aus Enthusiasmus und Barbarei“[47] zeigt sich aber auch darin, dass er in der genannten Szene die Glaubensvorstellungen der Ureinwohner als „Aberglaube“ abqualifiziert, obwohl es sich um den bedingungslos zu respektierenden Glauben der Indios handelt: So wird er der Sache in keiner Weise gerecht, sondern entlarvt sich selbst als arroganter Europäer, der den Indigenen nicht einmal den aus seiner rationalistischen Sicht überwindungswerten Glauben zuspricht, sondern lediglich einen Aberglauben.
So wie die auf den Orient spezialisierten Wissenschaften letztlich „Autorität über den Gegenstand Orient“[48] schufen, ist die Wissenschaft Humboldt ein Mittel zur Beherrschung der fremden Natur und Kultur. Beide Vorgänge der Besitzergreifung funktionieren zwar auf unterschiedlichen Ebenen, aber es wird erkennbar, dass über die Einbeziehung der Wissenschaft eine Verbindung zum kolonialen Diskurs geschaffen wird.
3.2 Die Linguisten-Missionare I
In Vargas Llosas Roman greifen die Wissenschafts- und die Religionssphäre in den Figuren der Linguisten-Missionare ineinander. Beide Sphären haben am kolonialen Diskurs partizipiert und dazu beigetragen, die diskursive Unterdrückung des Fremden zu rechtfertigen. Um einen Vergleich mit Kehlmanns Roman, in dem die beiden Sphären ebenso präsent, aber getrennt sind, zu ermöglichen, soll zunächst die Rolle der Wissenschaft für die Wahrnehmung der Fremde bei Vargas Llosa untersucht werden.
Die Rolle der Wissenschaft ist schon für die kulturelle Konstellation im Text von größter Bedeutung:
Die Machiguenga in Vargas Llosas Roman „richten ihr Erkenntnisstreben auf die eigene Umgebung, eigene Erfahrungen und den eigenen Mythos. […] Bei Ihnen fallen Subjekt und Objekt der Erkenntnis zusammen. Die Machiguengas sind mit sich selbst identisch.“[49] Damit stehen sie im Gegensatz zu den christlichen Wissenschaftlern, die die Kultur der Indigenen erforschen, somit Subjekt und Objekt des Erkenntnisstrebens trennen und dennoch „nur ein ungewisses oder falsches Bild“[50] von der fremden Kultur gewinnen. Das Objekt ihrer Erkenntnis nimmt dabei allerdings Schaden: Verschanzt hinter der Wissenschaft, „wird den Betroffenen nun […] dasselbe Unrecht zugefügt wie zuvor im Namen Christi“[51]. Mythische Vorstellungen, wie sie für die Kultur der Indios von zentraler Bedeutung sind, werden im Namen „der in Europa fortschreitenden Rationalisierung“[52] zurückgedrängt.
Solche Kritik äußert insbesondere Saúl Zuratas: Er, dessen Liebe zu den Machiguenga „mehr emotional als rational“[53] bedingt ist, geißelt jede Annäherung an die Indigenen scharf. Was die eigen Kultur „berührt, verschlingt sie“[54], äußert er und begründet damit eine ablehnende Haltung gegenüber jedem Kulturkontakt zwischen der dominanten eigenen und der minoritären der Indianer. Das geschieht in seinem Fall aus einer bedingungslosen Liebe zu der Kultur der Machiguenga, die in seinem persönlichen Ursprung wurzelt: „Ein Jude ist besser gerüstet als andere, um das Existenzrecht der minoritären Kulturen zu verteidigen“[55] begründet er sein Handeln. Weil Mascarita kompromisslos in seiner Liebe und Achtung bleibt, kommt es zu seiner Wandlung zum Geschichtenerzähler – unvorstellbar aber bleibt für ihn der postkoloniale „Kompromiß, der weder die Usurpation des Fremden noch seine unangetastete Beibehaltung zur Folge hat.“[56] Weil Mascarita eine so vollständige Wandlung vollzieht, kann nicht davon gesprochen werden, dass er seiner eigenen Auffassung über die schützende Isolation der Machiguenga widerspricht, da er zu diesem Zeitpunkt selbst Teil dieser Kultur geworden ist.
[...]
[1] Paul Michael Lützeler: Einleitung. In: Ders. (Hg.)Schriftsteller und „Dritte Welt“. Studien zum postkolonialen Blick. Tübingen: Stauffenberg 1998, S. 23.
[2] Monika Albrecht: Gegenwartsliteratur aus postkolonialer Sicht. Michael Krüger: Himmelfahrt und Jeannette Lander: Jahrhundert der Herren. In: Axel Dunker (Hg.): (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 251-265, hier S. 251f.
[3] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. 3. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008.
[4] Weil Carl Friedrich Gauß im Handlungsverlauf nicht nennenswert mit fremden Kulturen in Kontakt kommt, werden sich die Bemühungen auf die Kapitel beschränken, die Alexander von Humboldt gewidmet sind. Dass dabei die spätere Russland-Reise und die dazugehörigen Begegnungen mit Chinesen und Kalmücken aussen vor gelassen werden, lässt sich nicht nur mit der gebotenen Kürze der Untersuchungen rechtfertigen. Zwar findet auch hier ein Kulturkontakt mit der Fremde statt, allerdings fehlt ein kolonialer Rahmen. Im Zuge der vorliegenden Arbeit kann der Ausschluss dieser Szenen auch dadurch gerechtfertigt werden, dass ein Vergleichspunkt mit Vargas Llosas Roman nicht gegeben ist.
[5] Mario Vargas Llosa: Der Geschichtenerzähler. Übers. v. Elke Wehr. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.
[6] Jochen Dubiel: Dialektik der postkolonialen Hybridität. Die intrakulturelle Überwindung des kolonialen Blicks in der Literatur. Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 109.
[7] Man denke nur an den Komplex der auch sexuellen Kolonisierung der indigenen Frau, die durch Humboldt nicht vollzogen wird, sondern humoristisch implizit kritisiert wird. Vgl. Kehlmann (2008), S. 76.
[8] Manfred Geier: Alexander von Humboldt – eine biographische Skizze. In Nickel, Gunther (Hg.): Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008, S.62-77, hier S. 62.
[9] „Ich entschloss mich“, legt Kehlmann seine Poetik eines historischen Romans dar, „die historischen Ereignisse als Rohmaterial zu nehmen für einen Roman, in dem ich völlig frei Situationen verändern, umformen und erfinden konnte, […] um zu schaffen, was dem Wesen nach eine Fiktion, eine literarische Erfindung sein würde.“ (Daniel Kehlmann: Wo ist Carlos Montúfar? In: Nickel, Gunther (Hg.): Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008, S. 11-25, hier S. 17.)
[10] Daniel Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen: Wallstein 2007, S. 12
[11] Ebd., S. 26. Weder sollen die poetologischen Positionen Kehlmanns im Zuge dieser Arbeit über Gebühr in die Überlegungen einbezogen werden, noch soll der – aufgrund der noch jungen Rezeptionsgeschichte des Textes – sehr präsente Feuilleton-Debatte darüber einen pauschalen Schwerpunkt eingeräumt werden. Die Beurteilungen des Textes schwanken massiv, die Feuilletons haben differenziert geurteilt. Eine Aussage soll jedoch zu Beginn der Überlegungen wiedergegeben werden, weil sie einerseits eine gängige Meinung zu spiegeln scheint und andererseits im Zuge dieser Analyse, die nicht zuletzt auf die Identifikation ästhetischer Stärken der behandelten Texte abzielt, am Rande kritisch überprüft, wenngleich wohl nie revidiert werden kann: Die Vermessung der Welt sei, schreibt Jochen Jung in der Zeit, ein „Erfolg, der, wenn überhaupt, Romanen vom Format der Buddenbrooks, des Prozesses oder der Blechtrommel angemessen schiene, aber nicht diesem Buch, das zwar eine Menge Qualitäten hat, aber gewiss kein Meilenstein in der Geschichte der deutschen Literatur ist.“ (Jochen Jung: Wenn das Handy neunmal klingelt. Die Zeit. 15.01.2009, Nr. 4.)
[12] Zu definitorischen Bemühungen zum magischen Realismus vergleiche auch Claudius Armbruster: Das Werk Alejo Carpentiers, Chronik der „Wunderbaren Wirklichkeit“. Frankfurt/M.: Vervuert 1982.
[13] Michael Scheffel: Magischer Realismus: Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung. Tübingen: Stauffenberg 1988, S. 47.
[14] Reinhard Döhl: Magischer Realismus. In: Günther und Irmgard Schweikle (Hg.) Metzler Literatur-Lexikon: Begriffe und Definitionen. 2., überarbeitet Auflage. Stuttgart: Metzler 1990, S. 290.
[15] Scheffel (1988), S. 92.
[16] Gunther Nickel: Von Beerholms Vorstellung zur Vermessung der Welt. Die Wiedergeburt des magischen Realismus aus dem Geist der modernen Mathematik. In: Ders. (Hg.): Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008, S. 151-168, hier S. 153.
[17] Daniel Kehlmann/ Michael Lenz: Die Fremdheit ist ungeheuer. Gespräch über historische Stoffe in der Gegenwartsliteratur. In: Neue Rundschau 118, H.1. Frankfurt a.M.: S.Fischer 2006, S. 33-47, hier S. 46.
[18] Ebd.
[19] Kehlmann (2007), S. 15.
[20] Vgl. Kehlmann (2008), S. 45.
[21] Ebd., S. 74.
[22] Vgl. ebd., S. 135. Kehlmann hat also bestenfalls übertrieben, als er behauptet, dass es im Roman tatsächlich „magischen Realismus in Überfülle“ (Kehlmann 2007, S. 22) gibt.
[23] Friedhelm Marx: Die Vermessung der Welt als historischer Roman. In: Nickel, Gunther (Hg.): Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008, S. 169-185, hier S. 181.
[24] Mark M. Anderson: Der vermessene Erzähler. Mathematische Geheimnisse bei Daniel Kehlmann. In: Arnold, Heinz Ludwig: Daniel Kehlmann. Edition Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 177 (2008), S. 58-67, hier S. 63.
[25] Dubiel (2007), S. 109.
[26] Zur Terminologie vergleiche Nell, Werner: Reflexionen und Konstruktionen des Fremdem in der europäischen Literatur. Literarische und sozialwissenschaftliche Studien zu einer interkulturellen Hermeneutik. Remscheid: Gardez! 2001. Die Unterscheidung zwischen einfachen und reflektieren Konstruktionen des Fremden entstammt zwar dem postkolonialen Diskurs, kann hier aber Anwendung finden: Reflektierte Konstruktionen des Fremden zeichneten sich dadurch aus, dass man sich in ihnen „in der Darstellung und Interpretation [der Fremderfahrung] zugleich darum bemüht, Rahmenbedingungen und Grenzen der jeweiligen Erfahrung, Widersprüche, Nebenfolgen und Ausgrenzungsprozesse“ zu thematisieren. (Nell 2001, S. 308). Dieser Widersprüche und Probleme ist sich Vargas Llosa durchaus bewusst.
[27] Peter Fröhlicher: Mario Vargas Llosa und der lateinamerikanische Indigenismus. Zum Roman Der Geschichtenerzähler. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. Band 23 (1), 1992, S.147-155, hier S. 147.
[28] Ebd.
[29] Thomas M Scheerer. Mario Vargas Llosa. Leben und Werk. Eine Einführung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 152.
[30] Ebd., S.154.
[31] Dubiel (2007), S. 100.
[32] Ebd., S. 155. Es besteht zudem eine autobiographische Verbindung zwischen Ich-Erzähler und Autor (Vgl. ebd.)
[33] Norbert Lentzen: Literatur und Gesellschaft: Studien zum Verhältnis von Realität und Fiktion in den Romanen Mario Vargas Llosas. Bonn: Romanistischer Verlag 1996, S. 150 f.
[34] Heinz Klüppelholz: Und ewig lockt das Wort. Vargas Llosas El hablador in der Tradition des Indigenismus. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch im Auftrag der Görres-Gesellschaft 37, 1996, S. 325-342, hier S. 330.
[35] Fröhlicher (1992), S. 151.
[36] Hans Christoph Buch: Die Nähe und die Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 22.
[37] Dubiel (2007), S. 115.
[38] Dunker, Axel: Einleitung: In: Ders. (Hg.): (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 13. Für die Poetik des ,writing back' vgl. insbesondere Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? In: Bill Ashcroft/ Gareth Griffiths/ Helen Tiffin (Hg.): The post-colonial studies reader. London/ New York: Routledge 1995, S. 24-28.
[39] Wolfgang Pütz: Daniel Kehlmann. Die Vermessung der Welt. München: Oldenbourg 2008 (Oldenbourg Interpretationen, Bd. 110), S. 88.
[40] Ebd.
[41] Stephanie Catani: Formen und Funktionen des Witzes, der Satire und der Ironie in Die Vermessung der Welt. In: Nickel, Gunther (Hg.): Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008, S. 198-215, hier S. 205.
[42] Marx (2008), S. 180.
[43] Kehlmann (2008), S. 120.
[44] Ebd., S. 121.
[45] Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 17. Auflage. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 9.
[46] Vgl. zur Problematisierung von Freiheit und Aufklärung bes. Klaus Günther: Modell 1: Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft I. Dialektik der Aufklärung in der Idee der Freiheit. In: Axel Honneth/ Christoph Menke (Hg.): Theodor W. Adorno. Negative Dialektik. (Klassiker Auslegen. Hg. v. Otfried Höffe; Bd. 28.), S. 119-150.
[47] Alexander Honold: Ankunft in der Weltliteratur. Abenteuerliche Geschichtsreisen mit Ilija Trojanow und Daniel Kehlmann. In: Neue Rundschau 118, H.1. Frankfurt a.M.: S.Fischer 2006, S.82-104, hier S. 98.
[48] Jan Peter Hartung: (Re-)Presenting the other? Erkenntniskritische Überlegungen zum Orientalismus. In: Christof Hamann / Cornelia Sieber (Hg.): Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur. Hildesheim u.a.: Georg Olms 2002, S. 135-150, hier S. 137. Hartungs Studien beziehen sich zwar explizit auf den Orient, aber dieser kann in diesem Zusammenhang implizit durch jedes Territorium, „das einem kolonialen Blick ausgesetzt wird, substituiert werden“ (Dubiel, 2007, S. 29.). Das gilt, auch wenn etwa Terry Eagleton einwendet, dass die postkoloniale Theorie „bei all ihrer Betonung der Differenz [...] manchmal viel zu schnell unterschiedliche Gesellschaften unter derselben Kategorie Dritte Welt“ vermenge (Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie. 4., erweiterte und aktualisierte Auflage. Aus dem Englischen von Elfi Bettinger und Elke Hentschel. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 1997, S. S.234). Entscheidend in der Anwendung der Theorie ist, dass „der Orient freilich Modellcharakter“ hat (Jochen Dubiel: Manifestationen des ,postkolonialen Blicks' in kultureller Hybridität. In: Axel Dunker (Hg.): (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 45-68, hier S. 45) und deshalb ersetzt werden kann. Aus demselben Grund ist es auch zulässig, die Konfliktsituation, die bei Vargas Llosa problematisiert wird, einer postkolonialen Analyse zu unterziehen.
[49] Scheerer (1991), S. 160.
[50] Ebd.
[51] Klüppelholz (1996), S. 334.
[52] Ebd., S. 335.
[53] Vargas Llosa (1992), S. 23.
[54] Ebd., S. 118.
[55] Ebd., S. 119.
[56] Dubiel (2005), S. 51.