Scholia I. - Texte zu Pädagogik, Philosophie und Ökonomie


Sammelband, 2011

60 Seiten


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Luxus ist kein Luxus

Ökonomische Stimmung

„Gehirngerechtes Denken“. Über Neuro-bullshitting in der Pädagogik

Von den Toten lernen. Über das Verhältnis von Kindern zu Dinosauriern

Evolutionistische Logik?

Das Scheitern der Allgemeinen Evolutionstheorie an der formalen Logik

Literaturverzeichnis

Luxus ist kein Luxus

Eine amoralische Apologie des Verschwenderischen

„Das Überflüssige ist eine sehr notwendige Sache.“

(Voltaire)

Damit ist über das Nichts alles gesagt

Luxus beginnt nicht erst, wenn man sich etwas gönnt. Er beginnt nicht erst, wenn man sich ein neues Auto leistet, statt mit dem gleichen Geld wenigstens einen der weltweit rund 850 Millionen Menschen zu retten, die an Unterernährung leiden. Luxus beginnt früher. Grob geschätzt etwa 14 Milliarden Jahre früher. Luxus beginnt mit einem ungefähr 100.00 Millionen Grad heißen Ereignis, das schließlich das hervorgebracht hat, was man gemeinhin Raum, Zeit, und Materie nennt. Man bezeichnet dieses Ereignis in Ermangelung besserer Euphemismen zumeist als Urknall. Ein wahrlich historisches Ereignis. So historisch, dass man sich wundern kann, wieso es eigentlich stattgefunden hat. Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Auf diese Frage des Philosophen Leibniz wissen wir zum Glück mittlerweile die Antwort. Sie lautet schlicht: Darum! Diese Replik ist kein müder Scherz, sondern die einzige ernsthafte Erwiderung, die man geben kann. Denn wo nichts ist, da kann auch keiner nach etwas fragen. Sein überhaupt ist die unhinterfragbare Voraussetzung allen Fragens. Zu philosophisch? Leider nein. Es ist lediglich das grundlegendste Argument, das man zur Verteidigung des Überflüssigen anführen kann. Das Sein, sowie das Leben selbst, sind ein Luxus, den sich die Wirklichkeit irgendwann einmal geleistet hat. Nötig waren beide nie. Die Realität braucht uns ebenso wenig wie sich selbst. Gäbe es keinen Luxus, gäbe es überhaupt nichts. Die Welt und wir, wir müssten eigentlich nicht sein. Doch wenn das Malheur nun schon einmal passiert ist, kann man es auch nicht mehr gut ignorieren. Wechseln wir also von der physikalischen zur menschlichen Geschichte.

Luxus ist erst 300 Jahre alt

Es klingt paradox, aber von Luxus kann man erst seit seiner Abschaffung zu Beginn des 18. Jahrhunderts sprechen. Angesichts von rund 12.000 Jahren Zivilisationsgeschichte ist das eine erstaunlich kurze Zeit. Und was gab es vorher? Was ist etwa mit den Sumptuargesetzen (lat. sumptus = Aufwand, Kosten, Luxus), die fast schon so alt sind wie die politischen Gesellschaften selbst? Was ist mit den vielen moralischen Verurteilungen, die die Antike gegen eine ausschweifende Lebensführung ausgesprochen hat? Was ist mit der „luxuria“, die seit Ende des 6. Jahrhunderts zum Kanon der sieben Todsünden gehört? Was ist mit den mittelalterlichen Vorschriften, die das Tragen von Samt und Seide, von Gold- und Silberstoffen verboten bzw. nur bestimmten Adelsklassen erlaubten? Ist das alles nichts? Richtig! Denn was tatsächlich erst Anfang des 18. Jahrhunderts einsetzt ist die Verwandlung des „homo oeconomicus“ in den „homo supervacanea petens et eorum indigens“. Der Mensch wird als ein Wesen (an)erkannt, das Überflüssiges ebenso erstrebt wie dessen auch bedarf.

Der Tod des homo oeconomicus

Dass dieser Gedanke eine so lange Inkubationszeit benötigt hat, liegt an einer Tradition, die eine begriffliche Unterscheidung zu einer Scheinalternative aufgebläht hat. Seit den Zeiten des Sokrates differenzierte man zwischen dem bloßen Leben und dem guten Leben. Das Fatale dieser Unterscheidung war, dass man sie historisch durchweg als eine zweistufige Entwicklung interpretiert hat. Erst kommt das Überleben, dann das gute Leben. Aristoteles hat dieses Zweistufenmodell deutlich formuliert. Es gibt die sklavischen, banausischen Tätigkeiten, die das Lebensnotwendige zur Verfügung stellen, und es gibt die freien Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen stattfinden. Die höheren Tätigkeiten können erst einsetzen, wenn man für die Erledigung der niedrigen Tätigkeiten gesorgt hat. Zu einem Gutteil denken wir noch heute so. (Beispiel: Maslowsche Bedürfnispyramide) Es verwundert deshalb auch nicht, dass man immer wieder gerne auf das vermeintliche Vorbild der Naturvölker zurückgreift, um den maßlosen Reichtum moderner Ökonomien zu hinterfragen. Archaischen Gesellschaften wird vorschnell eine Beschränkung auf das wirklich Elementare, Ursprüngliche, Unverfälschte unterstellt, die sich leicht gegen die gekünstelten Bedürfnisse und die Verschwendungssucht heutiger Zivilisationen ausspielen lässt. Doch leider macht man mit guten Absichten oft schlechte Wirtschaftsanthropologie. Die Alternative von Notwendigkeit und Überflüssigkeit funktioniert ebenso wenig bei alten Stammeskulturen wie bei uns. Die Ethnologie zeigt uns den Wilden nämlich nicht als jemanden, der einsichtsvoll-asketisch im „Einklang“ mit seiner inneren und äußeren Natur lebt. Oft genug wählt er beispielsweise den zum Häuptling, der am meisten von allen Mitgliedern des Stammes essen kann. Der Vielfraß, der Fresssack, war nicht selten der, dessen nie gestillter Appetit auch die symbolische Gewähr dafür sein sollte, dass auch die anderen nie lange würden Hunger leiden müssen – auch, wenn sie für diese Gewähr selbst hungerten. Seine Völlerei war für sie lebenswichtig. Sie verließen sich auf seinen bis zum Bersten gefüllten Bauch, als hätte er ihn für sie alle mitgefüllt. Oder der so genannte „Potlatsch“ der nordamerikanischen Indianer: Hier steigerte sich die Möglichkeit der Verschwendung bis hin zu rituell festgesetzten Orgien der Zerstörung. Der Potlatsch bestand aus einer großen, festlichen Zusammenkunft der ganzen Gemeinschaft, die in Zerstörungs-Wettbewerben der Häuptlinge untereinander gipfelte. Jeder Häuptling prahlte damit, wie viel von seinem Besitz er zu zerstören bereit war. Wer wirklich am meisten zerstören ließ, war Sieger und genoss von allen den größten Ruhm. Und nur, wer möglichst viel hatte, konnte auch möglichst viel aufgeben. Oder schließlich der merkwürdige Suizid ganzer Völkerschaften: Wie wäre es etwa mit dem Volk der Xosa, das Mitte des 19. Jahrhunderts lediglich auf Geheiß der Geister verstorbener Angehöriger nahezu seine gesamten Lebensmittelvorräte bereitwillig vernichtete und so 68.000 Menschen sehenden Auges dem Hungertod aussetzte? Wo ist hier das Ausleben „eigentlicher“ Bedürfnisse? Wo ist der Einklang mit einer kulturfreien Natur, wenn schon ein bisschen Ahnenkult ausreicht, um sich den Luxus zu leisten, sogar auf das Unverzichtbare zu verzichten? Die Rede von einer natürlichen Bedürftigkeit ist nur der künstliche Versuch des Menschen ein Tier zu sein.

Das Märchen von den primären Bedürfnissen

Das Problem ist nicht, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Das Problem ist, dass die Dinge nicht nur das sind, was sie sind. Produktion und Konsum weisen von Anfang an über sich hinaus. Sie haben einen unfreiwilligen Überschuss. Kein Bedürfnis ist rein materiell, keine Erfindung bloß zweckdienlich, und es gibt keine Tätigkeit, die nur reproduktive Arbeit wäre. Unser ökonomisches Handeln ist nie ohne einen nicht-ökonomischen Kontext zu haben. Moralisch mag man dem Luxus im konkreten Einzelfall vorwerfen, was man will, wissenschaftlich gesehen ist die Überdeterminiertheit der Dinge unvermeidlich. Ein reiner Funktionalismus funktioniert nicht. Produktion und Konsumtion sind zwar allgemeine Begriffe, doch produktives und konsumtives Verhalten kann immer nur im Konkreten stattfinden. Jede konkrete Aneignung der materiellen Welt aber ist immateriell vorbelastet. Versuchen Sie mal, eines Ihrer vielbeschworenen Primärbedürfnisse (Nahrung, Atmung, Schlaf, Kleidung, Sex) zu befriedigen, ohne sich mit irgendeiner Form von Symbolik zu infizieren! Noch nicht einmal völlig negieren kann man diese Bedürfnisse, ohne sich in einen Zusammenhang sozialer Zeichen zu stellen, etwa den, der den Unterschied zwischen einem Begräbnis für Reiche und einem Begräbnis für Arme markiert. Dass sich das Märchen von der einfachen und authentischen Lebensweise nach wie vor so hartnäckig hält, hat unter anderem mit der Suggestionskraft mancher Erfindungen zu tun. Es gibt Gegenstände, deren Funktionsweise sich anscheinend nicht weiter perfektionieren lässt: Das Trinkglas, das Rad, der Löffel, der Hammer, die Büroklammer, das Buch oder die Zitronenpresse. Als Philippe Starck die Form der Zitronenpresse ändern wollte, entstand zwar ein wunderschönes minimalistisches Objekt. Dessen übersteigerte Simplizität war jedoch ein Pseudo-Funktionalismus. Seine drei Beine machten es wackelig, und es ließ die Kerne ins darunter stehende Glas fallen, wohingegen die klassische Zitronenpresse die Kerne mit dem Fruchtfleisch zurückhält.

Ó www.zeitgeist.yopi.de/desgin/219/philippe-starck-design-ist-absolut-nutzlos

Solche klassischen Designs sind es, die uns glauben machen, man könne sich in einem Raum purer, nicht mehr reduzierbarer Zweckerfüllung bewegen. Firmen wie Manufactum leben von der Faszination dieses Glaubens. Doch hat gerade die vermeintliche Rückkehr zur reinen Form ihren Preis. Die handbetriebene Brotschneidemaschine verzichtet zwar auf Schnick-Schnack, ist aber weitaus teurer als ihr überfrachtetes Pendant aus dem Elektromarkt. Genauso spielt die manuelle Getreidemühle den Hunger nach Naturverbundenheit gegen den Hunger aus, der sich einstellt, wenn man nach einem 10-Stunden-Tag auch noch Zeit haben muss, das eigene Brot zu backen. Das Unprätentiöse muss man sich erst einmal leisten können. Das ist keine verkehrte Welt, sondern die Welt, in der wir leben. Es ist die Welt, in der es ein Luxus ist, kein Handy zu besitzen, weil man es nicht nötig hat, immer erreichbar zu sein. Es ist die Welt, die man wirklich nicht aushält, wenn man morgens nicht mindestens seinen obligatorischen Latte-Macchiato-Einlauf bekommen hat.

Luxus ist alles. Und nichts?

Wer in Daniel Defoes Roman liest, wie sich Robinson Crusoe auf seiner Insel einzurichten beginnt, ist erstaunt, wie unökonomisch der Gestrandete oft mit seinen Kräften haushaltet. Was Robinson Crusoe am meisten vermisst und als erstes wirklich herstellt sind ein Stuhl und ein Tisch, um bequemer schreiben und essen zu können. Er will wenigstens das genießen, was ihm neben seinem blanken Leben noch geblieben ist. Der Roman ist in den Jahren 1719/1720 erschienen, also genau in der Zeit, in der die Diskussion um den Luxus gerade begonnen hatte, sich von ihrer Vereinnahmung durch die Ethik zu lösen. Die Emanzipation des Überflüssigen bediente sich hierbei zweier Strategien. Die erste rechtfertigte den Luxus ökonomisch. Der 1628 von William Harvey entdeckte große Blutkreislauf wurde hierbei zum Vorbild einer Wirtschaftsanalyse, die über den Gedanken einer Zirkulation von Werten auch denjenigen letztlich vom Luxus profitieren ließ, der selbst in Armut lebte. Die zweite Strategie war offensiver. Sie erklärte die Rechtfertigungsnot des Überflüssigen selbst für überflüssig. Luxus wurde zum Faktum, das man nicht mehr bestreiten, sondern nur noch verkennen kann. Bernard Mandeville versetzte den überkommenen Dichotomien von Luxus und Notwendigkeit endgültig den Todesstoß, als er 1714 schrieb: „Wenn alles Luxus sein soll – wie es strenggenommen müßte – was nicht unbedingt notwendig ist, um einen Menschen am Leben zu erhalten, so gibt es überhaupt weiter nichts als Luxus, sogar auch bei den nackten Wilden.“[1] Historisch verschwindet der Luxus also genau in dem Moment, in dem der Luxusbegriff seine moderne Form annimmt. Viel mehr gibt es für die Metaökonomie hierüber nicht zu sagen. Alles Weitere wäre … überflüssig.

Ökonomische Stimmung

Die Stimmung ist nicht gut.

Die Stimmung ist nicht schlecht.

Die Stimmung ist der Kampf um sie.

Die Sprache der Ökonomie ist auch eine Ökonomie der Sprache. Aber nicht immer zum eigenen Vorteil. Das zeigt der Begriff der Stimmung. Man braucht ihn im Mit-, Neben- und Durcheinander von Politik, Wirtschaft und medialer Öffentlichkeit insbesondere für vier sprachliche Funktionen: Behauptungen, Vorwürfe, Tröstungen und Appelle.

Die Behauptungen gebärden sich objektiv und erklären die Stimmung im Lande für gut oder schlecht. Die Tröstungen versichern, die Lage sei besser als die Stimmung. Die Vorwürfe warnen, man dürfe die Stimmung nicht schlecht reden. Und die Appelle glauben an die Kraft ihrer selbst, fordern eine Aufbruchsstimmung und den vielbeschworenen „Ruck“. Aber alle vier haben dasselbe Problem: Die verdächtig zwanghafte Selbstverständlichkeit, mit der sie den Begriff der Stimmung gebrauchen und mit Leben füllen. Diese Selbstverständlichkeit kaschiert nicht nur, dass „Stimmung“ jenseits aller Auseinandersetzungen vor allem ein Kampfbegriff ist. Sie unterschlägt auch, dass ein Kampfbegriff durch die Art seiner Verwendung selbst eine Menge Verluste erleidet. Diese Verluste sind es aber gerade, die die Rede von der Stimmung vom Problem ihrer eigenen Arglosigkeit befreien können.

Behauptungen

Die Stimmung ist ein Phänomen wie das Wetter. Jede sieht sich berufen, darüber zu sprechen, weil jeder ihm ausgesetzt ist. Wie über das Wetter spricht man über die Stimmung besonders dann, wenn sie sich ändert oder über einen langen Zeitraum gleich bleibt. Sogar das Vokabular der Stimmung ist meteorologisch gefärbt. Die Skala des Stimmungsbarometers reicht von heiter bis düster. Angesichts der oft diffusen Begriffe, mit denen man Stimmungen belegt, haben Objekti-vierungsversuche etwas Wohltuendes und Verheißungsvolles. Und an Versuchen mangelt es nicht. Für die wirtschaftliche Stimmung gibt es Parameter wie den Geschäftsklimaindex, das Verbrauchervertrauen, die Investitionsneigung, die Zahl der Firmengründungen, das Brutto-sozialprodukt oder den DAX.

Solche Parameter haben ihre Berechtigung und ihre Tragfähigkeit. Sie neigen jedoch dazu, ihre Legitimität im Zweifel rein definitorisch auszuweisen. Ähnlich wie beim Psychologen, der „Intelligenz“ zirkelhaft als das versteht, was ein Intelligenztest misst, bleibt aber auch hier ein schaler Beigeschmack übrig. Ist Stimmung eben das, was man als Stimmung bestimmt? Und können Stimmungen wirklich quantifiziert werden? Das Problem dieser Fragen ist nicht eine Scheinalternative, nach der Stimmungen Gefühle wären, die nicht in harte Zahlen gegossen werden dürften. Das Problem ist vielmehr, dass Stimmungen gar keine Gefühle sind, sondern allenfalls von solchen begleitet werden oder sie hervorrufen. Stimmungen richten sich nicht wie Emotionen kurzfristig auf Einzelnes. Sie sind die Art und Weise, in der die Welt als Ganzes in Erscheinung tritt und deshalb auch alles einzelne in ihr, auch die Gefühle. Arthur Schopenhauer hat Stimmungen deshalb auch als „Grund-Stimmungen bezeichnet.[2] Hochtrabend – kurz heideggerisch – könnte man auch sagen: „Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein erschlossen und macht ein Sichrichten auf … allererst möglich.“[3] Für die ökonomische Behandlung der Stimmung bleibt die ursprüngliche Gestimmtheit jedes menschlichen Verhaltens deshalb auch nicht ohne Konsequenz. Sie wird zur Erinnerung, dass sogar die Analyse von Stimmungen selbst nicht stimmungslos geschieht, sondern nur aus einer anderen Stimmung heraus unternommen werden kann. Im Falle der Ökonomie ist diese Gegenstimmung die ruhige wissenschaftliche Betrachtung: Die von den Griechen so genannte „theoria“, die sich fern von eigenen ökonomischen Zwängen in Muße ganz dem Geschäft der Erkenntnis widmen kann. Der Analytiker von Stimmungen ist selbst nicht außerhalb des Spiels, das er zu erfassen sucht, er besitzt lediglich eine privilegierte Position. Wenn er seine eigene Beteiligung am Spiel verkennt, verkennt er gleichzeitig auch die Regeln des Spiels insgesamt. Die Gestimmtheit jeglicher Analyse macht diese nicht prinzipiell falsch oder unmöglich. Sie kompliziert lediglich ihre Ergebnisse und eine richtige Selbsteinschätzung.

Und auch in einer zweiten Hinsicht gelingt es einer objektiven Zugangsweise nicht, die Stimmung zu einem bloßen Gegenüber zu degradieren: Der Stimmungsbegriff besitzt durch seinen musikalischen Ursprung nach wie vor einen auch musikalischen Gehalt. Die Stimmung des Einzelnen vergleicht schon Platon mit dem Spannungsverhältnis der Saiten eines Musikinstrumentes. So, wie die Saiten einer Leier gut gestimmt sein müssen, um gut zu klingen, so müssen auch der Körper und die verschiedenen Seelenteile in bestimmter Weise angeordnet sein, um ein harmonisches Zusammenspiel zu ergeben. Das menschliche Dasein hat so nach Platon eine spezifische Tönung, je nachdem, ob das Seeleninstrument mehr oder weniger gut gestimmt ist.[4] Warum aber sollte eine musikalische Metaphorik für die Feststellung von Stimmungen ein Problem sein? Eben deshalb, weil sich das musikalische Erbe des Stimmungsbegriffs bis tief in die Urteile wirtschaftswissenschaftlicher Instrumentarien einschleicht. Wer Stimmungen analysiert, zielt auf Wahrheit ab. Urteile über Stimmungen wollen ihrerseits vor allem eines, nämlich „stimmen“. Aber wozu? Zu sich selbst und anderen Beurteilungen? Das wäre innere „Stimmigkeit“, also Konsistenz bzw. Kohärenz. Oder zur ökonomischen Wirklichkeit? Das wäre „Überstimmung“ und damit wiederum selbst ein musikalischer Begriff. Behauptungen über Stimmungen werden im Problem der Wahrheit somit auf das Phänomen der Stimmung selbst zurück geworfen. Es scheint, als bewege man sich in einem unvermeidlichen Zirkel. Die Wahrheit über Stimmungen verweist auf einen Wahrheitsbegriff, der selbst nicht ohne Stimmungsbegriffe verstanden werden kann.

Eine dritte Schwierigkeit, Stimmungen festzustellen, liegt darin, dass die Qualität einer Stimmung ausgerechnet stark von ihrer zeitlichen Entwicklung abhängt. Wie die Stimmung ist, liegt häufig genug daran, wie sie früher war oder später sein könnte. Für den Einzelnen ist das Gegenteil einer persönlichen Depression deshalb nicht so sehr der Zustand des erfüllten Glücks, als vielmehr die begründete Erwartung einer Besserung. In ähnlicher Weise zeigt sich das Gegenteil einer allgemeinen Wirtschaftsdepression nicht in erster Linie als statischer Wohlstand, sondern als Wachstum. Die Aussagekraft eines Stimmungsbarometers hängt also unter anderem davon ab, inwiefern eine Zustandsbeschreibung gleichzeitig mit dynamischen Elementen verbunden wird.

Vorwürfe

Analysen von Stimmungen finden selbst nicht ohne Stimmung statt. Das ist eine Einsicht, die die Vorwürfe, man rede die Stimmung im Lande schlecht, besonders offensichtlich machen. Stimmungen können in hohem Maß ansteckend sein. Es bedarf dabei noch nicht einmal bös- oder gutwilliger Agitatoren. Bereits eine noch so korrekte Analyse von Stimmungen beeinflusst rückwirkend ihr eigenes Ergebnis. Man spricht vom einer ungewollten „self-fulfilling prophecy“ bzw. vom Ödipus-Effekt. Individuell wie gesellschaftlich hängt die Möglichkeit stimmungsmäßiger Ansteckung unter anderem von der Anzahl möglicher Kontakte ab. Wer viel mit niedergeschlagenen Personen umgeht, hat gute Chancen, ähnlich zu empfinden. Ebenso hängt die Stimmung einer Volkswirtschaft auch vom Grad ihrer internationalen Verflechtungen ab.

Eine weitere Einsicht der Vorwürfe ist ihr Verweis auf die Sprache. In gewisser Weise kann man Stimmungen tatsächlich „machen“. Die sprachliche Erzeugung von Stimmungen funktioniert besonders gut, wenn sie Anleihen beim Medium des Bildes macht, d.h. wenn sie selbst besonders bildreich ist oder vom Bild bewusst den Aspekt der Vieldeutigkeit übernimmt.

Vorwürfe, man dürfe die Stimmung nicht schlecht reden, haben es leicht. Sie demonstrieren ein hohes Maß an eigenem Verantwortungsbewusstsein und delegieren doch gleichzeitig einen Gutteil der Verantwortung für die Stimmung an den Anderen. Diese menschliche Schwäche ist vielleicht verzeihlich. Weniger tolerabel ist allerdings eine theoretische Schwierigkeit. Der Vorwurf unterschlägt nämlich oft genug, dass Sprache nicht alles kann. Selbst der, der für schlechte Stimmung sorgt, tut dies in der Regel nicht, ohne an etwas anzuknüpfen, das nicht selbst wiederum nur Stimmung ist. Die Produktion ökonomischer Stimmungen geschieht nicht aus einem sozialen Vakuum rein persönlichen Wollens heraus. Sprechen ist motiviert von etwas, ist eine Antwort auf etwas und deshalb auch nicht beliebig instrumentalisierbar. Einem prosperierenden Gemeinwesen kann nicht umstandslos eine Rezession eingeredet werden. Die ökonomische Wirklichkeit muss sogar dem notorischen Nörgler schon irgendwie entgegen kommen, wenn er sich nicht selbst zum unverstandenen Sonderling machen will. Ein Vorwurf, mit Stimmungen sorgsam umzugehen, darf also nicht dazu führen, die Grenzen sprachlicher Machbarkeit zu unterschätzen. Andernfalls würde er auch das unterschätzen, woran diese Grenzen hängen. Die Mahnung, die Stimmung nicht schlecht zu machen, wird nämlich durch ihre eigene hehre Absicht in dem Moment geblendet, in dem die Stimmung tatsächlich schlecht ist.

Tröstungen

Auch wenn alles eine Stimmung hat, ist darum doch nicht schon alles nur Stimmung. Auf diesen wichtigen Unterschied machen Positionen aufmerksam, die uns trösten, die Lage sei besser als die Stimmung. Solche Positionen sind attraktiv. Differenzierungen wirken differenziert und damit gleich schon als Produkt sorgfältigen Erwägens. Gleichwohl haben auch die Tröstungen ein heimliches Manko: Sie trösten nicht. Denn die Stärke der Differenzierung zwischen Lage und Stimmung ist gerade auch ihre Schwäche. Wer zeigt, dass Grade subjektiver Zufriedenheit sich nicht mit objektiven ökonomischen Verhältnissen decken müssen, zeigt damit unfreiwillig auch die Grenzen sowohl wirtschaftlichen als auch wirtschaftspolitischen Handelns auf. Negativ gewendet: Ausgerechnet die Tröstungen machen deutlich, dass man an scheinbar unangemessener schlechter Stimmung im Grunde gar nichts machen kann. Es ist das alte Klischee, dass Geld alleine auch nicht glücklich macht, das, durch die empirische Glücksforschung mehr als ausreichend belegt, hier zum Tragen kommt. Mag eine positive wirtschaftliche Lage auch richtig beurteilt sein, Stimmungen, die scheinbar nicht mit der Lage „übereinstimmen“, sind deshalb nicht gleich falsch. Sie stehen vielmehr außerhalb der Alternative von wahr oder falsch. Sie sind jedermanns Recht auf Irrtum und die Freiheit, nicht zu seinem Glück gezwungen werden zu können. Jemanden davon zu überzeugen, dass es ihm „eigentlich“ gut geht, gleicht dem Versuch, ein Kind dadurch zum Essen zu bewegen, dass man ihm die Hungertoten in der Dritten Welt in Erinnerung ruft. Es gibt hier kein „Eigentlich“, allenfalls ein Verweisen auf Relationen.

Appelle

Von dem Schriftsteller André Gide stammt der Ausspruch, „mit guter Gesinnung macht man schlechte Literatur“. Genauso könnte man sagen, mit guter Stimmung macht man schlechte Wirtschaftssoziologie.[5] Denn der „Stimmungsmacher“ bewegt sich in einem Minenfeld aus Widersinnigkeit, Trivialität und Halbwahrheit.

Die Stimmung will in gewisser Weise alles, weil sie aufs Ganze geht, nämlich die Welt insgesamt. Wer einen Stimmungswechsel fordert und damit die Macht autosuggestiver Prozesse beschwört, gerät angesichts des umfassenden Charakters von Stimmungen schnell in ein unvermeidbares Paradox. Dieses Paradox hat schon der Revolutionsidee des Marxismus gehörige Schwierigkeiten bereitet. Es entsteht aus der These, erst, wenn einmal alles anders geworden sei, könne auch endlich alles anders werden. In Hinblick auf die Stimmung gemünzt: Wenn erst die Stimmung, die alles färbt, eine bessere sei, werde damit auch alles andere besser. Aber was ist dieses Andere, dieses Stimmungslose, wenn nichts ohne Stimmung ist? Etwa die objektive wirtschaftliche Lage? Warum sollte ausgerechnet sie es sein, wenn Lage und Stimmung doch gar nicht deckungsgleich sein müssen? Und macht nicht gerade der gesellschaftliche Stimmungsaufheller am meisten auf die Kluft zwischen tatsächlicher und gewollter Stimmung aufmerksam? Fragen sie sich: Bessert sich ihre persönliche schlechte Stimmung, wenn sie dauernd aufgefordert werden, guter Dinge zu sein? Außerdem: Setzt nicht der Appell an die gute Stimmung gerade eine Stimmung voraus, die einen Stimmungswechsel überhaupt erst möglich macht? Liegt nicht zwischen guter und schlechter Stimmung die stimmungsmäßige Bereitschaft auf einen Wechsel, an die Appelle – wenn man sie denn will – eigentlich gerichtet sein müssten? Eine Wechselstimmung also?

Der Gläubige der bloßen Aufbruchsstimmung kann solche Fragen nicht beantworten, weil er sie erst gar nicht stellt. Er ist viel zu sehr von der Alltagsweisheit fasziniert, dass Stimmungen in der Tat ansteckend sein können, dass hier tatsächlich Effekte positiver Rückkopplung möglich sind, bei denen Ursache und Wirkung die Plätze tauschen und man sich „in Stimmung bringt“. Diese Faszination hat inzwischen einer ganzen Industrie persönlicher und kollektiver Selbstheilungen für viel Geld das Mantra des „think positive!“ beigebracht. Ihre Gefahr besteht einerseits in einem Vergessenmachen realer politischer Handlungsmöglichkeiten und –notwendigkeiten. Sie missverstehen andererseits aber auch das, was eine schlechte Stimmung ausmacht. Schlechte Stimmung hat manchmal ihr gutes Recht. Es ist banal zuzugeben, dass wohl kaum jemand etwas gegen gute Stimmung hat (obwohl es auch hier Ausnahmen gibt, die keinesfalls nur pathologischer Natur sind). Aber wer, und sei es auch in guter Absicht, die Stimmung über den Weg der Stimmung heben will, darf nicht den Fehler begehen, „schlechte“ mit „falscher“ und „gute“ mit „richtiger“ Stimmung zu identifizieren. Und dies nicht nur, weil Lage und Stimmung sich unabhängig von einander zeigen können. Sondern auch, weil in der Bekundung schlechter Stimmung eine Authentizität zu finden ist, die weder hinterfragt werden will noch kann. Wenn der Appell diese Authentizität einfach normativ überspringt, schlägt er in pure Ignoranz um.

Was so besonders an der Bekundung schlechter Stimmung ist, hat Gilbert Ryle einmal folgendermaßen beschrieben: „Wenn jemand sagt: ‚Ich fühle mich gelangweilt’ oder ‚Ich fühle mich niedergeschlagen’, so ersuchen wir ihn nicht um sein Beweismaterial oder verlangen, dass er sich vergewissere. Wir mögen ihn der Täuschung oder Selbsttäuschung beschuldigen, aber wir beschuldigen ihn nicht, bei seinen Beobachtungen achtlos oder bei seinen Schlußfolgerungen vorschnell gewesen zu sein, da wir seine Eröffnung nicht für einen Bericht von Beobachtungen oder Schlußfolgerungen halten. […] Wenn man gesteht: ‚Ich fühle mich niedergeschlagen’, tut man eines der Dinge, die man eben in der Stimmung der Niedergeschlagenheit tut, nämlich eine gesprächsweise Mitteilung. Das ist nicht ein Stück wissenschaftlicher Prämissenlieferung, sondern ein Stück gesprächsweise Trübsalblasens. Wenn wir Verdacht schöpfen, fragen wir darum auch nicht ‚Dichtung oder Wahrheit?’, ‚Richtig oder falsch?’, ‚Verläßlich oder unverlässlich?’, sondern ‚Echt oder gespielt?’ Das gesprächsweise Geständnis von Stimmungen verlangt nicht Scharfsinn, sondern Offenheit. Es kommt vom Herzen, nicht vom Kopf. Es ist nicht Entdeckung, sondern freiwilligen Nicht-verbergen. […] Es ist ein den meisten dieser Verwendungen gemeinsames Merkmal, daß der Sprecher keine weiteren Fragen gestellt haben will. Sie wären nämlich unbeantwortbare oder nicht stellbare Fragen. Daß er etwas fühlte, genügt, um manche Debatten zu beenden; daß er es bloß fühlte, genügt zu zeigen, daß Debatten gar nicht beginnen sollten.“[6]

Mit anderen Worten: Appelle vergessen, dass Stimmungen ein Monopol ausüben. Sie sind exklusiv. Wenn man sich in einer bestimmten Stimmung befindet (mit gewissen Einschränkungen bezüglich zusammengesetzter Stimmungen), dann heißt das, dass man sich nicht in einer anderen Stimmung befindet. In der Stimmung zu sein, so oder so zu handeln, heißt gleichzeitig, nicht in der Stimmung zu sein, auf eine andere Art zu handeln. Nur wenn der Appell deshalb schon eine Stimmung hat, an die er positiv anknüpfen kann – Bereitschaft, Neugier etc. – kann er überhaupt etwas bewirken. Dann aber ist der eigentliche Schritt schon geleistet, und zwar nicht durch den Appell selbst, sondern durch den, an den er gerichtet war. Und vielleicht noch nicht einmal das. Denn Stimmungen sind auch Geschehen, ein Widerfahrnis. Sie stellen sich ein, sie schlagen um, sie verändern sich. Sie haben im strengen Sinne keinen Akteur, der in der Lage wäre, sie nach seiner Willkür zu lenken. Die Forderung nach einem „Ruck“ ist aus diesem Grund auch eine prinzipiell unerfüllbare Forderung. Sie ist ein widersprüchlicher Appell, ähnlich der Aufforderung „Sei spontan!“ oder „Hör nicht auf das, was ich sage!“ Weniger haben wir eine bestimmte Stimmung als eine bestimmte Stimmung uns. Gerade, wenn es einem wirklich einmal gelingen sollte, sich münchhausengleich in eine andere Stimmung zu versetzen: Schon in der individuellen Erfahrung ist dieser Vorgang etwas, das einem vor allem „passiert“. Mehr als allenfalls begünstigende Bedingungen haben wir nicht in der Hand. Wenn aber bereits die individuelle Erfahrung nur eine anonyme Urheberschaft von Stimmungen aufweisen kann, wie sollten dann Appelle greifen können, die von Anfang an schon an einen anonymen Adressaten gerichtet sind, nämlich „die Wirtschaft“?

Und nun?

Es gilt, bescheiden zu bleiben. Die wirtschaftliche Stimmung ist Angelegenheit lediglich zweier Instanzen: Derjenigen, die sie mit wirtschaftswissenschaftlichen Instrumentarien und metho-dologischer Gewissenhaftigkeit möglichst zu beschreiben suchen. Und derjenigen, die in der Lage sind, guter Stimmung einen Anlass zu schaffen. Der Rest ist überflüssige Rhetorik, die oft genug mehr schadet als nützt. Die Mahnung, mit Stimmungen vorsichtig umzugehen, ist zu offensichtlich richtig, als dass es noch jemanden geben könnte, der sie nicht gerne und möglichst dem Anderen auf den Stammtisch schriebe. Die ökonomische Stimmung bedarf auch keines Trostes, der doch nicht zu trösten vermag. Allenfalls kann dem wirklichkeitsresistenten Schwarzseher seine partielle Blindheit vor Augen geführt werden. Das ist aber kein beabsichtigter Trost, sondern nur korrekte Analyse. Ebenso braucht die Stimmung einen Schutz vor dem steten Appell an sie. Wären Mahnrufe an die Stimmung sinnvoll möglich, wären sie auch schon überflüssig. Wer angesichts der Eigendynamik von Stimmungen gar einen neuen gesellschaftlichen Aufbruch einfordert, kann vom Verdacht der Anmaßung und Selbstüberschätzung nicht gänzlich freigesprochen werden. Überlassen wir die Stimmung also lieber ein wenig mehr sich selbst. Arbeiten wir nicht an ihr, sondern für sie. Denn wie der Zwang zur Ernsthaftigkeit oft genug zum Lachen reizt, macht sich gute Stimmung nicht selten gerade bei denen breit, die sie sich fast schon verboten haben.

“Gehirngerechtes Denken” Über Neuro-bullshitting in der Pädagogik

Terminologische Distanz gegenüber einem wissenschaftlichen Gegenstand lässt sich auf quantitativem oder qualitativem Wege gewinnen. Beim quantitativen Verfahren wird der Abstand zu einem Phänomen durch zunehmende Abstraktion, d.h. den Rückgriff auf allgemeinere Begriffe erreicht. Bei der qualitativen Methode dagegen wird der Distanzierungsgewinn durch die Wahl anderer Begriffe als der üblich verwendeten erzielt. Ein Beispiel für Verfremdungsversuche dieser Art ist die Wissenschaftsparodie. Wie der Titel gebende Ausdruck “gehirngerechtes Denken” zeigt, fühlen sich die folgenden Überlegungen einer so verstandenen “fröhlichen Wissenschaft” durchaus verpflichtet – nicht als Selbstzweck, sondern vielmehr, um gerade den Ernst der Lage zu berücksichtigen. Damit einige aktuelle Auseinandersetzungen um den menschlichen Zerebral-Apparat nicht noch weiter Opfer fehlenden Sinnes für die eigene Humorlosigkeit werden, muss deshalb anfänglich und leider ausdrücklich darauf hingewiesen werden: Der Neologismus “gehirngerechtes Denken” ist ein Nonsens-Ausdruck! Er ist weder dazu gedacht noch dazu geeignet, einen neuen Topos jener heutigen Neuro-Rhetorik zu begründen, die sich so gerne von sich selbst faszinieren lässt. Man hat diesen Ausdruck deshalb auch sorgfältig in Anführungszeichen zu setzen, die gleichsam als intellektuelle Gitterstäbe fungieren und einen Ausbruch in die freie Wildbahn verhindern sollen.

Für einen Gutteil der Humanwissenschaften ist das Gehirn mittlerweise zum Lieblingsorgan avanciert.[7] Dass Aristoteles einst die Hand als das “Organ der Organe” und als den körperlichen Ausdruck menschlicher Vernunftbegabung auszeichnete[8], goutiert heutzutage allenfalls noch die Paläoanthropologie. Die Mehrzahl der vor allem jungen Wissenschaftszweige, “macht jetzt in Gehirnen”. Dass dieser Trend zu einer Zerebralisierung von Problemen auch in der Erziehungswissenschaft vollends angekommen ist, verwundert zunächst nicht. Pädagogik ist eine Integrationswissenschaft und als solche auch aus guten Gründen auf Erkenntnisse etwa der Biologie, Medizin und Psychologie angewiesen. Auffällig ist allerdings, mit welch naivem Enthusiasmus teilweise immer noch pädagogische Adaptionsversuche der modernen Hirnforschung unternommen werden. Es entsteht deshalb der Verdacht, dass eine naturalisierte Pädagogik hier nicht besonders große Integrations-, sondern vielmehr gerade besonders große Delegationsleistungen erbringt, die von einem schlichten Ausverkauf ureigener Fragestellungen erst noch unterschieden werden müssten. Die Pädagogik, nach wie vor in einem prä-paradigmatischen Zustand verhaftet und nach über zweihundert Jahren immer noch mit ihrem Wissenschaftscharakter hadernd, hat sich im Kampf gegen die eigene Überflüssigkeit unbemerkt oft genug schon selbst auf die Seite ihrer Gegner gestellt. Das Heilsversprechen jener hochgradig komplex organisierten Proteine in unserem Kopf ist aber auch in der Tat verführerisch. Der Rekurs auf biologische Materialität verheißt Seriosität – endlich könnte vielleicht auch die Pädagogik “hard science” betreiben. Dass die vermeintliche Leitwissenschaft Physik den Materiebegriff schon seit Jahrzehnten für im Grunde verzichtbar erklärt hat[9], irritiert dabei erstaunlich wenig. Wer, wie etwa Manfred Spitzer, Neurobiologie als “Medizin für die Pädagogik“[10] verordnen will, muss die Krise des physikalischen Materiebegriffs sowie des philosophischen Materialismus insgesamt[11] schon recht offensiv ignorieren, um nicht womöglich die Idee aufkommen zu lassen, man würde bloß Placebos feilbieten. Der Mensch ist, so macht der rhetorische Aufwand all jener glauben, die so gerne das Gefühl haben, endlich ohne große Mühe irgendwie modern sein zu können, vor allem ein “Gehirnwesen”[12]. Der pädagogische Ausdruck dieser Annahme ist besonders der Topos vom “gehirngerechten Lernen”.

Ihn zu hinterfragen ist das Ziel, das sich unsere Überlegungen im Folgenden gesetzt haben. Der Gedanke ist: Wenn uns schon der Begriff “gehirngerechtes Denken” unsinnig erscheint, warum sollten wir dieses Urteil dann nicht auch auf den Begriff vom “gehirngerechten Lernen” anwenden? Was der fröhlichen Wissenschaft ihr gehirngerechtes Denken – so der Vorschlag – ist der ernsthaften Erziehungswissenschaft womöglich ihr gehirngerechtes Lernen: ein ausgemachter Unsinn, ein regelrechter bullshit, dem man auch in anderen gängigen Topoi begegnen kann: Der “gehirngerechten Schule”, der so genannten “Neuro-Didaktik”, dem Ausdruck “Gehirn-Jogging”, dem Scientologen-Geschwätz davon, wir würden nur so und soviel Prozent unseres Gehirns “nutzen” oder auch der pseudo-demaskierenden Rede davon, unser Gehirn sei unser eigentliches und größtes “Sexualorgan”.[13] All solche mehr als schiefen Ausdrücke wären nicht so beklagenswert, wenn sie nicht gleichzeitig so viel Schaden anrichten könnten und es viel normaler wäre, ihnen mindestens gelegentlich einfach offen ins Gesicht zu lachen.[14] Denn, wie es bei Nietzsche heißt: “wer am gründlichsten tödten will, der lacht. 'Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tödtet man' [...].”[15]

Beginnen wir zunächst mit dem Begriff der “Gehirngerechtigkeit” selbst. Er erzeugt schnell eine diffuse Grundsympathie, die sich zweifellos der moralischen Komponente des Gerechtigkeitsbegriffs verdankt. Wer wollte schon gerne ungerecht sein? Wer wollte den Dingen nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen? Fragen dieser Art zeigen eine Merkwürdigkeit: Sie wenden sich an uns, an unser Denken, nicht an unsere Gehirne. Offensichtlich können sich Gehirne nicht selbst Gerechtigkeit verschaffen. Vielmehr soll dem Gehirn Gerechtwerdung ausgerechnet durch jene Figuren erwachsen, die die Hirnforschung so eifrig bemüht ist, als bloße Illusion zu entlarven, nämlich Menschen bzw. Personen. Gehirngerechtigkeit als Appell richtet sich komischerweise immer noch an die Adresse von Psychologen, Pädagogen, Philosophen usw., nicht aber an deren Zerebral-Apparate. Wie diese Inkonsistenz des Appells zu lösen ist, ist eine Frage, die wohl nur eine zukünftige und selbst “gehirngerechte Hirnforschung” wird beantworten können.[16] Halten wir bis dahin aber fest: Gehirne selbst fordern überhaupt nichts, auch keine Gehirngerechtigkeit. Das tun allenfalls Hirnforscher, die sich als Personen an andere Forscher richten, die ebenfalls Personen sind, die damit leider aber genau in eine Kategorie fallen, die die Hirnforschung so gerne fallen lassen würde, nämlich in die Kategorie des guten alten rationalen Subjekts, das womöglich sogar noch einen freien Willen für sich beansprucht.

Gehirngerechtigkeit ist, wie wir gesehen haben, appellativ zu verstehen. Es geht um eine Forderung. Doch das postulatorische Element des Ausdrucks ist nicht allein im Begriff der Gerechtigkeit aufgehoben, unter der Hand wird auch der Begriff des Gehirnes selbst normativ aufgeladen. Denn in der pädagogischen Forderung nach Gehirngerechtigkeit ist doch wohl nur eine bestimmte Art von Gehirn vermeint. Der Fokus auf spezifische Formen des Lernens, beispielsweise das in schulischen Kontexten, bringt schnell eine Nobilitierung ganz enger Ausschnitte aus der weiten Wunderwelt neurologischer Möglichkeiten mit sich. Wer ein gehirngerechtes Lernen fordert, wird dabei in den seltensten Fälle die Gehirne von Schizophrenen, Demenzkranken, Träumenden, Komapatienten oder gar Hirntoten zum Richtmaß wählen. Er wird vielmehr mit einer Vorstellung davon arbeiten, was wohl ein “normales” und “gesundes” Gehirn auszeichnen solle. Die medizinischen Wurzeln der Hirnforschung lassen solche Limitationen durchaus verständlich werden. Und die wenigsten von uns wären denn auch wohl bereit, von nun an freiwillig unter massiven neuronalen Beeinträchtigungen zu leiden, um damit gegen den vermeintlich abendländischen Terror einer normierenden Medizin endlich ein Zeichen zu setzten zu können. Doch darum ist es auch gar nicht zu tun. Vielmehr ist nur darauf zu achten, dass normative Anteile unseres wissenschaftlichen Treibens möglichst explizit sind, damit sie kritisiert und gegebenenfalls verändert werden können. Normen muss man legitimieren. Wir rechtfertigen Normen aber nicht vor Gehirnen, sondern durch unser Denken und vor unserer Vernunft. Hier stoßen wir also schon zum zweiten Mal auf die scheinbar unzeitgemäße Figur unseres Ich bzw. urteilenden Bewusstseins, die in einem Hirnatlas zu verorten die Forschung bislang immer noch nicht die Chuzpe gefunden hat.[17] Wenn es um das Prinzip geht, einem Phänomen gerecht zu werden, dann müssen wir also immer fragen: Sind Ansprüche, einer bestimmten Tatsache gerecht zu werden, selbst wiederum gerechtfertigt? Würde man lediglich versuchen, Faktizitäten zu berücksichtigen, könnte man auch Forderungen nach “gehirngerechter Folter” oder “Pädophilen-gerechten Schulen” erheben.

Eine neue Stufe auf dem Weg zur Absicherung eines Minimalstandards an Unsinnigkeit erreicht der Begriff des gehirngerechten Lernens, wenn wir nun prüfen, ob seiner appellativen Komponente überhaupt sinnvoll nachgekommen werden kann. Ist die Forderung nach einem gehirngerechten Lernen eigentlich prinzipiell erfüllbar? Die Antwort auf diese Frage ist ein klares: Nein! Begründet ist dieses negative Ergebnis in der Merkwürdigkeit, dass das, was für die Hirnforschung zu sprechen scheint, in diesem Kontext gerade gegen sie spricht. Ihre vermeintliche Stärke resultiert hier nur aus einer unbemerkten Schwäche. Woher nämlich bezieht die Hirnforschung ihre vermeintliche Legitimität, im pädagogischen Geschäft Gehör verlangen zu dürfen? Aus der schwer bestreitbaren Tatsache, dass das menschliche Gehirn eine notwendige biologische Voraussetzung für all das ist, was wir als menschliche Lernleistungen betrachten. Es geht nicht ohne, es ist immer dabei. Wenn diese Prämisse, aus der die Neurobiologen ihr Selbstbewusstsein beziehen, aber gilt, wird deren normative Umformulierung im besten Fall zu einer bloßen Banalität und im schlimmsten Fall zu einer ausgewachsenen Verwechslung. Ist das Gehirn eine conditio sine qua non jeglicher menschlicher Lernphänomene, dann auch für dasjenige Lernen, das Neuro-Pädagogen als “nicht-gehirngerechtes Lernen” bezeichnen würden. Ein Gehirn, das immer mit beteiligt ist, ist auch dann beteiligt, wenn scheinbar “falsch”, “suboptimal” oder auch “gar nicht” gelernt wird.[18] Wenn das Gehirn das Nadelöhr ist, durch das jegliches Lernen hindurch muss, wird die Forderung nach einem gehirngerechten Lernen genau deshalb zu einer reinen Posse, weil Lernen immer schon dem gerecht wird, was Gehirne eben faktisch tun, wenn wir lernen. Man kann nicht sinnvoll ein gehirngerechtes Lernen einklagen, wenn jegliches Lernen oder Nicht-Lernen qua Biologie von vorneherein in Korrelation zu dem steht, was in einem Gehirn nun einmal de facto vorgeht. Wenn man schon biologisch denkt, dann muss man auch zugeben, dass es gar kein nicht-gehirngerechtes Lernen geben kann. Die Forderung nach einem gehirngerechten Lernen ist unter dieser Voraussetzung nichts anderes als die Einforderung dessen, was eh schon stattfindet und gar nicht anders stattfinden kann. Sie ist ein überflüssiges Postulat, das lautstarke Einrennen weit offener Scheunentore, das aber dennoch ähnlich verunsichernd wirken kann, wie jene Politiker, die öffentlich nach Gesetzen schreien, die es schon längst gibt. Im Sinne der deontischen Logik liegt hier nichts weniger als ein Verstoß gegen die Regeln einer adäquaten Rede vor. Wovon man will, dass es sein soll, darf nicht sowieso schon der Fall sein bzw. dessen Gegenteil darf nicht alleine schon unmöglich sein. Wer Sein und Sollen logisch nicht unterscheiden kann, wirkt im besten Fall noch ungewollt komisch. Würden wir etwa jemandem, der uns ernsthaft aufforderte, uns bitteschön in Zukunft an die Gesetze der Gravitation zu halten, nicht ähnlich milde lächelnd begegnen wie jemandem, der uns bitten würde, endlich keine dreieckigen Vierecke mehr zu malen? Gehirne tun, was Gehirne tun, ob wir nun lernen oder scheinbar nicht lernen. Jedes Lernen oder Nicht-Lernen wird dem Gehirn des Lernenden oder Nicht-Lernenden “gerecht”. Wer das bestreitet, verlässt die Ebene biologischer Tatsachen zugunsten jener normativen Vorstellungen davon, was ein Gehirn ausmachen soll, die wir oben schon angesprochen haben. Einer solchen normativen Vorstellung könnte ein Gehirn dann freilich in der Tat “gerecht” bzw. “gerecht gemacht” werden, nämlich durch Eingriff in die biologische hardware selbst – negativ etwa durch Lobotomie, positiv beispielsweise durch das Implantieren von Biochips.

[...]


[1] Mandeville 1968, S. 154.

[2] Schopenhauer 1988, S. 325.

[3] Heidegger 1986, S. 137.

[4] Vgl. Platon 1990, 85e.

[5] Bourdieu / Chamboredon / Passeron 1991, S. 273.

[6] Ryle 1969, S. 133 ff.

[7] Für die Geschichtswissenschaft gilt dies noch nicht, wäre der Unwert eines Verweises auf das menschliche Gehirn hier doch allzu offensichtlich. Man würde etwa behaupten müssen, „die Geschichte Europas vom 10. Jahrhundert bis in unsere Tage sei eine Anhäufung des Prozesses der Nervenleitung: das stimmt zwar, ist aber völlig belanglos.“ (Merleau-Ponty 2000, S. 353) Zur Banalität einer materialistischen Geschichtsschreibung vgl. bereits Leibniz 1996a, S. 366f.

[8] Vgl. Aristoteles 2007, 687a.

[9] Vgl. Einstein / Infeld 1960, S. 162 und Kutschera 1982, S. 251.

[10] Vgl. Spitzer 2011.

[11] Vgl. Kutschera 1993, S. 1-40, Kutschera 2003, S. 11-37, Kutschera 2006, S. 198-209 und Kutschera 2009, S. 162-170.

[12] Treml 1987, S. 48.

[13] Unser „größtes Sexualorgan“ – wenn man überhaupt so reden möchte – ist, wie wir seit Freud wissen, exakt genau-so groß wie unser Körper insgesamt.

[14] Ähnliches gilt etwa auch für die Unsinns-Forderung nach „lebenslangem Lernen“, die in etwa so nützlich ist wie die Forderung nach „lebenslangem Atmen“.

[15] Nietzsche 1993, S. 392.

[16] „Hirnforschung darf sich nicht in einen Durchführungswiderspruch verwickeln (wie wenn jemand in brüllender Lautstärke behauptet, er flüstere gerade […]). Sonst dementiert sie sich selbst, indem sie den Menschen als Objekt so beschreibt, dass er nicht mehr als Subjekt eben diese Wissenschaft und eben diese Beschreibung hervorbringen kann. Hirnforschung würde damit einen 'transsubjektiven' Geltungsanspruch verlieren.“ (Janich 2009)

[17] Vgl. hierzu Leibniz: „Denkt man sich etwa eine Maschine, deren Einrichtung so beschaffen wäre, daß sie zu denken, zu empfinden und zu perzipieren vermöchte, so kann man sie sich unter Beibehaltung derselben Verhältnisse vergrößert denken, so daß man in sie wie in eine Mühle hineintreten könnte. Untersucht man alsdann ihr Inneres, so wird man in ihm nichts als Stücke finden, die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus man eine Perzeption erklären könnte.“ (Leibniz 1996b, S. 605 [Nr. 17])

[18] So ist es denn auch höchst verwirrend, wenn als pädagogische Schlussfolgerung aus der Hirnforschung beispielsweise die scheinbare Erkenntnis erwächst: „Manche Lernstörungen haben eine neurologische Grundlage“ (Woolfolk 2008, S. 36).

Ende der Leseprobe aus 60 Seiten

Details

Titel
Scholia I. - Texte zu Pädagogik, Philosophie und Ökonomie
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg  (Pädagogik)
Autor
Jahr
2011
Seiten
60
Katalognummer
V180555
ISBN (eBook)
9783656034506
ISBN (Buch)
9783656034681
Dateigröße
1497 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
scholia, texte, pädagogik, philosophie, ökonomie
Arbeit zitieren
Dr. Holger Wille (Autor:in), 2011, Scholia I. - Texte zu Pädagogik, Philosophie und Ökonomie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/180555

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