Understanding David Lynch

Über die Dekonstruktion misogyner Elemente des klassischen Hollywoodfilms in "Mulholland Drive" und "Lost Highway"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

35 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Understanding David Lynch: Wege zur Deutung
2.1 Naive Ansätze zu Lost Highway und Mulholland Drive
2.1.1 Ein mystischer Thriller?
2.1.2 Paralleluniversen in Hollywood
2.2 Lynchville psychoanalytisch: Todd McGowan/Slavoj Žižek
2.2.1 Lost Highway
2.2.2 Mulholland Drive
2.3 Vergleich der Ansätze
2.4 „ I thought sleep would do it ” - Versuch einer lückenlosen Interpretation ..
2.4.1 Träume, Traumdeutung und Film
2.4.2 Die richtige Reihenfolge

3 Die Dekonstruktion misogyner Elemente des klassischen Hollywoodfilms
3.1 Der Traum als stilistisches Mittel zur Darstellung von Stereotypen
3.2 Reproduzierte Misogynie zum Zweck der Entlarvung
3.3 Übertreibung und Ironie
3.4 Weibliche vs. männliche Misogynie

4 Literaturverzeichnis
4.1 Primärwerke
4.2 Sekundärliteratur

5 Abbildungen

1 Einleitung

Enigmatisch, irritierend, verstörend oder doch künstlerisch wertvoll? Das Spektrum der Einschätzungen zu David Lynchs Filmen ist ein breites. In einem Punkt sind sich die Rezipienten jedoch einig: Eine eigene Welt ist die Basis aller Werke des Regisseurs, „eine Welt, welche substantiell anders geartet ist als jene, die dem Zuschauer konventi- onell bekannt ist“ (Tober). Entgegen des Vorwurfs zahlreicher Kritiker, Lynchs Filme stellen lediglich „eine gezielt sinnlose Aneinanderreihung interessanter aber letztendlich wahlloser Bilder und Momente“ (Blanchet) dar und eine narrative Logik sei nicht zu erwarten (cf. Rhodes 57), geschieht die Umsetzung des Filmstoffes äußerst methodisch, rational und präzise (cf. Jenny) - oder wie David Lynch, der sich sonst mit Äußerungen zur Konstruktion seiner Filme stark zurückhält, es zusammenfasst: „Man kann nicht nur wild rumspinnen und verrückt sein, sonst findet man ja seine Pinsel und Farbtöpfe gar nicht und bringt nichts zu Stande“ (ibid.). Bezüge zur bildenden Kunst sind dabei nicht alleine sinnbildlich zu verstehen, denn Lynch ist auch auf diesem Gebiet tätig; erst von November 2009 bis April 2010 stellte er seine Werke in einem deutschen Museum aus, empfohlen wurde ein Mindestalter von 18 Jahren bei dem Besuch von David Lynch - Dark Splendor (cf. Alt). Der Regisseur zeigte hier neue Bilder und Tableaus, aber auch „wenig bekannte Kurzfilme aus seiner Zeit an der Akademie“ (Alt) - der Pennsylvania Academy of the Fine Arts, an der Lynch in den 1960ern studierte. Bedenkt man seinen universitären Hintergrund, verwundert die methodische und organisierte Vorgehenswei- se kaum; nur auf diesem Fundament kann „man sich dann seinen kreativen Impulsen überlassen und so verrückt spielen […], wie man nur will“ (Jenny). Bestätigt wird dies durch die lange Zeitspanne, die Lynch in die Produktion seiner Filme investiert: Alleine für Lost Highway benötigte er fünf Jahre (cf. McGowan 154).

Dass Lynch sich vehement weigert, Erläuterungen zu seinen Filmen abzugeben (cf. Blanchet), beziehungsweise zum Teil widersprüchliche Angaben macht, nährt böswilli- ge Unterstellungen zu deren möglicher Sinnfreiheit sicherlich. Zugleich gibt der US- Amerikaner allerdings an, dass korrekte Interpretationen durchaus möglich sind und dass die entsprechenden Hinweise nur richtig ausgewertet werden müssten (cf. Blanchet). Dieser Behauptung soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden. Zahlreiche Rezipienten, darunter anerkannte Medienwissenschaftler, haben sich bereits an einer Deutung versucht; die populärsten Ansätze sollen im Folgenden exemplarisch anhand der Filme Mulholland Drive und Lost Highway auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden. Anschließend soll eine innovative Interpretation vorgestellt werden, auf deren Basis schließlich auf einen weiteren zentralen Kritikpunkt eingegangen wird. Bei diesem auffallend häufig geäußerter Vorwurf gegenüber Lynchs Filmen handelt es sich um den der ihnen - zumindest angeblich - innewohnenden Misogynie (cf. Wild 8). Laut Jana Evans Braziel äußert sich diese „especially in terms of his depictions of femininity, masochism and the female body as sites of graphic violence” (108); man bemängelt darüber hinaus, Frauen würden bei Lynch eindimensional dargestellt und hätten keinerlei positive Eigenschaften (cf. Wild 8). Andere Kritiker glauben, eine ste- reotype und binäre Darstellung von Frauen sowie den häufigen Einsatz des objektivie- renden male gaze erkennen zu können (cf. Schaffner 271). Anna Katharina Schaffner greift diese Kritikpunkte in ihrem Essay ‚Fantasmatic Splittings and Destructive Desires‘ auf und stellt ihnen eine innovative These gegenüber: Zwar zeichne Lynch seine Frauenfiguren auf stereotype und eindimensionale Weise und auch der male gaze werde häufig verwendet, doch geschehe dies unter einem rein feministischen Gesichts- punkt: Indem er bewusst zu derlei Darstellungen greife, thematisiere und dekonstruiere Lynch misogyne Elemente klassischer Hollywoodproduktionen (cf. ibid.). Diese An- nahme soll in der vorliegenden Arbeit, ebenfalls anhand von Mulholland Drive und Lost Highway, einer genaueren Analyse unterzogen werden. Dabei wird gezeigt, dass die unverschleiert stereotypen Darstellungen von Frauen durch die den Filmen zugrundelie- gende Ironie schlichtweg ad absurdum geführt werden. Auf diese Weise soll Schaffners These verifiziert und - sofern möglich - ergänzt werden. Insgesamt wird die vorliegen- de Arbeit also ganz im Zeichen einer Aufdeckung des richtigen Verständnisses von Lynchs Filmen stehen - sowohl auf der Inhalts- als auch auf der Intentionsebene.

2 Understanding David Lynch: Wege zur Deutung

Anknüpfend an die Feststellung, dass Lynchs Filme keineswegs als sinnfreie Aneinan- derreihung bedeutungsloser Szenen verstanden werden dürfen, sollen nun die wichtigs- ten Ansätze zur Deutung der Werke vorgestellt werden. Ausgeschlossen werden dabei zunächst diejenigen Interpretationen, welche sich mit einer möglichen Intention des Regisseurs oder der Machart der Filme befassen; die Inhaltsebene soll hier im Vorder- grund stehen. Die zu beantwortenden Fragen lauten also: Wie können Lost Highway und Mulholland Drive inhaltlich gedeutet werden? Was geschieht und was nicht?

Unter den inhaltsbezogenen Deutungsversuchen herrschen zwei Ansätze vor: naive und psychoanalytische Interpretationen. Als naiv müssen in erster Linie diejenigen verstan- den werden, welche die Filme wörtlich nehmen, indem sie beispielsweise übersinnliche Erklärungen vorschlagen und jegliche Ironie oder gar unstimmige Aspekte ignorieren. Derlei Ansätze erfreuen sich insbesondere unter Lynchs Kritikern, aber auch bei wis- senschaftlich uninteressierten Zuschauern besonderer Beliebtheit. Sollten jedoch, da Lynch selbst großen Wert auf methodische Präzision legt, nicht umfangreichere, wis- senschaftlich begründbare und gleichwohl komplexere Erklärungen in Betracht gezogen werden? Um diese Frage zu klären, sollen anschließend die psychoanalytischen Unter- suchungen von Todd McGowan und Slavoj Žižek herangezogen werden. Sind hiermit schlüssigere Interpretation von Lost Highway und Mulholland Drive zu konzipieren oder wird durch die Argumentation mit der Psychoanalyse einzelnen Elementen der Filme doch zu viel Bedeutung beigemessen? Da Žižeks und McGowans Theorien stel- lenweise abstrakt anmuten, werden zunächst ihre theoretischen Grundlagen erläutert. Danach sollen diese, neben den angesprochenen naiven Sichtweisen, auf die ausgewähl- ten Filme angewendet und die jeweils stimmigste Interpretation bestimmt werden. Zu- letzt soll eine weitere mögliche und innovative Deutung vorgestellt werden - Mulhol- land Drive und Lost Highway als Träume. Inwiefern es sich um einen neuartigen Ansatz handelt, soll unter dem entsprechenden Punkt 2.4 näher erläutert werden.

Um Wiederholungen und Ausschweifungen zu vermeiden, wurden für die vorliegende Untersuchung Sequenzprotokolle zu Lynchs Mulholland Drive und Lost Highway angefertigt.1 Wird auf eine gesamte Szene Bezug genommen, soll deren spezifische Nummer im Folgenden als Referenz angeführt werden; direkte Zitate werden weiterhin anhand ihres Zeitpunktes im Film belegt. Da Lynchs Filme offenkundig nicht-chronologische Abläufe aufweisen, sind die vorliegenden Sequenzaufzeichnungen besonders ausführlich gestaltet - es handelt sich somit vielmehr um Szenen protokolle. Da eine Reorganisation der Szenen angestrebt wird, ist dies durchaus intendiert.

2.1 Naive Ansätze zu Lost Highway und Mulholland Drive

2.1.1 Ein mystischer Thriller?

Am populärsten unter den naiven Ansätzen zu Lynchs Lost Highway präsentiert sich die Annahme eines Teufelspaktes, den Protagonist Fred schließt. Die Rahmengeschichte ist bekannt: Der Saxophonist und „his sensuous but emotionally cold wife“ (Bryant 57) Renee führen eine unglückliche Ehe. Der Musiker ist äußerst paranoid und hinsichtlich der Treue seiner Frau misstrauisch [I-4] - ob dies gerechtfertigt ist oder nicht, wird nicht aufgeklärt. Im Sinne der Voraussetzung eines Teufelspaktes treibt die Eifersucht Fred schließlich zum Mord an Renee [I-12], für den er zum Tode verurteilt wird [I-14]. Durch einen Pakt mit dem Teufel erhält er jedoch eine zweite Chance, auch um das Ge- heimnis von Renee zu erfahren (cf. Thomas). Der Leibhaftige tritt in Gestalt des Mystery Man auf [I-10], die Schließung des Paktes selbst wird im Film nicht gezeigt. Fred erhält ein neues Leben, das er in Form des jüngeren, potenten und insgesamt sozial erfolgreicheren Peter genießt [II-4]. Zunächst erscheint dies als enorme Verbesserung, vor allem, als er Alice kennenlernt, die Renee bis auf die Haarfarbe gleicht und eine leidenschaftliche Affäre mit ihm beginnt [II-9]. Seine Rückverwandlung [III-1] und das Filmende [II-9] werden in erster Linie mit dem Betrug des Teufels an Fred begründet, durch den sich die Geschichte wiederholt und das Objekt der Begierde erneut uner- reichbar bleibt (ibid.). Zum Schluss flieht Fred, womöglich um seine Schuld bei dem Teufel nicht begleichen zu müssen. Doch er befindet sich bereits in der Hölle, welche aus der endlosen Wiederholung des Geschehens besteht - repräsentiert durch die Über- mittlung des Satzes „Dick Laurent is dead“ [III-8] durch Fred an sich selbst (ibid.).

Ob diese phantastische Interpretation von Lynchs Lost Highway gegen eine psychoana- lytische bestehen kann, soll im Folgenden gezeigt werden. Neben diesen beiden Optio- nen finden sich allerdings weitere Deutungen, welche zwar auf psychologischen Erklä- rungen basieren, mit psychoanalytischen Interpretationen allerdings wenig gemein ha- ben und denen das Prädikat naiv dennoch nicht angemessen ist. Der Vollständigkeit wegen sollen sie an dieser Stelle angesprochen werden. Den populären psychologischen Deutungen nach leidet Fred nun an einer dissoziativen Störung, welche sich laut ICD- 10, der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, „in teilweisem oder völligem Verlust der normalen Integration der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitäts- bewusstseins […] sowie der Kontrolle von Körperbewegungen“ (ICD-10 239) äußert. Hierzu zählen unter anderem die Multiple Persönlichkeitsstörung, welche ein Fred häu- fig unterstelltes Krankheitsbild darstellt, sowie Dissoziative Fugue, bei der es sich um den zeitgemäßen Ausdruck der von David Lynch angesprochenen „psychogenic fugue“ (Blanchet) handelt. Diese kann nach außerordentlich traumatischen Erlebnissen, zu de- nen sicherlich der Mord der Geliebten zählt, auftreten.

2.1.2 Paralleluniversen in Hollywood

Zum Erscheinungszeitpunkt von Lost Highway im Jahr 1997 wurde noch überwiegend in Zeitungen und anderen Printmedien über die richtigen Interpretationen zu Lynchs Filmen spekuliert. Es kann angenommen werden, dass der überwiegende Teil der Schreiber über eine medienwissenschaftliche Vorbildung oder zumindest Erfahrung verfügt, darüber hinaus unterliegen die Artikel für gewöhnlich vor der Veröffentlichung einer Korrektur. Der Medienalltag hatte allerdings, als Mulholland Drive 2001 erschien, einen gravierenden Wandel erlebt: Während 1997 nur 6,5% der Deutschen das Internet nutzten, waren es nun bereits 44,1% (cf. Von Eimeren 315). Da entsprechende Foren und private Internetseiten keiner Kontrolle hinsichtlich der Sinnhaftigkeit ihrer Beiträge unterliegen, lag alleine hier in kürzester Zeit eine Fülle an naiven Interpretationen vor, die sich sehr schnell verbreiteten. Besonders stark vertreten ist dabei die Theorie der Paralleluniversen. Das blaue Kästchen aus Bettys Tasche [1.29] fungiert in diesem Sin- ne als Portal zwischen den Welten und „although the box represents the only direct ac- cess to each universe, each character retains vestigial memories of their parallel universe counterpart” (Mulholland Dr.-Theories). Rita und Betty finden bereits kurz nach ihrem Zusammentreffen zu solch einer engen Beziehung [I-28], weil sie im Paral- leluniversum die Beziehung als Camilla und Diane führen [II-3]: „Rita recalls the name ‚Diane Selwyn‘. Adam even seems to recognize Betty at the audition“ (ibid.). Der Club Silencio spielt “in a realm between the two universes” (ibid.), Übergänge werden durch Überblendungen [I-1, II-11] dargestellt. Das alte Paar [I-9] und Tante Ruth [I-5] schüt- zen die Welt, in der Betty und Rita eine glückliche Beziehung führen, während der Cowboy [I-24] und die dubiose Film-Mafia [I-10] sie zu zerstören versuchen (cf. Mul- holland Dr.-Theories). Weitere Interpretationen schlagen vor, dass es sich beim ersten Teil um einen Film handelt, den Diane und Camilla gedreht haben, dass die Protagonis- tinnen eigentlich Geister sind oder es gar zur Reinkarnation gekommen sei (cf. ibid.).

2.2 Lynchville psychoanalytisch: Todd McGowan/Slavoj Žižek

In seiner Abhandlung The impossible David Lynch analysiert der amerikanische Film- wissenschaftler Todd McGowan nahezu alle bekannten Werke des Regisseurs, wobei dies anhand eines elementaren Oppositionspaares geschieht: desire und fantasy. Desire, zu Deutsch das Begehren, Verlangen oder auch der Wunsch, lässt sich in seiner wörtlichen Bedeutung verstehen. Es handelt sich um das (mögliche) Verlangen einer Person, das insofern problematisch ist, als dass es nicht kommunizierbar und somit nicht erfüllbar ist. Da jedwede menschliche Kommunikation, selbst körperliche Hand- lungen, sprachlicher Natur sind, stellen Versuche, das desire zu vermitteln, lediglich weitere Wege für die „illusion of hiding desire“ (McGowan 159) dar. Die Frage nach dem desire des Anderen ist also, so McGowan, eine „perpetual question“ (159), die niemals beantwortet werden kann. Eine Person befindet sich dementsprechend in stän- digem Unwissen über das desire des Anderen, woraus seitens des Fragenden wiederum das desire nach dem Erfassen des desire des Anderen entsteht. Dies erscheint zunächst als ausweglose Situation, denn wie schon ausgeführt wurde, kann dieses desire nicht erfüllt werden. Um mit ihm umgehen zu können, existiert allerdings die fantasy.

Das desire ist in der realen Welt zu verorten, in der Welt der fantasy ist es in gewisser Weise abwesend. Die fantasy kann sich nahezu gegenteilig zur Wirklichkeit gestalten, ist jedoch an unseren Realitätssinn und somit an bestimmte Eckpfeiler des eigenen Le- bens gebunden (cf. McGowan 155). Welche Art von Hilfestellung ermöglicht die fanta- sy dem desire -Geplagten nun? In erster Linie handelt es sich um Erleichterung, gegeben durch die Flucht vor dem desire, das hier nicht existent ist. Darüber hinaus kann die fantasy helfen, einen Sinn aus dem desire des Anderen zu schließen. Durch den Reali- tätsbezug der fantasy können irritierende Aspekte der Wirklichkeit, welche in Verbin- dung mit der Frage nach dem desire stehen, aufgegriffen und Lösungen durchgespielt werden, um so Brüche in der Realität zu kompensieren. Jedoch: „We don’t turn to fan- tasy for happiness or for respite from reality; we turn to it for respite from the torments of desire” (165), weshalb auch unangenehme Erklärungen für das desire des Anderen aufkommen können. Diese stellen jedoch ebenfalls eine Erleichterung dar, da das Un- wissen vermeintlich wegfällt.

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek interpretiert mit seinem psychoanalytischen Ansatz unterschiedlichste Filme, darunter auch die von David Lynch. Übereinstimmun- gen zu Todd McGowans Theorie sind unübersehbar, doch präsentiert sich Žižeks An- satz insgesamt komplexer und abstrakter. Im Gegensatz zu McGowan sieht er in Lynchs Filmen nicht allein ein Zusammenspiel von desire und fantasy, obgleich er diese Begrif- fe ebenfalls verwendet, sondern verweist des weiteren auf reality und das Reale.

Was unter desire zu verstehen ist, wurde bereits zuvor erläutert, doch benötigen alle weiteren Ausdrücke eine Erklärung. Fantasy besitzt laut Žižek zwei Zustände. Sie stellt eine Art Brille dar, durch die die Realität wahrgenommen wird. In diesem Sinne ist fan- tasy eine subjektive Sichtweise, die das individuelle Verständnis von der Realität orga- nisiert und einen Sinn aus der Welt erschließt (cf. Storey 83). Der Mensch kann dem- nach nur eine fantasierte reality wahrnehmen, jedoch nie die objektive Realität (cf. 84). Auch das Erleben von desire wird erst durch diese fantasy -Brille möglich: schließlich ist desire, so Žižek, kein natürlicher Bestandteil der menschlichen Natur, sondern viel- mehr künstlich und muss erlernt werden (cf. Fiennes [00:00:17]). In der fantasy werden dann das Objekt des desire sowie die Position des Subjekts in diesem Gefüge bestimmt (Storey 84). Gegenüber einer alltäglich-subjektiven Sicht auf die tatsächliche Realität kann fantasy des weiteren eine Steigerung annehmen, welche schließlich McGowans Verständnis entspricht. Ist ein Erlebnis „too traumatic, too violent, even […] too filled in with enjoyment” (Fiennes [00:04:52]), kommt es zur Flucht in diese Stufe der fanta- sy, die nun als Rückzugsort oder Beruhigung fungiert ([01:27:30]).

Das Reale ist ein Terminus, den Žižek aus Jacques Lacans Arbeit übernommen hat: Hier wird, analog zu Freuds Strukturmodell der menschlichen Psyche, der Geist als Tri- as aus Imaginärem, Symbolischem und eben Realem (cf. Žižek viii) aufgefasst. Wäh- rend das Imaginäre derjenige Ort ist, an dem Selbstbild und -identifikation zu finden sind und das Symbolische der Platz von Sprache und Diskursen, beinhaltet das Reale alles weitere - also das, was nicht symbolisch oder imaginär ist, verdrängt wird und sich außerhalb der erfassbaren Realität befindet. Es ist dementsprechend weder kontrollier- noch artikulierbar (cf. viii). Wie in McGowans Modell ist das Subjekt bemüht, die un- lösbare Frage nach dem desire zu beantworten, da dieses, obwohl selbst geschaffen, einer „wound of reality“ (Fiennes [00:47:02]) gleichkommt. Gerät es allerdings zu nah an die gewünschte Erfüllung, löst sich die fantasy in eine „explosion of wild, unbearable desires“ ([01:31:05]) auf; denn anstatt zurück in die reality zu gelangen, begegnet das Subjekt nun dem Realen ([01:32:30]). Dieses ist wiederum traumatischer als die reality, aus der das Subjekt in die fantasy geflüchtet ist (Storey 84) - als Konsequenz kehrt es daher zurück in die reality, in der es dem Realen nicht begegnen kann.

2.2.1 Lost Highway

Todd McGowan betrachtet als zentralen Aspekt von Lost Highway die Problematik des Protagonisten Fred, das desire seiner Frau Renee, das per se nicht kommunizierbar ist (cf. McGowan 159), nicht lokalisieren zu können [I-2]. In ihm kommen Misstrauen und Paranoia auf - sein desire, dessen Objekt Renees desire ist (cf. 157). Um hiermit umge- hen, beziehungsweise sein desire aufgeben zu können, ruft Fred zu Beginn der Filmhandlung sein Über-Ich als erste Hilfsinstanz an, denn

[…] one way to retreat from desire is to turn to the law, to identify with the law as a bulkwark against desire. […] the law attempts to arrest the very process of questioning itself, along with the disturbance it provokes. […] the videotape that appears on Fred and Renee’s front porch […] indicates the presence of some observing agency. (McGowan 160)

Der Mystery Man stellt ebenfalls eine Manifestation dieser observing agency dar, die Fred, obgleich sie als Eindringling zu verstehen ist (cf. 162), selbst in seine Psyche ein- geladen hat - „it is not my custom to go where I am not wanted” (Lynch 1997:[00:31]). Die Triebsublimierung ist allerdings erfolglos, da Fred sein Unvermögen immer deutli- cher vor Augen geführt wird (cf. McGowan 161); einen elementaren Beitrag hierzu leis- tet der scheiternde sexuelle Akt der Eheleute [I-7]. Als der Druck für Fred nicht länger zu ertragen ist, ermordet er Renee [I-12] - ein Opfer, das das Über-Ich zur Zähmung des desire fordert (cf. 163). Doch selbst im Tod seiner Frau findet Fred keine Erlösung. Er muss erkennen, dass nicht sie das Objekt seines desire ist, sondern nur ein Teil von ihr; es ist, in Anlehnung an Jacques Lacan, „in her more than her“ (ibid.). Symbolisch wird dies dargestellt, indem Fred Renees Körper zerteilt, um ihr desire darin erfolglos zu suchen (cf. 164). Nach seiner Verurteilung und der Erkenntnis, dass sein Über-Ich ihm nicht helfen kann, wendet sich der noch immer vom desire gequälte Fred einer zweiten Hilfsinstanz zu: fantasy. Laut McGowan wandelt sich an dieser Stelle die gesamte Filmhandlung zu eben dieser, was nicht alleine durch den Wechsel des Protagonisten, sondern durch eine strikte stilistische Änderung erreicht wird (cf. 167).

Freds Welt zeichnet sich durch minimalistische Einrichtung, omnipräsente Dunkelheit und Oberflächlichkeit aus. Sie ist geheimnisvoll, zeit- sowie ortlos und beinhaltet einen „sense of the unknown“ (McGowan 156). Es ist ausreichend Platz für desire vorhanden (cf. ibid.), sodass dies als das zentrale Element von Freds Welt aufgefasst werden muss. Petes Welt zeichnet sich durch die Abwesenheit von Geheimnisvollem aus; farbenfroh und sozial wie materiell gefüllt stellt sie sich dar (cf. 157). Im Gegensatz zu Freds Welt sind hier zahlreiche Möglichkeiten vorhanden, um aus desire einen Sinn zu erschließen (ibid.), weshalb Fred nach seiner Verurteilung hierher flüchtet. Es findet darüber hinaus eine Flucht aus seiner Person statt, indem er zu dem beliebten, potenten und jüngeren Pete wird, der ein ausgefülltes Leben führt (cf. 167). Dabei scheint sich auch Freds Wunsch, in der fantasy eine Antwort auf die Frage nach Renees desire zu finden, zu erfüllen.

[...]


1 Siehe Figure 1 und Figure 2 im Anhang dieser Arbeit.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Understanding David Lynch
Untertitel
Über die Dekonstruktion misogyner Elemente des klassischen Hollywoodfilms in "Mulholland Drive" und "Lost Highway"
Hochschule
Universität Mannheim  (Philosophische Fakultät)
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
35
Katalognummer
V181007
ISBN (eBook)
9783656037330
ISBN (Buch)
9783656037781
Dateigröße
616 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Bewertung der Note wurde mit Abweichungen im Format bzw. den Proportionen begründet, inhaltlich gabs es nichts zu bemängeln. Im Anhang der Arbeit finden sich selbst aufgestellte Sequenzprotokolle sowie bildliche Darstellungen der neu angeordneten Sequenzabfolgen.
Schlagworte
David Lynch, Mulholland Drive, Lost Highway, Laura Mulvey, Mysogynie, Dekonstruktion, Film, Todd MacGowan, Slavoj Žižek, Psychoanalyse, Sigmund Freud, Traumdeutung
Arbeit zitieren
Alice Fleischmann (Autor:in), 2011, Understanding David Lynch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/181007

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Titel: Understanding David Lynch



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