Entwicklungs- und Wachstumsstrategien in ausgewählten Ländern Subsahara-Afrikas – eine vergleichende Betrachtung


Masterarbeit, 2011

153 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Einleitung

Teil 1 – Entwicklungstheoretische Grundlagen
1. Begriffsdefinition
1.1 Entwicklung
1.2 Wachstum
2. Entwicklungstheorien
2.1 Neoklassische Entwicklungstheorie
2.2 Strukturalistische Entwicklungstheorie
2.3 Neomarxistische Entwicklungstheorie
2.4 Aktueller Forschungsstand
3. Wachstumstheorien
3.1 Historische Entwicklung
3.2 Postkeynesianische Wachstumstheorie
3.3 Neoklassische Wachstumstheorie
3.4 Endogene Wachstumstheorie
3.5 Aktueller Forschungsstand
4. Wachstumshemmnisse – Armut und Unterentwicklung
4.1 Armut als entwicklungspolitisches Schlüsselproblem
4.2 Symptome der Unterentwicklung
4.3 Ursachen von Unterentwicklung
4.3.1 Endogenen Faktoren
4.3.2 Exogene Faktoren
4.3.3 Strukturelle Ursachen
5. Ausgewählte Entwicklungsstrategien
5.1 Entwicklungspolitische Zielsetzungen
5.2 Ausgewählte Strategieansätze
5.2.1 Wachstumsorientierte Entwicklungsstrategien
5.2.2 Abkopplungsstrategien
5.2.3 Grundbedürfnisstrategie
5.2.4 Nachhaltige Entwicklung
5.2.5 Aktuelle Ansätze
6. Subsahara-Afrika – Regionale Besonderheiten und Ressourcen
6.1 Regionale Besonderheiten
6.1.1 Geografie und Klima
6.1.2 Konflikte
6.2 Analyse ausgewählter Wachstumspotenziale
6.2.1 Ressourcen
6.2.2 Infrastruktur
6.2.3 Institutionelle Rahmenbedingungen

Teil 2 – Länderanalyse
7. Wirtschaftstruktur und wirtschaftliche Situation
7.1 Burkina Faso
7.1.1 Wirtschaftliche Entwicklung
7.1.2 Entwicklungsstrategien
7.1.3 Zwischenergebnis und Ausblick
7.2 Benin
7.2.1 Wirtschaftliche Entwicklung
7.2.2 Entwicklungsstrategien
7.2.3 Zwischenergebnis und Ausblick
7.3 Nigeria
7.3.1 Wirtschaftliche Entwicklung
7.3.2 Entwicklungsstrategien
7.3.3 Zwischenergebnis und Ausblick
8. Fazit

Anhang

Quellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Anzahl in absoluter Armut lebender Menschen

Abbildung 2: Entwicklung der Verschuldung in Subsahara-Afrika

Abbildung 3: Subsahara-Afrika – Übersichtkarte

Abbildung 4: Burkina Faso, Benin, Nigeria

Abbildung 5: Burkina Faso – Wachstumsraten

Abbildung 6: Benin – Wachstumsraten

Abbildung 7: Nigeria – Wachstumsraten

Abbildung 8: Modelle der endogenen Wachstumstheorien

Abbildung 9: Benin – Ergebnismatrix (Weltbank)

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Merkmale von Entwicklungstheorien

Tabelle 2: Merkmale von Wachstumstheorien

Tabelle 3: Ursachen und Merkmale von Unterentwicklung

Tabelle 4: Dekaden der Entwicklungszusammenarbeit

Tabelle 5: Merkmale von Entwicklungsstrategien

Tabelle 6: durchschnittliches Wachstum [%] nach Länderkategorien

Tabelle 7: Burkina Faso – Entwicklungsstand

Tabelle 8: Benin – Entwicklungsstand

Tabelle 9: Nigeria – Entwicklungsstand

Tabelle 10: MDG – Umsetzungsstand 2010

Einleitung

Vor mehr als dreißig Jahren, am 12. Februar 1980, legte Willy Brandt, zu dieser Zeit Leiter der Nord-Süd-Kommission der Vereinten Nationen, einen Bericht mit dem Titel „Das Überleben sichern“ vor, der mit seinen zukunftsweisenden Konzepten und Strategien ein Meilenstein in der Entwicklungspolitik zu sein schien. Für viele Staaten Afrikas stehen diese Worte heute jedoch synonym für eine Vielzahl gescheiterter Versuche, dieses Ziel zu verwirklichen und den Kontinent und seine Menschen in eine prosperierende Zukunft zu führen. Die wirtschaftliche Situation Afrikas hat sich im Zuge der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise erneut verschlechtert. Ungeachtet der vielfältigen Hilfsbemühungen der internationalen Staatengemeinschaft können es sich – auch nach fünfzig Jahren Unabhängigkeit – nur wenige Staaten leisten, auf fremde Unterstützung zu verzichten.

Obgleich Afrika über riesige Rohstoffvorkommen verfügt und ein hohes Bevölkerungswachstum aufweist, ist es bisher nicht gelungen, die Wirtschaftsleistung nachhaltig zu steigern (Collier 2007: 20). Hunger, Armut und Korruption sowie eine Vielzahl ungelöster regionaler Konflikte werden häufig als Ursachen für den niedrigen Entwicklungsstand vieler Staaten angeführt. Hinzu kommen einzigartige geografische und klimatische Bedingungen, die den Entwicklungsprozess auf natürliche Weise hemmen. Afrikas Außenhandel wird auch heute noch von Rohstoffexporten dominiert, Vorstöße zur Diversifizierung der einseitig geprägten Wirtschaftsstrukturen sind kaum oder nur im Ansatz erkennbar (Miguel et al. 2009: 26).

Bislang ist es keiner Generation von Wirtschaftswissenschaftlern gelungen, eine Strategie zu entwickeln, die dauerhaft für ein stabiles, nachhaltiges Wachstum sorgt und Afrika vom Stigma des verlorenen Kontinents befreit. Uneinigkeit besteht ferner hinsichtlich der Bedingungen, unter denen Wachstum und Entwicklung stattfinden kann. Diese Problematik wurde im Mai 2008 im Abschlussbericht der von Michael Spence geleiteten Wachstums- und Entwicklungskommission noch einmal deutlich herausgestellt. Entwicklungsstrategien – so die Kernbotschaft – seien individuell und müssten sich an spezifischen Rahmenbedingungen orientieren, um zu dauerhaften Erfolgen führen zu können (Worldbank 2008).

Ob diese Einschätzung zutrifft und welche Ursachen für die Rückständigkeit vieler afrikanischer Staaten verantwortlich sind, soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Ziel ist es, den Einfluss ausgewählter Wachstums- und Entwicklungsstrategien am Beispiel der wirtschaftlichen Entwicklung einzelner Staaten nachzuweisen und die Bedeutung spezifischer Wachstumspotenziale herauszustellen.

Die Arbeit besteht aus einem Grundlagenteil und einer vergleichenden Analyse. Zunächst werden unterschiedliche Ansätze der Entwicklungs- und Wachstumstheorie im historischen Kontext beleuchtet. Anschließend folgt eine Betrachtung relevanter Entwicklungshemmnisse, bevor im Weiteren auf entwicklungspolitische Zielsetzungen und ausgewählte Strategieansätze eingegangen wird. Am Ende des ersten Teils werden regionale Besonderheiten und ausgewählte Wachstumspotenziale Subsahara-Afrikas dargestellt und hinsichtlich ihres Einflusses auf die Entwicklung bewertet.

Der zweite Teil beginnt mit einer kurzen Darstellung der aktuellen wirtschaftlichen Situation der gesamten Region. Im Anschluss daran werden die Wirkungen unterschiedlicher Strategieansätze am Beispiel Burkina Fasos, Benins und Nigerias untersucht und mit den entsprechenden Theorieansätzen verglichen. Die zu betrachtenden Länder weisen unterschiedliche wachstums- und entwicklungspolitische Voraussetzungen auf und können exemplarisch für die Region betrachtet werden. Darüber hinaus bestehen zwischen diesen Staaten regionale Abhängigkeitsverhältnisse. Ausgangspunkt für die Untersuchungen ist die wirtschaftliche Entwicklung nach Erlangen der staatlichen Souveränität. Anhand aktueller Konzepte wird ferner ein Einblick in verschiedene Möglichkeiten der Entwicklungszusammenarbeit gewährt. Auf Basis der Ergebnisse wird in einem weiteren Schritt ein kurzer Ausblick auf mögliche Entwicklungsperspektiven gegeben. Die Arbeit schließt mit einem Fazit, das die wesentlichen Aussagen zusammenfasst und das Thema aus Sicht des Autors bewertet.

Die verfügbare wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema ist umfangreich und aktuell. Für den ersten Teil wurden vorwiegend volkswirtschaftliche Standardwerke sowie Monografien zur Wachstums- und Entwicklungstheorie verwendet. Der zweite Teil stützt sich vermehrt auf Artikel und aktuelle Berichte der Weltbank, der Vereinten Nationen und vergleichbarer Institutionen. Für die statistischen Analysen wurde im Wesentlichen auf Daten der Weltbank zurückgegriffen.

Teil 1 – Entwicklungstheoretische Grundlagen

1. Begriffsdefinition

Eine Voraussetzung für die zielgerichtete und fundierte Auseinandersetzung mit einer wissenschaftlichen Problemstellung ist die klare Abgrenzung zentraler Begriffe. Im Folgenden sollen daher zunächst die Begriffe Entwicklung und Wachstum im Kontext der entwicklungstheoretischen Debatte erläutert und abgegrenzt werden.

1.1 Entwicklung

Der Entwicklungsbegriff ist nicht einheitlich definiert. Trotzdem wird er heute in vielfacher Hinsicht verwendet, obwohl es weder unter Experten noch in der interessierten Öffentlichkeit Konsens über dessen eigentliche Bedeutung gibt. Unstrittig ist, dass es sich dabei um einen Querschnittsbegriff handelt, der für gewöhnlich im Sinne von Wohlstandssteigerung und industriellem Wachstum verstanden werden kann. (Brunner et al. 2004: 201).

Im entwicklungstheoretischen Kontext bezieht sich der Entwicklungsbegriff nicht nur auf ökonomische Aspekte, sondern gilt gleichermaßen für gesellschaftliche und staatliche Strukturen bis hin zum einzelnen Individuum (Menzel 2010: 11). Bereits hier wird die Schwierigkeit einer eindeutigen Definition deutlich, die sich angesichts unterschiedlicher Betrachtungsebenen und Akteure zwangsläufig ergeben muss.[1]

Einen umfassenden Erklärungsansatz liefern Nohlen und Nuscheler. Sie definieren Entwicklung als Cluster-Begriff, dessen konstitutive Eigenschaften nicht verbindlich festgelegt werden können. Stattdessen sehen sie die Definition eines von raumzeitlichen Bedingungen und Erfahrungen abhängigen Kernbestandes von Eigenschaften, deren zusammenhängende Betrachtung die Bedeutung des Entwicklungsbegriffs ergibt (Nohlen; Nuscheler 1992: 56). Das von ihnen ursprünglich zu diesem Zweck entwickelte „Magische Fünfeck der Entwicklung“ betrachtet die Zusammenhänge zwischen den Elementen: Wachstum, Arbeit, Gerechtigkeit, Partizipation und Unabhängigkeit. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung des Klimaschutzes wurde das Modell später um die Zieldimension „ökologische Nachhaltigkeit“ ergänzt (Klingebiel; Messner 2004).

Im wirtschaftlichen Sinne wird Entwicklung häufig als Prozess betrachtet, der sowohl die eigenständige Versorgung der gesamten Gesellschaft mit lebensnotwendigen materiellen Gütern als auch die Entfaltung individueller und kollektiver Eigenständigkeit sicherstellt und somit faktisch die grundlegenden Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein schafft. Dieser Prozess beginnt in der Regel mit der Überwindung von Hunger und Armut und ist vor allem durch soziale und wirtschaftliche Fortschritte gekennzeichnet. Entwicklungstheorien[2] umfassen folglich Aussagen, die in idealtypischer Weise begründen, warum es den heutigen Industriegesellschaften über lange Zeiträume gelungen ist, wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand zu schaffen, während dieser Prozess in den übrigen Teilen der Welt nur unvollständig realisiert werden konnte. Zudem ist es möglich, das Ausmaß und die Ursachen von Unterentwicklung durch differenzierte Betrachtung zu identifizieren. Aus den Theorien lassen sich wiederum konkrete, zumeist als Entwicklungsstrategie bezeichnete Maßnahmen ableiten, durch die individuell festzulegende Entwicklungsziele letztlich erreicht werden sollen (Menzel 1992: 132). Das Verständnis des Entwicklungsbegriffs war von jeher einem ständigen Wandel unterworfen. Neben wirtschaftlichen Fortschritten ist die Befriedung menschlicher Grundbedürfnisse inzwischen als gleichwertiger Teil der Entwicklung anerkannt.

Entwicklung wird im Folgenden als kontinuierlicher, mehrdimensionaler Prozess verstanden, der die Akteure in den Mittelpunkt rückt und sowohl in einem gesellschaftlichen als auch in einem wirtschaftlichen Kontext steht.

1.2 Wachstum

Im Gegensatz zu Entwicklung kann der Begriff Wachstum klar definiert werden. Allgemein wird damit eine Zunahme der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft ausgedrückt, die durch eine Vermehrung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital oder durch technologischen Fortschritt erklärt werden kann. Maßgeblich ist eine Steigerung der inländischen Produktion beziehungsweise der im Inland erzielten Einkommen, die sich infolge einer verbesserten Auslastung vorhandener Produktionskapazitäten (Auslastungseffekte) oder deren Erweiterung (Kapazitätseffekte) ergibt (Geigant et al. 2000: 1045). Wirtschaftliches Wachstum im Sinne einer stetigen Zunahme der pro Kopf verfügbaren Menge an Sachgütern und Dienstleitungen ist dagegen ein Merkmal der jüngeren Neuzeit (Maußner; Klump 1996: 1).

Die globalisierte Welt besteht heute aus einer Vielzahl unterschiedlicher Volkswirtschaften. In einigen Ländern konnten die Menschen – nicht zuletzt infolge hoher Wachstumsraten – ihren Wohlstand über Jahre mehren, andere wiederum erfuhren über lange Zeiträume nur mäßiges Wachstum. Als Indikator für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft wird häufig das Bruttoinlandsprodukt (BIP) herangezogen[3]. Während das reale BIP ein geeignetes Maß für wirtschaftlichen Wohlstand darstellt, wird dessen Fortentwicklung allgemein als Gradmesser für wirtschaftlichen Fortschritt interpretiert (Mankiw; Taylor 2008: 606).

Wachstum ist gleichzeitig eine notwendige Voraussetzung zur Überwindung von Armut und Unterentwicklung.[4] Die Ergebnisse verschiedener Theorieansätze[5] der vergangenen Dekaden haben jedoch auch gezeigt, dass es als alleiniges Mittel zur Armutsbekämpfung oftmals langfristig wirkungslos bleibt (Lachmann 2004: 208). Die regelmäßig ermittelten Wachstumsraten weisen auch nach vier Jahrzehnten Entwicklungsarbeit weltweit zum Teil erhebliche Unterschiede auf. Während einige ostasiatische Länder in den vergangenen Jahren durchschnittliche Wachstumsraten im zweistelligen Prozentbereich aufwiesen, erfuhren die meisten Staaten Subsahara-Afrikas eine negative Entwicklung. Insgesamt hat sich das relative Verhältnis des Pro-Kopf-Einkommens (PKE) zwischen Industrie- und Entwicklungsländern weiter zu ungunsten der Entwicklungsländer verändert.

Die Bedeutung von Wachstum als notwendige Voraussetzung für den Entwicklungsprozess ist daher nicht zu unterschätzen, wenngleich beide Begriffe in der Vergangenheit häufig fälschlicherweise synonym verwendet wurden (Brandt 1980: 33). Die Betrachtungen können sich in diesem Zusammenhang jedoch nicht auf den Aspekt des quantitativen Zuwachses von Gütern und Dienstleitungen allein beschränken, vielmehr muss Wachstum ferner an qualitative Bedingungen – gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsmehrung sowie Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen – geknüpft sein, denn selbst elementare Grundbedürfnisse können nur in einer dynamisch wachsenden Wirtschaft befriedigt werden. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann von „entwicklungskonformem“ Wachstum gesprochen werden (Nohlen; Nuscheler 1992: 67).

Die Definition von Wachstum schließt daher neben der quantitativen Zunahme von Gütern und Dienstleistungen auch die gesellschaftliche Wohlfahrtsmehrung sowie den Erhalt natürlicher Lebensgrundlagen mit ein.

Die Zusammenhänge zwischen Wachstum und Entwicklung zu verstehen und aus den gewonnen Erkenntnissen konkrete Maßnahmen abzuleiten, die zur Förderung eines schnelleren Wachstums in Entwicklungsländern beitragen, zählt heute zu den wichtigsten Fragen der Makroökonomie (Mankiw; Taylor 2008: 605), daher sollen in den folgenden Kapiteln zunächst grundlegende Strömungen der Entwicklungs- und Wachstumstheorie betrachtet werden.

2. Entwicklungstheorien

Die Entwicklungstheorie wurde vor etwa sechzig Jahren begründet, gilt aber nicht als eigenständige wissenschaftliche Disziplin. Vielmehr handelt es sich um einen Sammelbegriff, hinter dem sich eine Vielzahl konkurrierender Theorien und Theoreme auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus, die sich teilweise ergänzen aber auch widersprechen können, verbirgt. Einige dieser Theorien lassen sich empirisch begründen, andere wurden rein axiomatisch abgeleitet (Menzel 2010: 15). Entwicklungstheorien setzen sich zumeist aus Erkenntnissen der Wirtschafts- und Politikwissenschaften, der Soziologie, aber auch aus Beiträgen anderer Fachrichtungen zusammen. Sie weisen normative und deskriptive Anteile auf und postulieren ein aus Sicht ihrer Urheber erstrebenswertes Ziel, welches es mit Hilfe expliziter Handlungsanweisungen zu erreichen gilt (Fischer et al. 2008: 12). Entwicklungstheorien befassen sich im Wesentlichen damit, jene Faktoren aufzuzeigen und zu analysieren, die den Entwicklungsprozess eines Landes tatsächlich bestimmen (Menzel 2010: 11ff).

Im Folgenden sollen einige entwicklungstheoretische Ansätze – neoklassisch, strukturalistisch, neomarxistisch – exemplarisch dargestellt werden. Da es, wie bereits erläutert, keinen einheitlichen Definitionsrahmen gibt, lehnen sich die Ausführungen im Wesentlichen an die von Hemmer vorgenommene Klassifizierung an.

2.1 Neoklassische Entwicklungstheorie

Die neoklassische Entwicklungstheorie geht von rational handelnden Wirtschaftssubjekten mit rein ökonomischen Zielvorstellungen aus. Im Mittelpunkt steht die Rolle des Marktes, der unabhängig vom historischen Kontext und sozialer Ordnung gesehen wird. Zudem wird die Bedeutung eines funktionierenden Preismechanismus betont. So stellten neoklassische Ökonomen und Entwicklungspolitiker in der Vergangenheit wiederholt Forderungen nach einer reduzierten Rolle des Staates im Entwicklungsprozess auf. Staatliche Investitionen können – so die Argumentation – nur dann erfolgreich sein, wenn sie die Funktionsweise des Marktes verbessern (Lachmann 2004: 72ff).

Volkswirtschaften entwickeln sich nach gleichen Regeln, daher gibt es keine eigenständige Entwicklungsökonomik, sondern lediglich die Übertragung allgemeiner Grundprinzipien auf Länder, die in ihrer Entwicklung noch nicht soweit fortgeschritten sind. Unterwicklung wird somit als Folge einer verspäteten oder einer unzureichenden Berücksichtigung des Marktsteuerungsprinzips betrachtet. Nach entsprechenden Korrekturen sollten daher auch Entwicklungsländer auf absehbare Zeit in der Lage sein, das Entwicklungsniveau von Industrienationen zu erreichen. Vor diesem Hintergrund wird häufig auch von Modernisierungstheorie gesprochen (Hemmer 2002: 150).

Die Ursprünge der Modernisierungstheorie reichen bis in die 1950er Jahre zurück. Zu dieser Zeit strebten die ersten ehemaligen Kolonialländer in die Unabhängigkeit. Prämisse der Modernisierungstheorie war, dass sich die unterentwickelten Staaten der Dritten Welt mit Hilfe westlicher Industrienstaaten langfristig zu Industriegesellschaften mit vergleichbarem Lebensstandard entwickeln sollten. Entwicklung bedeutet in diesem Zusammenhang im Wesentlichen das Aufholen und Nachahmen des zum Leitbild erklärten westlichen Vorbilds (Nuscheler 1974: 197).

Kern der Modernisierungstheorie ist der postulierte Gegensatz zwischen „moderner“ und „traditioneller“ Welt, wonach Unterwicklung nicht die Folge wirtschaftlicher Defizite, sondern vor allem in den Eigenarten und Wertvorstellung traditioneller Gesellschaften begründet ist. Die Ursache dafür war nach Meinung vieler Modernisierungstheoretiker in einer Vielzahl endogener Faktoren, beispielsweise Korruption, Misswirtschaft und schlechte Regierungsführung, zu finden. Die Rückständigkeit der Entwicklungsländer wurde faktisch als Vorstufe zur erstrebten Industrialisierung definiert, die vergleichbar mit der Situation in Westeuropa zu Beginn des 18. Jahrhunderts war. Entwicklung ist demzufolge nur auf eine Weise möglich und zwangsläufig auf das Entwicklungsniveau westlicher Industrienationen ausgerichtet. Historisch betrachtet, müssen alle Gesellschaften diesen gleichgerichteten Prozess sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandels durchlaufen. Den Grundstein für diese Überlegungen legte bereits Max Weber mit seinem 1905 veröffentlichten Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (Menzel 2010: 78).

Den Anschluss an die Industriestaaten sollten die Entwicklungsländer mit Hilfe moderner Technologie, durch Großprojekte und ausländisches Kapital (Big Push)[6] erreichen. Durch Verarbeitung einheimischer Rohstoffe würde – nach damaliger Überzeugung – eine Transformationsphase eingeleitet, die langfristig zu einem sich selbst tragenden Wirtschaftswachstum führt. Im Zuge des Wirtschaftswachstums würden Trickle-down-Effekte[7] einsetzen, so dass auch das ansonsten rückständige Umland letztlich am Aufschwung teilhaben könnte. In der Folge kam es in vielen Entwicklungsländern zur Gründung moderner Industrien- und Handelszentren, die die Basis für eine einheimische Industrie nach westlichem Muster bilden sollten. Ein typisches Merkmal der Modernisierungstheorie ist daher die Annahme dualistischer Strukturen. Damit ist in erster Linie das Nebeneinander eines kleinen, vom Ausland dominierten und überwiegend auf den Export ausgerichteten Industriesektors sowie eines primitiven, ausschließlich in den nationalen Märkt integrierten Subsistenzsektors gemeint (Neumair 2006: 117).

Einen besonderen Beitrag zur Modernisierungstheorie lieferte der US-amerikanische Ökonom Walt W. Rostow. In seiner Wirtschaftsstufentheorie[8] stellte er die These auf, dass eine Gesellschaft auf dem Weg zur Modernität fünf verschiedene Entwicklungsstadien – traditionelle Gesellschaft, Gesellschaft im Übergang, „Take‑off“-Phase, Reifestadium und Nachreifestadium – durchlaufen müsste (Rostow 1967: 18ff). Obwohl Rostows Stufentheorie damals breite Zustimmung fand, sah sie sich schon bald zunehmender Kritik ausgesetzt. So blieb beispielsweise offen, wie es zur Stufenabfolge genau in dieser Reihenfolge kommen sollte. Auch die Frage, wie sich eine traditionelle Gesellschaft letztlich zur Übergangs- oder „Take-off“-Phase entwickeln sollte, konnte nicht geklärt werden (Lachmann 2004: 92).

Die Kritiker der Modernisierungstheorie verweisen häufig auf unterschiedliche historische Ausgangs- und weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern, die einer allgemeingültigen, einheitlichen Entwicklungsstrategie entgegenstünden. Zudem entspricht die gängige Auffassung von Tradition und Moderne häufig nur bedingt der Realität. Die meisten Gesellschaften weisen sowohl traditionelle als auch moderne Elemente auf. Die Sichtweise der Modernisierungstheoretiker ist insofern einseitig, als der Einfluss exogener Faktoren und die zum Teil gravierenden Folgen der kolonialen Vergangenheit nicht berücksichtigt, der endogene sozioökonomische Wandlungsprozess jedoch überbetont wird (Menzel 1995: 22, Neumair 2006: 118).

Einen neuerlichen Höhepunkt erlebte die Modernisierungstheorie zu Beginn der 1990er Jahre. Einerseits schien durch das Scheitern des Sozialismus der weltweite Triumph des westlich-kapitalistischen Wirtschaftssystems bewiesen, anderseits sahen sich die Anhänger der Theorie infolge der positiven wirtschaftlichen Entwicklung in einigen Schwellenländern in ihren ursprünglichen Annahmen bestätigt (Nohlen; Nuscheler 1992: 61).

2.2 Strukturalistische Entwicklungstheorie

Im Gegensatz zur neoklassischen stellt die strukturalistische Entwicklungstheorie den sich im Verlauf des Entwicklungsprozesses ergebenden strukturellen Wandel einer Volkswirtschaft in den Vordergrund. Unterschiedliche Entwicklungsverläufe ergäben sich danach hauptsächlich aufgrund entwicklungshemmender Strukturstarrheiten, auch als strukturelle Rigiditäten[9] bezeichnet, die nicht nur innerhalb verschiedener ökonomischer Sektoren, sondern auch zwischen Regionen und Institutionen existierten (Hemmer 2002: 152). Während Industrienationen nur in geringem Umfang darunter zu leiden hätten, werde der Entwicklungsprozess in Entwicklungsländern häufig durch eine Vielzahl solcher Strukturprobleme behindert. Entwicklungstheorie müsse sich daher vorrangig mit der Erfassung und Analyse von Strukturdefiziten in Entwicklungsländern auseinandersetzen. Da in Entwicklungsländern nicht nur ökonomische, sondern auch viele nicht-ökonomische Werte – kulturelle oder religiöse Aspekte – von Bedeutung sind, wäre die neoklassische Annahme vom mehrheitlich rational handelnden Wirtschaftssubjekt nicht mehr zutreffend, in diesem Fall wäre auch der staatliche Interventionsbedarf größer. Gleiches träfe auf die aus dem Marktmechanismus resultierende Verteilungsproblematik zu. Diese werde dann nicht mehr als gerecht empfunden, wenn infolge einer ungleichen Ressourcenverteilung keine Chancengleichheit zwischen den einzelnen Wirtschaftssubjekten mehr bestünde. Entwicklung sei demnach kein einheitlicher Prozess, sondern könne auf verschiedene Weise mit unterschiedlichen Endresultaten erfolgen (Taylor 2004: 363f).

2.3 Neomarxistische Entwicklungstheorie

Die dritte Hauptrichtung der modernen Entwicklungstheorien orientiert sich hauptsächlich an den von älteren marxistischen Theorien analysierten Ausbeutungsbeziehungen zwischen einzelnen gesellschaftlichen Klassen, wendet diese jedoch auf die Beziehungen zwischen Entwicklungsländern und Industrienationen an. Die Grundidee wurde vor allem von lateinamerikanischen Wissenschaftlern aufgegriffen, die daraus Mitte der 1960er Jahren die Abhängigkeits- oder Dependenztheorien als Gegenentwurf zur Modernisierungstheorie formulierten (Hamedinger 1997: 43).

Im Gegensatz zu vielen afrikanischen oder asiatischen Ländern waren die meisten Staaten Lateinamerikas zu jener Zeit bereits seit über einem Jahrhundert politisch unabhängig. Die Ursachen für Rückständigkeit und Unterentwicklung könnten daher kaum der kolonialen Vergangenheit allein zugeschrieben werden. Aufgrund herrschender wirtschaftlicher Stagnation und mäßiger Erfolge der damals verfolgten Entwicklungsstrategien sollte mit dem neuerlichen Vorstoß endlich Klarheit über die tatsächlichen Ursachen von Unterentwicklung geschaffen werden.[10] Die bis dahin in der akademischen Diskussion dominierenden entwicklungstheoretischen Denkrichtungen, allen voran die Modernisierungstheorie, könnten keine Ansatzpunkte für eine situationsgerechte Analyse bieten (Boekh 1982: 134, Nohlen 1991: 159).

Die Basis der Dependenztheorien stellte das Zentrum-Peripherie-Modell dar.[11] Mit diesem Entwurf sollten Abhängigkeitsbeziehungen auf globaler und nationaler Ebene erfasst werden, wobei verschiedene Formen der Abhängigkeit – infolge struktureller Verflechtungen beziehungsweise durch direkte oder indirekte Ausbeutung – betrachtete wurden (Boeckh 1992: 120f). Die verschiedenen Denkrichtungen der Dependenztheorie orientierten sich vorwiegend an empirisch gewonnenen Befunden, griffen teilweise aber auch auf Ansätze von Marx zurück. Da zu vielen elementaren Aussagen nie ein Konsens gefunden werden konnte, wurden die unterschiedlichen Erklärungsansätze letztlich zusammengefasst. Die Kernthese der Dependenztheorie lautete daher, dass Unterentwicklung nicht die Folge endogener Einflüsse sei, sondern sich maßgeblich auf externe, exogene Faktoren zurückführen ließe. Die Einbindung der Region in den westlich-dominierten Weltmarkt habe einen dauerhaften Ressourcenabfluss zur Folge, der die bestehende Abhängigkeit von den hoch entwickelten Industrienationen verfestige. Infolge dieser einseitigen Abhängigkeitsbeziehung komme es zu Verzerrungen in den Produktions- und Raumstrukturen, die zudem mit negativen Auswirkungen für die Gesellschaftsstruktur verbunden seien. Den wenigen Profiteuren dieser Abhängigkeiten stehe eine zunehmend von Verarmung betroffene Bevölkerungsmehrheit gegenüber (Schamp 1988: 122). Als weiterer Beleg für die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von den Industrienationen wurde die zunehmende Kapitalverflechtung gewertet. Obwohl umfangreiche Kapitalhilfen in Form von Krediten durch Organisationen wie Weltbank und Internationaler Währungsfond gewährt wurden, wuchs die Wirtschaft in den einkommensschwächsten Entwicklungsländern kaum. Nach Ansicht vieler Dependenztheoretiker seien die erzielten Gewinne größtenteils als Tilgung und Zins in die Industrieländer zurückgeflossen, bevor sich das Wachstum habe stabilisieren können (Wagner 1994: 86).

Die möglichen Lösungsansätze der Dependenztheoretiker reichten von der radikalen Veränderung von Strukturen des internationalen Wirtschaftssystems über die Abkopplung von Weltmarkt bis hin zur Transformation innergesellschaftlicher Strukturen. Angesichts einer zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft bliebe langfristig nur die Wahl zwischen einer faschistischen Diktatur zur Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Systems oder einer sozialistischen Revolution (Boekh 1982: 142). Andere wiederum forderten eine allmähliche Abkopplung von den Industrieländern bei gleichzeitiger Intensivierung der Handelsbeziehungen zwischen den Entwicklungsländern. Damit sollte einerseits eine Senkung der Export- und Importquoten im Handel mit den Industrieländern erzielt werden. Gleichzeitig zielte die Strategie auf einen binnenmarktorientierten Ausbau der vorhandenen Produktionskapazitäten auf der Basis weniger kapitalintensiver Produktionsmethoden ab. Man erkannte jedoch schnell, dass diese Strategie der Dissoziation für die meisten Entwicklungsländer keinen geeigneten Lösungsansatz darstellte (Bender et al. 1990: 524).

Die Kritik an der Dependenztheorie konzentrierte sich vor allem auf einige Grundthesen, die empirisch nicht oder nur unzureichend belegt werden konnten. So konnte beispielsweise die Behauptung einer anhaltenden Verschlechterung der Handelbeziehungen – den so genannten Terms-of-Trade – nicht aus den verfügbaren Statistiken abgeleitet werden. Auch der vermutete Zusammenhang zwischen Unterentwicklung und Welthandelsbeziehungen ließ sich nicht nachweisen, da sich insbesondere in rohstoffreichen Ländern die Strukturen der Unterentwicklung nicht auflösten. Im Grunde kamen dependenztheoretischen Konzepte nicht über eine Umkehrung des Modernisierungsansatzes hinaus (Bachinger; Matis 2009: 140).

Zusammenfassung:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Merkmale von Entwicklungstheorien

2.4 Aktueller Forschungsstand

Kein anderer Bereich der Wirtschaftswissenschaften hat in den vergangenen fünfzig Jahren vergleichbar viele Änderungen und Paradigmenwechsel erfahren. Mit Hilfe der jeweils dominierenden Entwicklungsmodelle wurde die Situation in den Entwicklungsländern vielfach unterschiedlich bewertet, was häufig mit teilweise gegenteiligen und fehlerhaften Implikationen für die Entwicklungspolitik und in der Folge mit negativen Konsequenzen für den Entwicklungsprozess verbunden war.

Die neomarxistische Ausrichtung hat im Zuge des Scheiterns des sozialistischen Gesellschaftssystems weiter an Bedeutung verloren. In der entwicklungstheoretischen Debatte fanden sich danach vor allem Elemente aus neoklassischen und strukturalistischen Ansätzen wider. Die tendenzielle Konvergenz beider Theoriezweige hat sich aus der Einsicht ergeben, dass sich die tatsächliche Lage in den Entwicklungsländern weder nach den Grundsätzen der einen noch der anderen Grundrichtung hinreichend erklären lässt (Hemmer 2002: 153). So sehen Entwicklungstheoretiker beider Richtungen den Markt inzwischen als effiziente Koordinierungsinstitution an, die freilich mit partiellen Funktionsdefiziten behaftet sei, so dass befristete staatliche Interventionen zur Aufrechterhaltung des Entwicklungsprozesses grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden könnten.

In der modernen Entwicklungsökonomik werden heute viele unterschiedliche Theorieanteile und analytische Methoden vereint, zugleich wird das einseitig geprägte neoklassische Bild des ausschließlich nach ökonomischen Gesichtspunkten handelnden Wirtschaftssubjekts erweitert (ders.: 153).

Entwicklungstheoretiker sehen sich heute vielfach mit den gleichen Herausforderungen wie ihre Vorgänger konfrontiert, allerdings haben sich die Bewertungsmaßstäbe zwischenzeitlich verändert. Unterentwicklung wird nicht mehr im globalen Maßstab sondern im regionalen Kontext betrachtet, Entwicklungsstrategien sind nicht mehr allein das Ergebnis akademischer Diskurse, sondern orientieren sich vermehrt an spezifischen Rahmenbedingungen. Hinzu kommt die fortschreitende Globalisierung, die nicht nur stetige Veränderungen für das weltweite Wirtschaftssystem mit sich bringt, sondern oftmals auch eine Abkehr von den bislang in Wissenschaft und Politik vertretenen Positionen erfordert (Pieterse 2010: 11).

3. Wachstumstheorien

Entwicklung setzt wirtschaftliches Wachstum voraus. Daher sollen als Nächstes verschiedene Ansätze der Wachstumstheorie betrachtet werden. Der zentrale Untersuchungsgegenstand der Wachstumstheorie ist die langfristige wirtschaftliche Entwicklung. Im Mittelpunkt stehen typischerweise Fragestellungen, die im Allgemeinen von großer wirtschaftspolitischer Bedeutung und Aktualität sind. Wachstumstheorien zählen zu den volkswirtschaftlichen Disziplinen, die gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge betrachten und sich vorwiegend mit den dynamischen Veränderungen der Verfügbarkeit volkswirtschaftlicher Güter – Waren und Dienstleistungen – auseinandersetzen. Im Gegensatz zur Konjunkturtheorie steht hierbei nicht die Betrachtung zyklischer Schwankungen im Vordergrund, vielmehr wird nach Erklärungen für langfristige Entwicklungstrends gesucht (Wellmann; Hünseler 2004: 2).

Wirtschaftliches Wachstums kann auf unterschiedliche Weise erfasst und mit Hilfe von Modellen beschrieben werden. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wird in diesem Zusammenhang unter anderem zwischen soziologisch-ökonomischen und empirisch-statistischen Analysen, historisch-evolutorischen sowie exakten Modelltheorien unterschieden. Insbesondere die Letztgenannten sind für die Trendforschung von besonderer Bedeutung. Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht die Erforschung von Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen wirtschaftlichen Größen, die sich im Zeitablauf verändern, beispielsweise die Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens (PKE)[12], langfristige Beschäftigungsaussichten, Konkurrenzfähigkeit oder der Produktivität (Bretschger 2004: 6ff). Prinzipiell liegt den meisten dieser wachstumstheoretischen Modelle die Entwicklung des Volkseinkommens (Nettonationaleinkommen, NNE) zugrunde, aufgrund statistischer Erfassungsprobleme orientiert man sich in der Praxis jedoch üblicherweise am Bruttoinlandprodukt (Frenkel; Hemmer 1999: 1).

Bei der Berechnung von Einkommenswerten in unterschiedlichen Währungsbereichen kommt es jedoch infolge von Wechselkursschwankungen häufig zu Verzerrungen, so dass dieses – um vergleichbar zu sein – auf Basis der Kaufkraftparitätstheorie ermittelt werden müssen. Im Unterschied zum PKE wird die Arbeitsproduktivität auf der Grundlage der am Produktionsprozess eingesetzten Arbeitseinheiten ermittelt, die wiederum als Anzahl der beteiligten Arbeitskräfte oder in Bezug auf die geleisteten Arbeitsstunden definiert werden können (dies.: 8).

Aus dem Ländervergleich ergeben sich häufig Phänomene, die als grundsätzliche ökonomische Charakteristika bezeichnet und durch langfristige Analysen gestützt werden können – so genannte stilisierte Fakten.[13] Die Korrelationsbeziehungen und Tendenzen solcher Reihen bilden ein Muster grundlegender empirischer Zusammenhänge. Die Leistungsfähigkeit und Aussagekraft einer Wachstumstheorie sollte sich letztlich daran bemessen, inwieweit sie diese Zusammenhänge untermauern kann (Maußner; Klump 1996: 1).

Vorrangiges Ziel von Wachstumstheorien ist es, ökonomisches Wachstum mit Hilfe weniger geeigneter Determinanten zu erklären. Wobei die Fragen, unter welchen Bedingungen Wachstum letztlich entstehen kann und wie es sich auf die Lebenssituation und das Wohlstandsniveau einer Bevölkerung auswirkt, von zentraler Bedeutung sind. Bevor im Anschluss einzelne Wachstumstheorien ausführlicher erläutert werden, soll vorab ein kurzer Überblick über die historische Entwicklung dieser Teildisziplin gegeben werden.

3.1 Historische Entwicklung

Die Grundvoraussetzungen für ein neues wirtschaftstheoretisches Denken, in dem die Frage nach den Ursachen für Wachstum eine zentrale Rolle spielt, wurden in Europa bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Zuge sich wandelnder politischer, philosophischer und naturwissenschaftlicher Überzeugungen geschaffen. Die Entwicklung ökonomischer Wachstumstheorien setzte – wie in anderen Wissenschaftsbereichen – voraus, dass gesicherte Erkenntnisse zu einer bestimmten Entwicklung nicht nur durch Erfahrungswerte, sondern durch systematische empirische Beobachtungen gestützt werden können. Wachstumstheorien sind ein typisches Produkt neuzeitlicher Wirtschaftslehren, Vorläufer aus der antiken oder mittelalterlichen Ökonomik gibt es nicht (Maußner; Klump 1996: 13).

Der erste und bedeutendste Vertreter der neuzeitlichen Wirtschaftswissenschaften war der englische Aufklärer und Philosoph Adam Smith. Mit seinem Hauptwerk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ begründete er 1776 den Beginn der klassischen Nationalökonomie. Zu jener Zeit setzte in England auf breiter Front die Industrielle Revolution ein. Smith beschäftigte sich systematisch mit der langfristigen ökonomischen Entwicklung und sah Arbeitsteilung und Spezialisierung als die wesentlichen Triebkräfte für ökonomisches Wachstum an. Er erkannte frühzeitig, dass ökonomischer Wohlstand eine Folge der einsetzenden Mechanisierung von Produktionsprozessen war und sich zunehmend zur wichtigsten Voraussetzung für politisches Machtstreben entwickelte (dies.: 15).

Neben Adam Smith zählten vor allem David Ricardo und Thomas Malthus zu den Begründern der klassischen Wachstumstheorie. Ricardo systematisierte in seinem 1817 erschienenen Werk „Principles of political Economy and Taxation“ die bis dahin geltenden Vorstellung über die Triebkräfte des Wachstums und fügte Smiths ursprünglichem Ansatz einzelne Aspekte über Mechanismen und Wachstumsgrenzen hinzu. Die Grundzüge des „Wealth of Nations“ blieben im Wesentlichen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts unangefochten (Eltis 2008: 837). Mit dem 1848 erschienenen Werk von John Stuart Mill „Principles of Political Economy“ endete die Periode der Klassik (Spengler; Hoselitz 1960: 157).

Eine besondere Rolle in der Geschichte der Wachstumstheorie nimmt Karl Marx ein. Er wurde sowohl von den Werken der englischen Klassiker sowie von der zu Beginn des 19. Jahrhunderts von führenden deutschen Ökonomen verfochtenen Wirtschaftsstufentheorie[14] beeinflusst. In seinem 1885 postum erschienen Hauptwerk „Das Kapital“ führte er mit dem Schema der „erweiterten Reproduktion“ ein Zwei-Sektoren-Wachstumsmodell ein, aus dem grundsätzliche Bedingungen für eine stetige Vermehrung des Wohlstandes abgeleitet werden konnten (Ott 1996: 219). Zudem prägte er den Begriff des „Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate“. Bereits Smith und Mill sahen diese als wesentliche Einflussgröße für die Akkumulation von Kapital an. Ausgehend von den gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit schlussfolgerte Marx, dass die Profitrate darüber hinaus vom Grad der Ausbeutung der Arbeiter abhängig sei. Aus der zunehmenden Mechanisierung leitete er einen sinkenden Arbeitskräftebedarf ab, der langfristig zu einer verringerten Wachstumsrate führen würde (Arnold 1997: 4ff). Die ökonomische Entwicklung der nachfolgenden Jahre verdeutlichte jedoch, dass Innovationen und technischer Fortschritt wichtige Voraussetzungen für anhaltendes Wachstum sind.

Im 20. Jahrhundert wurden wachstumstheoretische Überlegungen vor allem durch drei Strömungen – Schumpeterianismus, Keynesianismus und Neoklassik – geprägt. Joseph Alois Schumpeter lieferte mit seinem 1911 erschienenen Werk „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ einen wesentlichen Beitrag zur dynamischen Wirtschaftsentwicklung. Demzufolge würden Wachstumsprozesse vor allem durch Innovationen vorangetrieben. In diesem Zusammenhang führte er auch das Konzept der „schöpferischen Zerstörung“ ein, wonach innovationsgetriebene Wachstumsprozesse zwangsläufig mit einem anhaltenden Strukturwandel verbunden sein müssten (Bretschger 2004: 9).

Auslöser für die Entwicklung formaler makroökonomischer Wachstumsmodelle war das Erscheinen der „General Theory of Employment, Interest and Money“ von John Maynard Keynes. Im Gegensatz zu Schumpeter sah Keynes die Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage als entscheidende Größe zur Steigerung von Produktion und Beschäftigung. Seine Untersuchungen beschränkten sich jedoch auf konjunkturelle Veränderungen und waren nicht langfristig orientiert (Maußner; Klump 1996: 19).

3.2 Postkeynesianische Wachstumstheorie

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die postkeynesianische Wachstumstheorie als erstes neuzeitliches wachstumstheoretisches Konzepte durch. Zu den wichtigsten Begründern dieser Strömung zählen die Ökonomen Roy Harrod und Evsey Domar. Mit ihrem gleichnamigen Modell[15] knüpften sie an die Keynes’sche Beschäftigungstheorie an, die sie um die Auswirkungen von Nachfrage- und Kapazitätseffekten erweiterten (Frenkel; Hemmer 1999: 9f). Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stand die Frage, wie in einer wachsenden Wirtschaft die Balance zwischen Investitionen und Kapitalakkumulation langfristig aufrechterhalten werden kann (Maußner; Klump 1996: 20). Keynes Schlussfolgerungen basierten auf einem statischen Modell, er ging von konstanten Produktionskapazitäten aus, die durch die bestehende Konsumgüternachfrage nicht ausgelastet würden. Folglich müssten Nettoinvestitionen getätigt werden, um die zusätzlich zum Konsum benötigte gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu schaffen. Da der Kapazitätseffekt in der Keynes’schen Theorie nicht berücksichtigt wurde, konnte diese nur zur Erklärung kurzfristiger Wachstumsprozesse herangezogen werden. Bei langfristiger Betrachtung führte dieser Widerspruch zu einem dynamischen Ungleichgewicht (Ehrlicher 1975: 256).

Mit dem Harrod-Domar-Modell war es zwar gelungen, einen gleichgewichtigen Wachstumspfad abzuleiten, dieser war jedoch instabil, da gänzlich auf stabilisierende Faktoren (Preisentwicklung, Kapitalkosten etc.) verzichtet wurde (Wellmann; Hünseler 2004: 75ff). Es erklärte daher keine realen Wachstumsphänomene, sondern zeigte in erster Linie Bedingungen auf, die erfüllt sein müssen, um vorhandene Produktionskapazitäten so auszuschöpfen, dass bei gleichzeitiger Vollbeschäftigung des Kapitals ein kontinuierlicher Wachstumsprozess erreicht werden kann. Wachstum wird darin lediglich als Notwendigkeit angesehen, die kontinuierliche Auslastung der Produktionskapazitäten sicherzustellen (Frenkel; Hemmer 1999: 14ff).

Die postkeynesianische Wachstumstheorie war in den 1950er und 1960er Jahren von erheblicher Bedeutung und wurde insbesondere von der Weltbank favorisiert (Tarp 2000: 80). Zugleich spiegelt sie den zu dieser Zeit weit verbreiteten Glauben an die wirtschaftspolitische Kompetenz staatlicher Institutionen wider.

3.3 Neoklassische Wachstumstheorie

Die Neoklassische Wachstumstheorie[16] wird als die bedeutendste Wachstumstheorie der Neuzeit angesehen. Sie versucht, die von den vorherigen Wachstumstheorien offen gelassene Frage nach den eigentlichen Determinanten wirtschaftlichen Wachstums zu beantworten. Der zentrale Unterschied zur postkeynesianischen Wachstumstheorie liegt in der Annahme, dass wirtschaftliches Wachstum nicht nachfrageorientiert ist, sondern von der Entwicklung der Produktionsfaktoren abhänge (Frenkel; Hemmer 1999: 28).

Den Grundstein legte Robert M. Solow mit seinem 1956 veröffentlichten Aufsatz „A Contribution to the Theory of Economic Growth“. Darin bewies er, dass die Stabilität des Wachstums langfristig durch Annahme einer substitutionalen makroökonomischen Produktionsfunktion gesichert werden kann. Wie im vorherigen Abschnitt dargelegt, basiert das Harrod-Domar-Modell auf der Annahme eines zwischen Produktionskapazitäten und Investitionen bestehenden konstanten Verhältnisses, was auf lange Sicht – so Harrod – zu einem instabilen Wachstum „auf des Messers Schneide“ führe. Solow entwickelt daher ein Wachstumsmodell[17], in dem wirtschaftliches Wachstum von der Entwicklung des Produktionspotenzials und nicht wie bisher von der Entwicklung der Nachfrage abhängig ist (Frenkel; Hemmer 1999: 28). Das Wachstum einer Volkswirtschaft wird darin von den Faktoren Arbeit, Kapital und Technologie beeinflusst (Lachmann 2006: 188). Solow kam zu dem Ergebnis, dass das Wachstum einer Volkswirtschaft langfristig gegen ein dynamisches Gleichgewicht – dem steady state – konvergiere. In diesem Zustand sei die Kapitalintensität konstant, da eine Verringerung des Pro-Kopf-Kapitalstocks infolge von Abschreibungen und Bevölkerungszunahme identisch mit der Höhe neuer Investitionen sei und damit ausgeglichen werde. Die Veränderung des Kapitalbestandes wird als endogene Größe betrachtet und leitet sich im Allgemeinen aus Sparquoten[18] oder Einkommen ab. Schwieriger ist die Definition des technischen Fortschritts. Prinzipiell gilt, dass die produzierte Produktmenge bei gleichem Faktoreinsatz zunehmen muss, respektive eine größere Produktmenge mit unverändertem Faktoreinsatz erzeugt werden kann (Wellmann; Hünseler, 2004: 69). Auf die gesamtwirtschaftliche Betrachtung übertragen, bedeutet das, dass infolge technischer Neuerungen mit gleichem Einsatz von Arbeit und Kapital ein höheres Sozialprodukt erzeugt werden kann (Frenkel; Hemmer 1999: 110). Eine Zunahme des Wohlstandes erfolgt letztlich nur auf der Basis technologischen Fortschritts. Da dieser im Solow-Modell als exogener Parameter betrachtet wird, liefert es keine Aussagen darüber, wie es dazu kommt oder dieser gegebenenfalls beeinflusst werden kann (Ziegler 2008: 198).

Im Gegensatz zum Harrod-Domar-Modell ist es mit dem Solow-Modell möglich, das Zustandekommen eines wirtschaftlichen Wachstumsprozesses zu erklären und empirisch nachzuweisen. Allerdings existieren nur zwei Fälle, in denen es tatsächlich zu Wachstum komm kann. Einerseits, wenn ein exogener technischer Fortschritt unterstellt wird, andererseits, wenn sich eine Volkswirtschaft im Anpassungsprozess an den dynamischen Gleichgewichtszustand befindet. Vor diesem Hintergrund ist das Modell mit beträchtlichen Erklärungslücken behaftet. Im Zusammenhang mit einer Vielzahl zwischenzeitlich empirisch nachgewiesener Wachstumstrends werden die Defizite noch deutlicher, da das Modell keine hinreichende Erklärung dafür bieten kann (Frenkel; Hemmer 1999: 163ff).

Nach einem ersten Höhepunkt in den 1950er und 1960er Jahren erlebten die Neoklassischen Wirtschaftstheorien in den 1980er im Zuge der Debatte um die Grenzen des Wachstums eine Renaissance (Maußner; Klump 1996: 24).

3.4 Endogene Wachstumstheorie

Mitte der 1980er Jahre wurden die Endogenen Wachstumstheorien begründet, die in der Literatur häufig auch als Neue Wachstumstheorien bezeichnet werden und vorerst die letzten Stufe in der Evolution der Wachstumstheorien repräsentieren. Ausgangspunkt waren die Arbeiten von Paul Romer, Robert Lucas und Sergio Rebelo, deren Hauptanliegen es war, nicht nur die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen Wachstum entsteht, sondern darüber hinaus die entscheidenden Einflüsse auf das Wirtschaftswachstum zu erklären (Frenkel; Hemmer 1999: 176). Wachstum sollte nicht wie bisher durch exogene Prozesse, sondern aus einem Modell heraus – und damit endogen – begründet werden (Arnold 1997: 122).

Den Ausgangspunkt der Endogenen Wachstumstheorien bildet die Kritik an dem von Solow in den 1950er Jahren entwickelten Wachstumsmodell, welches Wachstumsprozesse auf der Basis der Akkumulation von Sachkapital, die sich an exogen vorgegebenen Einflussgrößen wie Bevölkerungswachstum und technischen Fortschritt anpasst, erklärte und von der Annahme stetig sinkender Grenzerträge ausging. Ein Wachstumsgleichgewicht entstünde nur unter der Bedingung, dass alle Pro-Kopf-Variablen mit der gleichen Rate wüchsen. Diese Defizite der neoklassischen Wachstumstheorie sollten mit der endogenen Wachstumstheorie behoben werden, gleichzeitig sollte sie Ansätze zur Erklärung empirischer Phänomene, beispielsweise das Auftreten unterschiedlicher Wachstumsraten zwischen Ländern mit vergleichbarem Pro-Kopf-Einkommen, liefern (Dunn 2002: 76).

Um ökonomisches Wachstum ausschließlich endogen erklären zu können, bedarf es daher geeigneter Mechanismen, die eine stetige Abnahme der Grenzproduktivität des Kapitals verhindern und zusätzlich eine Erklärung für die bislang als exogen – folglich nicht beeinflussbar – vorgegebenen Parameter auf der Basis technologischer Zusammenhänge und Markstrukturen liefern können (Galor 2011: 145). In allen endogenen Wachstumsmodellen[19] kommt die langfristige Wachstumsrate daher letztlich durch Konsumverzicht zustande (Ramser 1995: 247). Die Endogenisierung des Wachstums erfolgt dabei in der Weise, dass der jeweils als Wachstumsmotor identifizierte Produktionsfaktor – technischer Fortschritt, Wissen, Humankapital – explizit als ökonomisch motivierte Investitionsentscheidung behandelt wird. Dem Faktor Wissen kommt dabei eine tragende Rolle zu. Erst damit wird es möglich, steigende Skalenerträge zu erklären, auch wenn dies keine zwingende noch hinreichende Voraussetzung für die Endogenisierung der Wachstumsrate darstellt (Solow 1956: 78).

Im Gegensatz zur Neoklassischen Wachstumstheorie kommt die Endogene Wachstumstheorie zu dem Schluss, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen die Wachstumsrate langfristig beeinflussen (Frenkel; Hemmer 1999: 213).

Zusammenfassung:

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Tabelle 2: Merkmale von Wachstumstheorien

3.5 Aktueller Forschungsstand

In jeder Epoche versuchen Ökonomen, Wachstumsprozesse wissenschaftlich zu erklären. Bis heute ist es trotz einer Vielzahl unterschiedlicher Ansätze nicht gelungen, eine Theorie zu formulieren, die alle Aspekte des wirtschaftlichen Wachstums in sich vereint und unterschiedlichste Wachstumsphänomene empirisch belegen kann. Dass Wachstum in modernen Volkswirtschaften nicht allein auf vermehrtem Ressourceneinsatz und technischen Fortschritt beruht, wurde in den zurückliegenden Jahren bewiesen (Lowe 2010: 107). Auch stützten sich die Theorien und Modelle der 1990er Jahre im Gegensatz zu den Vorherigen verstärkt auf empirische Belege und unterschiedliche Wachstumsdeterminanten ab (Barro, Sala-I-Martin 2003: 21).

Auf der Suche nach neuen Erklärungsansätzen wurden immer komplexere Modelle entwickelt, die zunehmend Elemente aus verschiedenen Strömungen enthalten. Die Entwicklung der vergangenen fünfzig Jahre hat aber auch gezeigt, dass ursprüngliche Ansätze immer wieder eine Renaissance erleben können. So bleibt beispielsweise auch die endogene Wachstumstheorie, die zweifellos einen Fortschritt darstellt, dem neoklassischen Denken in vielerlei Hinsicht verhaftet.

In aktuellen Ansätzen werden zunehmend umweltökonomische Aspekte berücksichtigt. Ferner werden verstärkt die Einflüsse von Bevölkerungswachstum sowie die zunehmende Verbreitung von Technologien auf das wirtschaftliches Wachstum untersucht. Andere Ökonomen wiederum versuchen, aus einer Vielzahl unterschiedlicher Ansätze eine allgemeingültige Theorie zu formulieren.[20] Dennoch wird auch zukünftig jeder neue Ansatz von der Tatsache ausgehen müssen, dass wirtschaftliches Wachstum in erster Linie das Resultat menschlichen Handelns ist. Entscheidend ist daher, dass eine Theorie mit konkreten Zielen und Fähigkeiten des jeweiligen Wirtschaftssubjektes in Verbindung gebracht werden kann.

4. Wachstumshemmnisse – Armut und Unterentwicklung

Wirtschaftliche Unterentwicklung ist auch im 21. Jahrhundert eine weit verbreitete Erscheinung. Der Begriff an sich ist nicht unumstritten, da manche Entwicklungsländer, beispielsweise die ölreichen Golfstaaten, nicht wirklich arm sind, große Teile der Bevölkerung jedoch infolge ungleicher Einkommensverteilung am Existenzminimum leben. Da Unterentwicklung eng mit Armut verknüpft ist, soll an dieser Stelle zunächst auf die Bedeutung des Armutsbegriffs eingegangen werden, bevor anschließend Kennzeichen und Ursachen von Unterentwicklung interpretiert werden.

4.1 Armut als entwicklungspolitisches Schlüsselproblem

Entwicklungspolitik soll langfristig dazu führen, die Armut in der Welt zu mindern und für alle Menschen eine würdige Lebensgrundlage zu schaffen, darin sind sich alle Beteiligten weitestgehend einig. Uneinigkeit herrscht indessen darüber, wie Armut letztlich zu definieren ist. In den zurückliegenden Jahren galt eine Differenzierung in „relative“ und „absolute“ Armut häufig als kleinster gemeinsamer Nenner. Relative Armut bezeichnet die Lebenssituation von Bevölkerungsgruppen, die im Verhältnis zum allgemeinen Wohlstandsniveau am unteren Ende der Einkommens- und Wohlstandspyramide rangieren. Absolute Armut – auch „extreme“ Armut genannt – bedeutet hingegen eine ungenügende Versorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sowie mangelnde Teilhabe an Aktivitäten, die das Leben lebenswert machen (Nuscheler 2004: 144).[21] In den Achtzigerjahren setzte sich vor allem Armatya Sen für eine Erweiterung des Armutsbegriffs ein; Armut sollte fortan nicht länger als Zustand, sondern als Prozess verstanden werden (Sen 1999: 87).

Armut wird heute nicht mehr ausschließlich auf monetäre Kenngrößen reduziert, sondern als Zusammenspiel verschiedener Faktoren, beispielsweise Verfügungsrechte, Chancen und Fähigkeiten, betrachtet. Die Überwindung von Armut wird nunmehr als notwendige Bedingung für Entwicklung gesehen.

4.2 Symptome der Unterentwicklung

Unterentwicklung stellt „einen Zustand der Entwicklung unterhalb einer Norm dar“, der vor allem auf Strukturmängel zurückzuführen sei (Hemmer 2002: 3). Zu den wesentlichen Merkmalen der Unterentwicklung zählen (Nuscheler 2004: 192f, Müller-Mahn 2002: 148f):

- Hunger – Die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln stellt nicht nur eine grundlegende Voraussetzung für Überleben und Gesundheit dar, sondern ist auch zur Aufrechterhaltung von Leistungsfähigkeit und Arbeitkraft erforderlich. Nach Angaben der Welternährungsorganisation (FAO) leiden weltweit über 850 Millionen Menschen an chronischer Unterernährung, weitere 2 Milliarden an Mangelerscheinungen (FAO 2011).
- mangelhafte Gesundheitszustände – Krankheiten sind häufig die Folge unzureichender und unausgewogener Ernährung, können aber auch aufgrund mangelhafter hygienischer Verhältnisse entstehen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind 43 Prozent aller Todesfälle in Entwicklungsländern auf Infektionen oder parasitäre Erkrankungen zurückzuführen. In den Industrienationen liegt der Anteil bei 1,2 Prozent. Auch der Zugang zu medizinischen Dienstleistungen und wirksamen Medikamenten wird erschwert. Statistisch gesehen kommt in den Ländern Subsahara-Afrikas ein Arzt auf 24000 Patienten, in westlichen Industrienationen liegt dieser Wert durchschnittlich bei 380 Patienten (WHO 2011).
- hohe Arbeitslosigkeit – Unterbeschäftigung gilt in unterentwickelten Regionen als wirtschaftliches Schlüsselproblem, da sie die Nutzung eines großen Arbeitskräftepotenzials blockiert und es Großteilen der Bevölkerung unmöglich macht, sich aus eigener Kraft zu entwickeln. Arbeitslosenquoten von bis zu 50 Prozent sind insbesondere in Großstädten keine Besonderheit. Arbeitslosigkeit in Entwicklungsländern ist vor allem eine Folge rapiden Bevölkerungswachstums und fehlender Beschäftigungsmöglichkeiten für Niedrigqualifizierte (Worldbank 2011).
- niedriger Bildungsstand – Bildung zählt zu den Grundvorrausetzung für wirtschaftliches Wachstum und Entwicklung. Humankapital ist die Basis für technischen Fortschritt und für die Inwertsetzung von Sachkapital erforderlich. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF gibt es weltweit noch immer ca. 1 Milliarde Analphabeten, ein Großteil davon lebt in den Ländern Subsahara-Afrikas (UNICEF 2011).
- Zerstörung von Umwelt und Raubbau an natürlichen Ressourcen – Während in den meisten Industrieländern Umweltprobleme oftmals als Folge wachsender Industrialisierung angesehen werden, gelten für Entwicklungsländer Armut, Überbevölkerung, falsche ökonomische Anreize sowie ein Mangel an Alternativen als häufigste Ursachen für die Zerstörung der Umwelt.

Wenngleich auch hier keine eindeutige Definition existiert, kennzeichnen die beschriebenen Erscheinungen der Unterentwicklung den Armutsbegriff sehr deutlich. Armut, die, so Gandhi, die fürchterlichste Form der Gewalt sei, kann – als Folge oder Ursache von Unterentwicklung – mit einem „Teufelskreis“[22] verglichen werden, der von innen kaum zu durchbrechen ist. Ähnlich formulierte es der Wirtschaftswissenschaftler und Friedensnobelpreisträger Yunus Muhammad (Yunus 2008: 245).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Anzahl in absoluter Armut lebender Menschen (UN 2010: 16)

4.3 Ursachen von Unterentwicklung

Unterentwicklung ist vielschichtig und kann auf unterschiedlichste Faktoren zurückgeführt werden. Bisher ist es nicht gelungen, eine eindeutige, allgemein anerkannte Definition zu finden, die für sich beanspruchen könnte, alle Aspekte dieses Phänomens widerspruchsfrei erfasst zu haben (Nohlen; Nuscheler 1992: 31). Ungeachtet dessen lässt sich ein Basisbestand von Erscheinungsformen und Merkmalen formulieren, der von außen deutlich sichtbar ist und keines empirischen Nachweises bedarf. So kann Unterentwicklung eine Folge unzureichender Faktorausstattung oder Kapitalmangels sein, sie kann sich aber auch aus dualistischen Wirtschaftsstrukturen oder internationalen Handelsbeziehungen ergeben. Bereits an diesen Beispielen wird deutlich, dass es keinen monokausalen Erklärungsansatz für diesen Zustand geben kann. Einige der genannten Faktoren haben in heutigen Industrie- und Schwellenländern zur Entwicklung beigetragen, gleichzeitig aber dazu geführt, dass der Entwicklungsprozess in anderen Ländern weiter gehemmt wurde (Tetzlaff; Jakobeit 1994: 27).

Unterentwicklung wird mit exogenen, endogenen und strukturellen Defiziten erklärt, die zu einer unzureichenden Entfaltung der Produktivkräfte und damit zur ungenügenden Versorgung großer Bevölkerungsschichten mit für das Überleben notwendigen Gütern und Dienstleistungen führen (Coy 2005: 737):

- Endogene Faktoren – einschließlich persönlicher Merkmale politischer Eliten,
- Exogene Faktoren – einschließlich weltmarktbedingter Austauschprozesse,
- Strukturelle Faktoren – einschließlich soziokultureller Strukturmerkmale.

Ein weiterer bekannter Erklärungsansatz stammt von dem britischen Wirtschaftswissenschaftler und Entwicklungsökonom Paul Collier, der Unterentwicklung und Armut in erster Linie als Folge von Konflikten, Rohstoffen, der geografischen Lage und schlechter Regierungsführung sieht.[23] Im Vorgriff auf das Kapitel Entwicklungstheorie beziehen sich die folgenden Ausführungen ausschließlich auf den ersten Erklärungsansatz.

Endogenen Faktoren

Unter endogene Faktoren werden in erster Linie Rahmenbedingungen und Merkmale zusammengefasst, deren Ursache in dem jeweils betroffenen Land selbst liegt. Vielfach wird an diesem Zusammenhang auf das hohe Bevölkerungswachstum verwiesen. Bereits zweihundert Jahre zuvor warnte der englische Wirtschaftswissenschaftler Robert Malthus vor Hungersnöten und Ressourcenkriegen als Folgen unkontrollierten Bevölkerungswachstums. Das Malthussche Verelendungstheorem[24] besagt, dass sich – bedingt durch begrenzte Ressourcen – die Schere zwischen Nahrungsmittelangebot und -bedarf infolge eines ungebremsten Bevölkerungswachstums immer weiter öffne, so dass es am Ende zwangsläufig zu Konflikten kommen müsse (Nuscheler 2010: 269).

Widerlegt wurde diese These durch die historische Entwicklung heutiger Industrieländer, die zeigte, dass Ressourcen durch technischen Fortschritt erweitert werden können. Allerdings waren die Bedingungen zu Beginn der Industrialisierung andere als heute. Während damals ein durchschnittliches Bevölkerungswachstum von 1 Prozent pro Jahr bewältigt werden musste, lag es zu Beginn der 1990er Jahre in Subsahara-Afrika bereits bei 3 Prozent. Ein hohes Bevölkerungswachstum kann daher zwar als Ursache oder Folge von Armut betrachtet werden, aber nicht als hinreichende Erklärung für Unterentwicklung dienen (Nohlen; Nuscheler: 1992: 37).

Als weitere endogene Größe gilt die Wirtschaftspolitik, da diese maßgeblich die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes beeinflusst. In vielen Entwicklungsländern leidet beispielsweise der Exportsektor beständig unter staatlich diktierten Niedrigpreisen, einer extensiven Importsubventionspolitik sowie unrentablen Devisenbewirtschaftungssystemen (Lachmann 2010: 49). Wirtschaftspolitische Entscheidungen werden häufig von einer politischen Elite getroffen, die – wie am Beispiel vieler afrikanischer Staaten im Zusammenhang mit der Vergabe von Schürfrechten oder Bergbaukonzessionen zu beobachten – auf persönlichen Vorteil bedacht ist oder zumindest den Status Quo wahren will. In vielen Entwicklungsländern ist das wirtschaftspolitische Umfeld von ineffizient arbeitenden öffentlichen Verwaltungsapparaten, Korruption und einer Vielzahl institutioneller Handelshemmnisse geprägt. Die Wirtschaftspolitik ist unbeständig, Handelsbeziehungen werden durch Einfuhrbeschränkungen, Zölle und abgeschottete Märkte erschwert. Folglich ist jede Art von Geschäftstätigkeit mit hohen Zusatzkosten verbunden, die durch starre bürokratische Abläufe und Ineffizienz noch gesteigert werden (Collier; Gunning 1999: 69f).

Die meisten Entwicklungsökonomen stellen jedoch den Mangel an Sach- oder Humankapital[25] in den Mittelpunkt ihrer Definition von Unterentwicklung. So gilt ein niedriges PKE noch immer als Schlüsselindikator für Unterentwicklung. Die Schaffung einer ausreichenden Kapitalbasis ist demzufolge für den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess von zentraler Bedeutung. Eine beschleunigte Kapitalakkumulation kann somit zu einem höheren Entwicklungstempo führen (Hemmer 2002: 176).

Nach den Vorstellungen der neoklassischen Wachstumstheorie steigt der Wohlstand eines Landes relativ zur Entwicklung der Sparquote[26]. Voraussetzung dafür ist ein leistungsfähiges Finanz- und Bankensystem sowie hinreichendes Vertrauen der Bevölkerung in die eigene Zukunft (Welfens 2008: 831). Folglich kann die geringe Sachkapitalbasis vieler Entwicklungsländern auf eine unzureichende Ersparnisbildung respektive zu geringe produktive Investitionen zurückführt werden. Zusätzlich erschwert wird die Situation durch die außergewöhnlich hohe Kapitalflucht, deren Anteil inzwischen ein Drittel des in Afrika generierten Sachvermögens überstiegen hat (Collier 2007: 122). Kritisch zu betrachten sind in diesem Zusammenhang auch die Auswirkungen von Verschwendung beziehungsweise die unproduktive Verwendung von Sachkapital, beispielsweise durch Korruption, legale und illegale Gewinntransfers und nicht zuletzt die hohen Rüstungsausgaben (Nuscheler 2004: 195). An Beispielen wie der Grameen Bank in Bangladesh – auch „Bank der Armen“ genannt, weil sie Mikrokredite an arme Menschen vergeben hat – wird jedoch deutlich, dass Menschen in Entwicklungsländern prinzipiell im Stande sind, zu sparen und langfristig Investitionskapital aufzubauen (Papa et al. 2006: 50).

Dass das Vorhandensein von Humankapital für die Höhe des PKE eines Landes von größerer Bedeutung als die Sachkapitalausstattung ist, wurde inzwischen empirisch nachgewiesen (Hemmer 2002: 203). Umso problematischer stellt sich die Situation für viele Länder Subsahara-Afrikas heute dar. Denn selbst unter der Annahme, dass Sachkapital in ausreichendem Maße vorhanden wäre und Investitionen – beispielsweise für den Aufbau von Industrieanlagen oder Verbesserungen in der Agrarwirtschaft – getätigt werden könnten, wären diese letztlich von geringem Nutzen, da es an ausgebildeten Personals für Wartung und Betrieb dieser Anlagen mangeln würde. Zwar kann Humankapital auf unterschiedlichen Wegen akkumuliert werden, als wichtigste Quelle gilt jedoch noch immer die Aus- und Weiterbildung durch den formellen Bildungssektor (ders.: 203). Durch die geringe Qualität ihrer Bildungssysteme sind die Möglichkeiten zur Bildung von Humankapital in den meisten Entwicklungsländern drastisch reduziert.

Exogene Faktoren

Exogene Faktoren sind äußere Einflüsse, die von den Entwicklungsländern nur bedingt beeinflusst werden können. Zu den wichtigsten zählen die koloniale Vergangenheit, die unzureichende Faktorausstattung, ungünstige internationale Handelsbeziehungen sowie wachsende Auslandsschulden (Nohlen; Nuscheler: 1992: 45, Lachmann 2004: 57).

In der Kolonialzeit hatten die wenigsten Kolonialregierungen ein Interesse daran, die wirtschaftliche Entwicklung in den Kolonien voranzutreiben. Exporte in die Mutterländer waren häufig eingeschränkt, gleichzeitig mussten die meisten Fertigprodukte importiert werden. Die von den Industrieländern aufgebauten Kolonialreiche hatten in erster Linie die Aufgabe, Rohstoffe und Nahrungsmittel zu liefern. Dadurch konnte sich die vorhandene einheimische Industrie kaum weiterentwickeln. Da eine leistungsfähige einheimische Industrie in den Kolonien zudem eine potenzielle Konkurrenz bedeutet hätte, wurde der Aufbau eigener Industriezweige in den Kolonien von vornherein verhindert (Hemmer 2002: 297). Gleichwohl hatte der Kolonialismus auch positive Aspekte, von denen viele Entwicklungsländer zum Teil noch heute profitieren. So wurden zu jener Zeit die Grundlagen für eine moderne Agrarwirtschaft geschaffen sowie Verwaltungen und Infrastruktur aufgebaut. Auch geordnete Rechtssysteme und eine Vereinheitlichung des Maß und Messwesens wurden erst durch die Kolonialverwaltung ermöglicht (Lachmann 2004: 58). Ohne diese Maßnahmen hätte es in vielen Ländern, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, bis heute kaum messbare Entwicklungsfortschritte gegeben. In seiner modernen Variante, dem Neokolonialismus, der sich vor allem mit Hilfe der internationalen Welthandelsordnung zumeist in Form transnational agierender Großkonzerne[27] etabliert hat, wird allerdings deutlich, dass Abhängigkeit und Ausbeutung trotz staatlicher Souveränität bis heute anhalten.

Gegen eine negative Betrachtung der kolonialen Vergangenheit spricht der Entwicklungsprozess heutiger Industrienationen wie den USA, Australien oder Kanada, in denen die Grundlagen für ihre heutige wirtschaftliche Stärke während der Kolonialzeit gelegt wurden. Demgegenüber standen Entwicklungsländer wie Liberia und Äthiopien niemals unter europäischer Kolonialherrschaft.

Eine weitere exogene Einflussgröße stellen die bestehenden Handelsbeziehungen dar. Ein geringer Entwicklungs- und Industrialisierungsrad geht häufig mit einem hohen Primärgüteranteil an Exporten einher. Entsprechend sensibel reagieren Länder mit hohem Rohstoffexportanteil auf Preis- und Nachfrageschwankungen in den Industrieländern. Bei großen Exporterlösschwankungen und gleich bleibend hohem Industriegüterimportbedarf leiden diese Länder oft an chronischer Devisenknappheit (Lachmann 2010: 48). Da ohne diese Kapitalgüter die Mittel zum Aufbau neuer Wirtschaftszweige fehlen, findet eine Diversifizierung der Wirtschaft nur begrenzt statt. Abhängigkeiten bleiben bestehen und vergrößern sich (Lachmann 2006: 300).

In diesem Zusammenhang müssen auch die unterschiedlichen protektionistischen Maßnahmen vieler Industrieländer betrachtet werden. Neben klassischen Formen der Wirtschaftsförderung werden zunehmend Exporthemmnisse[28] für Güter aus Entwicklungsländern aufgebaut, beispielsweise in Form multilateraler Handelsabkommen, zusätzlicher Einfuhrbeschränkungen oder Subventionen (Lachmann 2004: 61). Besonders negativ wirken sich diese Maßnahmen auf den Agrarsektor aus. Hier dient die Subventionspolitik der Europäischen Union als klassisches Beispiel für das ambivalente Verhalten vieler Industrienationen.

Das Problem der hohen Auslandsverschuldung ist spätestens seit 1982 fester Bestandteil der Agenda der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik.[29] Die Ursprünge reichen jedoch zurück bis in die 1960er Jahre und sind vor allem in der Funktionsweise des internationalen Finanzsystems und der Weltwirtschaftsordnung begründet (Sangmeister 1992: 328). Die Ursachen dafür sind vielfältig und vorrangig in der geringen Wettbewerbsfähigkeit der Entwicklungsländer begründet. Mit 1,3 Billionen US-Dollar erreichte die Auslandverschuldung der Entwicklungsländer im Jahr 1990 ihren vorläufigen Höhepunkt bevor sie – trotz groß angelegter Entschuldungsprogramme – im Zuge der jüngsten Finanzkrise 2008 auf 3,4 Billionen US-Dollar anstieg (Nuscheler 2010: 196).

[...]


[1] Eine Ausnahme bildet der Bereich der Entwicklungspolitik. Da hierunter im Allgemeinen konkrete Maßnahmen zur planmäßigen Unterstützung unterentwickelter Länder subsumiert werden, die ausschließlich darauf ausgerichtet sind, die Lebensverhältnisse schrittweise zu verbessern sowie langfristig den Anschluss an die entwickelte Welt zu ermöglichen, kann der Begriff in seiner Bedeutung klar abgegrenzt werden (Brunner et al. 2004: 226f).

[2] Eine differenzierte Auseinandersetzung mit verschiedenen entwicklungstheoretischen Ansätzen erfolgt in Kapitel 2.

[3] Im Vordergrund steht dabei die Analyse so genannter Pro-Kopf-Größen. Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum stehen jedoch in einem negativen Zusammenhang: Ist die Wachstumsrate der Bevölkerung höher als die Wachstumsrate etwa des BIP, dann sinkt das PKE (Barro; Sala-I-Martin 2003: 16).

[4] Vgl. hierzu Kapitel 5.

[5] Eine ausführliche Darstellung verschiedener Wachstumstheorien folgt in Kapitel 3.

[6] Big Push – Konzept aus der Entwicklungs- und Wohlfahrtsökonomie. Ein wirtschaftlicher Aufschwung könnte nicht schrittweise vollzogen werden, sondern erfordere einen einmaligen Impuls, bei dem ein Mindestmaß an Ressourcen mobilisiert werden müsste (Rosenstein-Rodan 1961: 57ff).

[7] Trickle-down-Effekte, so genannte „Durchsicker-Effekte“ treten ein, wenn auch untere Schichten der Gesellschaft im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs nach und nach von steigendem Wohlstand profitieren. Die Bezeichnung wird häufig verwendet, um entsprechende Effekte in Entwicklungsländern zu beschreiben (Basu; Mallick 2007: 259).

[8] Einzelheiten zur Wirtschaftsstufententheorie nach Rostow sind in Anhang A1-1 aufgeführt.

[9] Strukturelle Rigiditäten – Preis- und Lohnstarrheit, Machpositionen, fehlender Wettbewerb. Strukturelle Rigiditäten können technologischer Art (z.B. als Folge einer begrenzten Substituierbarkeit von Produktionsfaktoren) sein oder institutionelle Ursachen widerspiegeln (Hemmer 2002: 152).

[10] Um die wahren Ursachen sowie die Ausprägung von Unterentwicklung in verschiedenen lateinamerikanischen Großregionen zu ermitteln, forderten der Brasilianer Fernando Cardoso und der Chilene Enzo Faletto, aber auch der in Deutschland geborene Andre Gunder Frank empirische Studien, statt, wie bisher, verallgemeinernde Formeln zu verwenden. Während sich die genannten Autoren ausschließlich auf die wirtschaftliche Abhängigkeit konzentrierten, wurden später auch soziale, politische und kulturelle Aspekte berücksichtigt (Menzel 2010: 108). Insbesondere der deutsch-amerikanische Sozialwissenschaftler Frank zählte zu den wichtigsten Vertretern dieser Denkrichtung außerhalb Lateinamerikas. Erst durch ihn wurde die Dependenztheorie auch in Europa und den USA bekannt (Bachinger; Matis 2009: 124).

[11] Auf globaler Ebene bilden entwickelte Industrienationen das Zentrum, während die Entwicklungsländer die Peripherie repräsentieren. Zwischen beiden bestehen ungleiche Wirtschaftsbeziehungen. Die Peripherie dient in erster Linie als Lieferant für Rohstoffe und billige Produkte, während das Zentrum Entwicklungsvorteile generiert und das Wachstum in der Peripherie weiter begrenzt (Bachinger; Matis 2009: 125).

[12] Als PKE wird der Quotient aus Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Bevölkerungszahl (N) bezeichnet.

[13] Dieser Begriff wurde erstmals 1961 durch Nicholas Kaldor im Bezug auf die qualitativen Eigenschaften von Zeitreihen ökonomischer Größen wie Pro-Kopf-Produktion und Investitionsquote eingeführt. Ökonomische Wachstumsprozesse sind typischerweise durch sechs wesentliche Merkmale gekennzeichnet: die Arbeitsproduktivität steigt kontinuierlich an, die Kapitalintensität nimmt zu, Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität variieren im Ländervergleich und führen zu unterschiedlichen Wachstumsraten, Kapitalkoeffizient und Kapitalproduktivität bleiben konstant, Kapitalrendite und Zinssatz sind nahezu konstant, die funktionelle Einkommensverteilung ändert sich nicht (Frenkel; Hemmer 1999: 140).

[14] Die Wirtschaftsstufentheorie – nicht mit dem gleichnamigen, in den 1960er Jahren von Rostow entwickelten Ansatz zu verwechseln – beschreibt die historische Entwicklung der Wirtschaft unter Berücksichtigung wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen ökonomischen, demographischen und politischen Faktoren. Ziel des Stufenmodells war es, die inneren Zusammenhänge volkswirtschaftlicher Phänomene zu verdeutlichen (Schachtschabel 1971: 4).

[15] Einzelheiten zum Harrod-Domar-Modell sind im Anhang A1-2 aufgeführt.

[16] Üblicherweise bezieht sich der Begriff Neoklassik auf eine Entwicklungsphase der ökonomischen Theorien, die mit dem Erscheinen von Keynes’ Hauptwerk Ende der 1930er Jahre zu Ende gegangen ist, auch wenn diese sich zeitlich an die Mitte der 1950er Jahre endende Phase der postkeynesianische Theorie anschließt (Frenkel; Hemmer 1999: 28).

[17] Trevor Swan veröffentlichte in dieser Zeit ein ähnliches Wachstumsmodell, welches allerdings auf der spezielleren Cobb-Douglas-Produktionsfunktion aufbaute (Lachmann 2006: 188).

[18] Die Sparquote gilt als wichtiger Indikator für den Wohlstand eines Landes. Eine hohe Sparquote ist gleichbedeutend mit einem hohen Produktionsniveau (Sieg 2007: 201).

[19] Einzelheiten zu endogenen Wachstumsmodellen sind im Anhang A1-3 aufgeführt.

[20] Exemplarisch sei an dieser Stelle auf das 2011 publizierte Werk „Unified Growth Theory“ von Oded Galor verwiesen.

[21] Die Weltbank definiert Armut: “Poverty is hunger. Poverty is lack of shelter. Poverty is being sick and not being able to see a doctor. Poverty is not having access to school and not knowing how to read. Poverty is not having a job, is fear of the future, living one day at a time. Poverty is losing a child to illness brought about by unclean water. Poverty is powerlessness, lack of representation and freedom” (Worldbank 2011a).

[22] In Anlehnung an den „Teufelskreis der Armut“ (Wolff 2003: 52).

[23] Collier bezeichnet diese als „Armutsfallen“ (Collier 2007: 33ff), vgl. Anhang A1-4.

[24] Für Malthus stellt das naturgegebene Bevölkerungsgesetz eine unüberwindliche Barriere dar, an der alle Zukunftsträume letztendlich scheitern müssen. Da sich die Bevölkerung immer schneller entwickle als die zur Versorgung notwendigen Lebensgrundlagen, werde die Masse der Menschen langfristig in Armut und Elend leben (Malthus 1798).

[25] Mit Humankapital werden alle Fähig- und Fertigkeiten, die ein Mensch entwickelt hat und die somit an seine Person gebunden sind, bezeichnet. Es gewinnt an Bedeutung, wenn es leistungssteigernd in den Produktionsprozess eingeht (Hemmer 2002: 202).

[26] Als Sparquote wird der Teil des gesamtwirtschaftlichen Einkommens betrachtet, den die privaten Haushalte nicht konsumieren (Sieg 2007: 173).

[27] Die Aktivitäten dieser Konzerne sind auch mit Vorteilen für den Entwicklungsprozess verbunden. Beispielsweise in Bezug auf Direktinvestitionen, Technologietransfer, beides wichtige Voraussetzungen zur Steigerung der Produktivität einheimischer Faktorgrößen (Lachmann 2004: 59).

[28] Im Wesentlichen lassen sich zwei Formen von Handelshemmnissen unterscheiden: Tarifäre Handelshemmnisse sollen den Schutz inländischer Branchen durch Zölle sicherstellen, nichttarifäre Handelshemmnisse sind ein Sammelbegriff für alle übrigen protektionistischen Maßnahmen, die nicht in diese Kategorie fallen beispielsweise Einfuhrbeschränkungen (Geigant et al. 2000: 800).

[29] Damals befanden sich viele Industrieländer in einer Rezession, die mit massiven Nachfragerückgängen nach Ausfuhrgütern aus Entwicklungsländern – vornehmlich Rohstoffen – verbunden war (Sangmeister 1992: 329).

Ende der Leseprobe aus 153 Seiten

Details

Titel
Entwicklungs- und Wachstumsstrategien in ausgewählten Ländern Subsahara-Afrikas – eine vergleichende Betrachtung
Hochschule
AKAD-Fachhochschule Leipzig
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
153
Katalognummer
V181097
ISBN (eBook)
9783656041009
ISBN (Buch)
9783656041283
Dateigröße
1942 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
entwicklungs-, wachstumsstrategien, ländern, subsahara-afrikas, betrachtung
Arbeit zitieren
MA Theo Tino Grötschel (Autor:in), 2011, Entwicklungs- und Wachstumsstrategien in ausgewählten Ländern Subsahara-Afrikas – eine vergleichende Betrachtung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/181097

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