Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Quellenlage
II.1. Feldpost
II.2. Feldzeitungen
III. Erwartungen und Reaktionen auf den Krieg
IV. Erfahrungen und Reaktionen
V. Schlussbetrachtung
VI. Quellen- und Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Der Erste Weltkrieg hat sich bis heute als »europäische Tragödie« in die Köpfe der Menschen eingebrannt.[1] Die vollkommene Ausrichtung der Wirtschaft auf den Krieg,[2] die neuartige Maschinisierung der Kampfhandlungen und das damit einhergehende, zuvor ungeahnte Ausmaß an Toten, sowie die menschenunwürdigen Lebensbedingungen der Soldaten - all diese Faktoren tragen zum allgemeinen Verständnis des Weltkriegs bei. Dem entgegen steht der Begriff des »Augusterlebnisses«, der nationale Kriegsbegeisterung und allgemeinen Rauschzustand zu Beginn des Krieges beinhaltet. Kollektiv wird dies auch als »Geist von 1914« bezeichnet.[3]
»Der Krieg hatte seine Krallen gezeigt und die gemütliche Maske abgeworfen. Das war so rätselhaft, so unpersönlich. Kaum, daß man dabei an den Feind dachte, dieses geheimnisvolle, tückische Wesen irgendwo dahinten. Das völlig außerhalb der Erfahrung liegende Ereignis machte einen so starken Eindruck, daß es Mühe kostete, die Zusammenhänge zu begreifen. Es war eine gespenstische Erscheinung im hellen Mittagslicht.«[4]
Dieses Zitat des Schriftstellers Ernst Jünger,[5] welcher während des Weltkriegs zum Offizier befördert wurde, zeigt exemplarisch die plötzliche Ernüchterung der Soldaten, als sie sich erstmals mit dem Alltag und der Realität des Kriegs konfrontiert sahen. Der Widerspruch zwischen Erwartungen und Erfahrungen machte den Kriegsalltag, der von Tod, Leid und Entmenschlichung geprägt war, für die Soldaten nahezu unerträglich. Kriegserfahrungen und Lebensumstände wurden von Frontkämpfern in Erfahrungsberichten, Briefen oder Tagebüchern ausführlich beschrieben und von diversen Historikern in ihren Forschungen thematisiert. Unzählige Arbeiten von Historikern wie Gerhard Hirschfeld, Modris Eksteins, Anne Lipp oder Benjamin Ziemann zeugen davon, dass sich die soldatischen Front- und Kriegserfahrungen als fruchtbares Forschungsfeld erwiesen haben. Fest steht somit die Bedeutung der Auseinandersetzung mit diesem »Krieg des kleinen Mannes«.
Doch wie weit ging die Schere zwischen den soldatischen Kriegserwartungen und dem was sie erfuhren tatsächlich auseinander? Ist etwa dem Bild des Soldaten, der unwissend und voller Begeisterung aus der Kaserne in den Tod marschierte zuzustimmen?
Dies zu untersuchen, wird meine Aufgabe in dieser dreigeteilten Arbeit sein. Zu Beginn werde ich dazu den Wert der beiden Quellenbestände darstellen, die in der Forschung am stärksten thematisiert wurden und somit auch die Grundlage für diese Arbeit lieferten – Feldbriefe und Feldzeitungen. Danach möchte ich mich kritisch – und auf verschiedene Bevölkerungsbereiche bezogen – mit dem Phänomen auseinandersetzen, das bis heute unser Verständnis der deutschen Kriegserwartungen prägt – dem sogenannten »Augusterlebnis«. Abschließend werde ich die daraus gewonnene Erkenntnis über soldatische Kriegserwartungen mit den Erfahrungen der Soldaten im Kriegsalltag konfrontieren. Dies werde ich beispielhaft anhand des soldatischen Umgangs mit dem massenhaften Tod durchführen.
II. Quellenlage
Wie lassen sich soldatische Erwartungen und Erfahrungen zugänglich machen für diejenigen, welche sie nicht gemacht haben? Ist es überhaupt möglich, sie in ihrem vollen Umfang zu begreifen? Die Werkzeuge, die dem Historiker dazu zur Verfügung stehen, sind alle Quellen, die Auskunft über die Gedankenwelt der Soldaten geben können. Dazu gehören unter anderem Feldpostbriefe, Tagebucheinträge, Erfahrungsberichte oder Feldzeitungen. In der Forschung haben Feldpostbriefe und Feldzeitungen dabei bisher die größte Beachtung gefunden.
II.1. Feldpost
Für die Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs stellen Feldpostbriefe mittlerweile die wichtigste Grundlage dar. Noch 1986 schrieb der Historiker Peter Knoch, dass Feldpostbriefe eine »unentdeckte« Quellengattung der Weltkriegsgeschichtsschreibung sind.[6] Dieses Verständnis hat sich seitdem gewandelt. Der herausragende Quellenwert dieser »kurzen Einblicke in die Gedankenwelt« der Soldaten steht heutzutage fest.[7] Schon aufgrund der reinen Masse an Briefen bietet sich dieser Quellenkorpus an, um flächendeckend die Erfahrungen und Meinung der Soldaten während des Ersten Weltkriegs zu erforschen. Allerdings muss angemerkt werden, dass eben auch aufgrund dieser Unmenge, Feldpostbriefe sich einem systematischen Zugriff durch die Forschung entzieht.[8] Zwar hat die methodische Handhabung dieses sperrigen Quellenkorpus große Fortschritte gemacht, doch lässt sich nicht »die eine« Meinung oder Stimmung unter allen Soldaten bestimmen. Dies wird auch in Zukunft und mit gesteigertem Forschungsfortschritt nicht möglich sein. Die Bandbreite an persönlichen Erfahrungen unter den Frontkämpfern prägte ebenfalls deren Berichte. Feldpostbriefe können als ausschnittweise Erfahrungsberichte angesehen werden. Ausschnittweise deshalb, weil Soldaten nur selten tatsächlich über all ihre Erfahrungen in Briefen berichteten.
Diverse Faktoren spielten in das Schreiben eines Briefes hinein. Aufgrund der »unerträglichen Missstände«,[9] in denen Soldaten sich befanden, die Angst, den Adressaten durch zu drastische Darstellungen noch mehr zu belasten oder schlichter Sprachlosigkeit erweist sich der vermeintlich so ergiebige Quellenkorpus oftmals als Anreihung von »anekdotischen Berichten« und simplen Banalitäten.[10] Die Angst vor Zensur war ebenfalls häufig ein Grund, warum soldatische Beschreibungen sehr knapp ausfielen.[11] So war es ihnen beispielsweise nicht erlaubt, von (eigenen) Truppenbewegungen zu berichten. Um ihre offensichtliche Unfähigkeit ausführliche Berichte zu liefern zu überspielen flüchteten, die Frontkämpfer sich oft in floskelhafte Antworten und konventionalisierte Sprachformen. Wenn es dann in Briefen jedoch zu detaillierten Beschreibungen der Kriegserlebnisse kam, so blutig diese auch oft waren,[12] so ist man sich in der Forschung sicher, dass es sich hierbei um eine einzigartige Quelle handelt, welche Leben und Tod aus unmittelbarer Sicht der Teilnehmenden widerspiegelt.[13]
Es lässt sich festhalten, dass Feldpostbriefe ohne Zweifel die bedeutendste Grundlage für die Erforschung von soldatischen Kriegserwartungen und –erfahrungen sind. Als solche bieten sie einen persönlichen Einblick in sowohl die Gedankenwelt als auch den Alltag der Soldaten an der Front. Da diese Erfahrungen durch verkürzte Darstellung in Briefen »gefiltert« wurden, ist der Quellenwert – oft auch der Wahrheitsgehalt – vom Historiker jedoch mit Vorsicht zu genießen. Ein kritischer Umgang mit den Quellenbeständen ist ohne Frage unerlässlich.
II.2. Feldzeitungen
Der zweite bedeutende Quellenbestand, der Auskunft über soldatischen Frontalltag und damit verbundene Erfahrungen gibt, sind die Feldzeitungen. Der Begriff »Feldzeitung« beschreibt dabei einen Quellentypus, der auf den ersten Blick per definitionem unbedeutender für die Erkenntnisgewinnung über soldatische Kriegserwartungen und –erfahrungen erscheint, als er es in Wirklichkeit ist. Feldzeitungen werden in der Forschung unterteilt in »Schützengrabenzeitungen« und »Armeezeitungen«. Als Schützengrabenzeitung werden alle Zeitungen bezeichnet, die durch das Engagement von Frontsoldaten ins Leben gerufen und geleitet wurden. Zeitungen, die möglicherweise auch an der Front zugänglich, aber eher »von oben« geplant waren, wie etwa die »Liller Kriegszeitung« durch das Armee-Oberkommando, bezeichnet man als Armeezeitungen. Beispiele für Schützengrabenzeitungen im Ersten Weltkrieg waren etwa der »Drahtverhau«, der »Bayerische Landwehrmann« oder »die Sappe«.
Diese Unterscheidung ist von großer Wichtigkeit, da je nach Zugehörigkeit Zeitungen unterschiedliche Inhalte propagierten, unter verschiedenen Umständen produziert wurden - und damit auch von unterschiedlicher Qualität und Auflage waren. Schlussendlich bedeutet dies für den Historiker auch unterschiedliche Möglichkeiten zur Erforschung der unter den Soldaten vorherrschenden Meinungen und Erfahrungen. Folglich war es die Intention der Zeitung, die letzten Endes als wichtigstes Kriterium für die Unterscheidung sorgte. Da Schützengrabenzeitungen von Frontsoldaten selbst herausgegeben wurden, hatten sie die Aufgabe als Abwechslung zum sonst so düsteren Kriegsalltag zu dienen. Witze, Karikaturen oder Geschichten über die Heimat bildeten dazu den Inhalt dieser besonderen Zeitungsform. Wobei man sich häufig Themen wie dem miserablen Essen oder den unbeliebten Vorgesetzten widmete.
Armeezeitungen hingegen wurden oft als Mittel der Propaganda im Sinne der Obersten Heeresleitung genutzt. Etwa durch das Abdrucken von besonders heroischen Feldbriefen,[14] offiziellen Stellungnahmen oder Heeresberichten versuchte man, Stimmung und Meinung der Soldaten zu beeinflussen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine »Zeitungen von oben« nichts über die Erfahrungen oder generell das Leben an der Front aussagen könnte. So versuchten die Herausgeber etwa gewisse ungewünschte soldatischen Verhaltensweisen oder Vorkommnisse durch kritische Thematisierung zu korrigieren. Indirekt bietet sich damit dem Historiker die Möglichkeit, flächendeckende Verhaltensweisen und Meinungen unter den Soldaten zu erschließen.
Mit dem Fortschreiten des Krieges, ist aber eine klassische schwarz-weiß Unterscheidung der Zeitungen nicht mehr möglich. Die fortwährenden Zensurbemühungen der Obersten Heeresleitung führten häufig zum Wechsel der Schützengrabenzeitungen in einen hybriditären Zustand. So versuchte man verstärkt, den Inhalt dieser eigentlich informellen Zeitungen zu bestimmen und in Einklang mit dem allgemeinen Tonus der OHL zu bringen, dem sogenannten »Burgfrieden«. Dieser besagte, dass »jede Gefährdung der Einigkeit des deutschen Volkes zu vermeiden [sei] und [man] niemals den Eindruck aufkommen [...] lassen [soll], als sei der entschlossene Volkswille zum Siege schwankend geworden.«[15] Themen wie die offene Kritik an Vorgesetzten oder Beschwerden über die miserablen Lebenszustände ließen sich damit nicht mehr vereinbaren. Als bedeutende Zeit- oder Wendepunkt können hier etwa die Einrichtungen des Kriegspresseamtes im Oktober 1915 und der Feldpoststelle 1916[16] genannt werden.
[...]
[1] Vgl. etwa: Keegan, John, Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie, Reinbek bei Hamburg 2000.
[2] (Etwa durch das sogenannte »Hindenburgprogramm« von 1916.)
[3] Vgl. Geinitz, Christian, Hinz, Ute, Das Augusterlebnis in Südbaden: Ambivalente Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit auf den Kriegsbeginn 1914, in: Hirschfeld, Gerhard, Krumeich, Gerd, Langewiesche, Dieter u. a. (Hg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge, 5), S. 20-21.
[4] Jünger, Ernst, In Stahlgewittern, Stuttgart 1961, S. 9.
[5] (* 1895 in Heidelberg, † 1998 in Riedlingen)
[6] Vgl. Knoch, Peter, Feldpost - eine unentdeckte Quellengattung, in: Geschichtsdidaktik 11 (1986), 154-171.
[7] Vgl. Reimann, Aribert, Die heile Welt im Stahlgewitter. Deutsche und englische Feldpost aus dem Ersten Weltkrieg, in: Hirschfeld, Gerhard, Krumeich, Gerd, Langewiesche, Dieter u. a. (Hg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge, 5), S. 130.
[8] Vgl. Buschmann, Nikolaus, Der verschwiegene Krieg: Kommunikation zwischen Front und Heimatfront, in: Hirschfeld, Gerhard, Krumeich, Gerd, Langewiesche, Dieter u. a. (Hg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge, 5), S.208-209.
[9] Vgl. Hobohm, Martin, Soziale Heeresmißstände im Ersten Weltkrieg, in: Wette, Wolfram (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, S. 141.
[10] Vgl. Reimann, Aribert, Die heile Welt im Stahlgewitter, S. 130-131.
[11] (»Bis auf eine Erkältung fühle ich mich hier ganz wohl. Etwas brennslig ist es hier. Wegen der Zensur darf ich ja nicht viel mitteilen.« (Auszug eines Briefes des Kolberger Kriegsfreiwilligen Benno Jastro, ehemaliger Zögling von Dr. Sigmund Feist, Direktor des Waisenheims Reichenheim an eben diesen – vom 27.11.15) (Hank, Sabine (Hg.), Feldpostbriefe jüdischer Soldaten 1914-1918. Briefe ehemaliger Zöglinge an Sigmund Feist, Direktor des Reichenheimischen Waisenhauses in Berlin, Bd. 1, Teetz 2002, S. 314.)
[12] Etwa: »Neulich wurde ein Kamerad von einem Sprengstück einer Granate getroffen. Ich stand 1 m hinter ihm. Der halbe Kopf wurde ihm weggerissen und mir spritzte das Blut und Gehirn ins Gesicht. Ein grässlicher Anblick.« (Brief des Selmener Gefreiten Alfons Schütter an seinen Bruder Friedrich, vom 7.12.1915) (Schütter, Theo (Hg.), Feldpostbriefe/ Kriegstagebuch 1914-1918, Werne 2010, S. 25.)
[13] Vgl. Hettling, Manfred, Jeismann, Michael, Der Weltkrieg als Epos. Philipp Witkops „Kriegsbriefe gefallener Studenten“, in: Hirschfeld, Gerhard (Hg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, 1), S. 185.
[14] Vgl. Buschmann, Nikolaus, Der verschwiegene Krieg, S. 212-213.
[15] Schmidt, Klaus Werner, Überwachungs-Reglementierung im Ersten Weltkrieg (1914-1918), in: Fischer, Heinz-Dietrich, Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts, München u. a. 1982 (Publizistik-historische Beiträge, 5), S. 191.
[16] Vgl. Lipp, Anne, Heimatwahrnehmung und soldatisches „Kriegserlebnis“, in: Hirschfeld, Gerhard, Krumeich, Gerd, Langewiesche, Dieter u. a. (Hg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge, 5), S. 228.