Schellings Philosophie der Weltalter im neuen Licht


Essay, 2010

36 Seiten


Leseprobe


Zusammenfassung

Schöllings spekulative Lehre vom Werden der Zeit, die er in seiner Weltalterphilosophie entwickelte, scheint mit fe­sten Überzeugungen der Geistesgeschichte nicht vereinbar zu sein. Insbesondere das mechanistische Zeitkonzept, das in der klassischen Physik herausgearbeitet wurde, wider­spricht vehement seinen Gedanken vom Ursprung der Zeit. Weitere ernste Einwände wurden vorgebracht, die grund­legende Vorstellungen der Schellingschen Philosophie be­treffen, wie seine Gedanken über das Werden jenseits der Zeit, über eine ausdifferenzierte Unendlichkeit und über seine Doktrin vom werdenden Gott. Auf der Grundlage einer Interpretation der Quantenmechanik vermittels kon­sistenter Historien und ergänzt durch Erkenntnisse aus der Mengenlehre und der nicht-kommutativen Geometrie wird eine Neubewertung der Schellingschen Weltalterphiloso­phie vorgeschlagen. Dieser Vergleich zeigt, dass Schellings Spekulation über das Wesen der Zeit keineswegs irrelevant ist. Vielmehr ist sein Denken grundsätzlich in Überein­stimmung mit vergleichbaren Ideen, die in den modernen Naturwissenschaften diskutiert werden. Diese erstaunliche Parallelität könnte das Interesse an Schellings Philosophie der Weltalter erneuern.

Abstract

Schellings speculative doctrine from the becoming of time, which he developed in his philosophy of world ages, seems to be incompatible with some firm opinions of the intellectual history. Especially, the mechanistic concept of time as worked out in classical physics, vehemently contra­dicts Schellings teaching from the origin of time. In addi­tion. serious objections have been put forward regarding some basic notions of Schellings philosophy that are rela­ted to the change beyond any time, to the infinity that splits into different parts, and to the theological relevance of his speculation about the arising God. Based on the consistent history interpretation of quantum mechanics and complemented by facts of the set theory and non­commutative geometry, we propose a reappraisal of Schel­lings philosophy of world ages. It is suggested from this comparison that Schellings speculation about the essence of time is far from being irrelevant. Rather, his thinking is basically in line with comparable ideas that appeared in modern natural sciences. This astonishing parallelism could renew the interest in Schellings philosophy of world ages.

1 Einleitung

Die Schcllingschc Philosophie dor Welt alter thematisiert und pro­blematisiert die philosophisch-theologische Zeitauffassung auf ei­ne grundsätzliche Art und Weise. Eine Würdigung dieser gran- diesen Spekulation über das Wesen der Zeit bezieht sieh dement­sprechend hauptsächlich auf den Kerngedanken, denn der "wahre Gedanke eines Philosophen ist eben sein Grundgedanke, der, von dem er ausgeht."[2] Nach Schöllings Ansicht wurde das mysteriöse Zcitproblcm nicht tiefgründig genug erörtert. Er schrieb: "Kein Begriff liegt seit langer Zeit in solcher Geringschätzung wie der der Zeit. Ohne Feststellung dieses Begriffs wird sieh aber nie ei­ne verständliche Entwicklung der Wissenschaft denken lassen, u. cs liegt der Grund des allgemeinen Mißvcrstchcns aber in nichts anderem als in den ungewissen schwankenden oder völlig irri­gen Begriffen von der Zeit. Auch die Wissenschaft kann die freve Bewegung nicht wieder finden, che die Pulse der Zeit wieder le­bendig schlagen."[3] Seine Kritik betraf die Oberflächlichkeit und Künstlichkeit des weit verbreiteten, mechanistischen Zeitbegriffs, der für philosophische Spekulationen gänzlich unbrauchbar ist. Mit Blick auf Kant bemerkte er spöttisch: "Der jetzt herrschende Begriff kennt überhaupt keine Zeiten, sondern nur ein Abstrae- tum von Zeit, eine gewisse allgemeine Zeit, die er für die Zeit schlechthin hält, von der cs dann ganz richtig ist zu sagen, daß sic eine bloße Form unsres Bcwußtscyns ist, ja richtiger wäre zu sagen, daß sic nichts ist als eine leere selbstgemachte Form."[4] Wird die Zeit aufgefasst als eine substanzlose Äußerlichkeit, so bleibt sic ein philosophisch unergiebiges Konstrukt, mit dem der Gedankenflug nicht in die Tiefe gelangt.

Doch welches Mysterium birgt die Zeit? Zwei Aspekte wollen wir herausgreifen. Da ist zunächst das Unbehagen zu nennen, wel­ches der immer währende Wechsel von Entstehen und Vergehen, von Leben und Tod beim Menschen hervorruft. Es steigert sieh bis zur Unerträglichkeit, wenn vertraute und geliebte Menschen aus dem Leben gerissen werden. Dabei ist die Absurdität von Aufbau und Niedergang alltäglich. Schelling war sieh dieser Zer­rissenheit voll bewusst. Er schrieb: "Ein Widerstrebendes dringt sieh überall auf; jedermann fühlt dieses Andere, das so zu sagen nicht sevn sollte und doch ist, ja sevn muís; dieses Nein, das sieh dem .Ja, diefs Verfinsternde, das sieh dem Lieht, diefs Krumme, das sieh dem Geraden, diefs Linke, das sieh dem Rechten entge­gensteht, und wie man sonst diesen ewigen Gegensatz in Bildern auszudrüeken gesucht hat; aber nicht leicht ist einer im Stande, cs auszuspreehen oder gar cs wissensehaftlieh zu begreifen."[5] In­dem sieh Schelling auch diesen existentiellen Fragen zuwendet, gewinnt seine Wcltaltcrphilosophic eine religiöse Dimension, die sieh in der Transzendenz manifestiert und die das Unbehagen benennt, welches Volkclt mit folgenden Sätzen beschrieb: "Dieses von zufälligen Tatsachen beherrschte, schlechtweg unganze Leben kann unmöglich für mich das wahre Leben sein! Ich könnte da­her mit begrifflich zugcschärftcm Ausdruck sagen: im Namen der Ganzheit fordere ich in instinktiver Gewißheit, daß cs für mein Ich ein Hinaus über das irdische Leben geben müsse, da nur auf diese Weise mein Ich zur Ganzheit kommt."[6]

Ein weiterer Punkt betrifft die Unhaltbarkeit der mechanisti­schen Vorstellung von der Anfangslosigkcit der Zeit. Seine Kri­tik der damit involvierten "schlechten Unendlichkeit" hat den Wortlaut: "Ein Ursprung oder Anfang der Zeit ... ist nach jeder mechanischen Ansicht unbegreiflich. Wenn, wie insgesamt ange­nommen wird, die Zeit nur Eine Richtung hat: so müßte ihr wi­dersprechender Weise verstattet sevn, vor sieh selbst herzugehen und gleichsam vorauszuschießen, aber ohne noch Zeit zu sevn; jenes, weil jede werdende Zeit eine gewesene schon voraussetzt, ... so muß der Anfang, der wirklich Anfang ist, den Ablauf der­selben nicht erst zu erwarten haben, sondern sic muís gleich an­fangs vergangen sevn. Ein Anfang der Zeit ist also undenkbar, wenn nicht gleich eine ganze Masse als Vergangenheit, eine andre als Zukunft gesetzt wird; denn nur in diesem polarisehcn Aus­einanderhalten entsteht jeden Augenblick die Zeit."[7] Damit ist bereits der Kcrngcdankc der Wcltaltcrphilosophic angesprochen: Die Zeit ist als eine in sieh geschlossene Gesamtheit zu begreifen, als eine transzendentale Einheit von drei "Zeiten", nämlich der verweltlichen Vergangenheit, der Gegenwart und der naehwclt- lichcn Zukunft. In diesem kühnen Ansatz zur Lösung des Zcit- problems geht cs Schelling nicht darum, die Aneinanderreihung der jeweils gegenwärtigen Erscheinungen zu bedenken, sondern den Ursprung und Sinn von Zeit. Dabei sind die drei Zeitformen in einer organischen Einheit integriert. Dieser geniale Gedanke Schöllings bedeutet, dass die Zeit nicht nur mehrgliedrig ist bzw. eine ganze Masse umfasst, sondern ein hochgradig organisiertes, einheitliches Gebilde darstellt, das mit Fug und Recht mit einem lebenden Organismus verglichen wird. Im Gegensatz zum äußer­lichen Zeitfluss der klassischen Physik kann das organische Ge­samt geschehen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einen Ursprung haben. Er liegt allerdings im Zeitlosen. Durch die Ver­legung der Quelle der Zeit in die Sphäre des Absoluten ist das Rätsel der Zeit nach Schelling allerdings immer noch nicht lös­bar, da cs keinen stetigen Übergang vom Absoluten, Unendlichen zum Besonderen, Endlichen geben kann. Darüber ließ Schelling keinen Zweifel aufkommen. Daher bleibt eine Erklärungslückc, da der notwendige Sprung oder Sündenfall "nicht erklärt werden [kann], denn er ist absolut und kommt aus Absolutheit, obgleich seine Folge und das notwendige Verhängnis, das er mit sieh führt, die Nicht-Absolutheit ist."[8] Um die Klärung dieser Schwächst ei­le, die das Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem zum Gegenstand hat, bemühte sich Schelling in seinem gesamten phi­losophischen Werk.

Ein weiterer Punkt, der bei der Beurteilung der Weltalterphilo- sophic zu beachten ist, betrifft die fundamentale Wertschätzung der menschlichen Seele, ohne die, nach Schöllings Verständnis und nach der gesamten metaphysischen Tradition, die Wirklichkeit nicht zu verstehen ist. In dieses Umfeld ist der Kcrngcdankc der Wcltaltcrphilosophic eingebettet, so dass Schelling nicht von Ur­kräften spricht, sondern von Urwillcn und nicht Wechselwirkun­gen vor sich sicht, sondern Urformen eines Dialogs.

Der Grundgedanke der Sehellingsehen Lehre von der Zeit be­sagt, dass die Zeit in der ewigen Gegenwart wurzelt und als ein einheitliches, organisches Geschehen dreier Welt alter aus dem Zeitlosen entstammt. Diese Idee ist sehr ergiebig, da sic einer­seits interessante philosophische und theologische Implikationen hat und andererseits den Zeitbegriff der modernen Naturwissen­schaften tangiert. Die vorliegende Neubewertung der Wcltaltcr­philosophic knüpft an beide Berührungspunkte an.

2 Die Zeit im Spiegel der Weltalter

Die Philosophie der Welt alt er behandelt die Frage, wie das schick­salhafte Werden in die Welt kommen konnte. Gleich zu Beginn der Darstellung droht allerdings ein verhängnisvoller Zirkelschluss, wenn nämlich das Werden der Zeit als ein Ereignis in der Zeit auf­gefasst wird. Eine Entwicklung der Gedanken auf dieser Grundla­ge kann nicht überzeugen. Trotzdem vermieden weder Schelling, noch die Autoren der mir bekannten Sekundärliteratur, konse­quent diesen Irrweg. Vielmehr werden Bilder und Metaphern benutzt, die ein Geschehen voller Dynamik und Dramatik schil­dern, also das Werden des Werdens als einen zeitlich fortlaufen­den Prozess darstellen. Schelling selbst war sieh dieser Laxheit durchaus bewusst, denn er schrieb: "Ich habe gewagt, die Ge­danken, welche sieh mir über das Organische der Zeit und der drey großen Abmessungen derselben, die wir als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden, durch oft wiederholte Be­trachtung gebildet haben, schriftlich aufzuzeidmen; doch nicht in strcngwisscnsehaftliehcr, nur in leicht mittheilender Form, damit sic die Unvollständigkeit ihrer Ausbildung selbst anzuerkennen scheinen ..."[9] Allerdings muss zugestanden werden, dass die Dar­si cllungsschwicrigkcitcn der Wcltaltcrphilosophic erheblich sind, zumal gemäß ihres Grundanliegens die Existenz des Menschen wesentlich ist. Von der Hochachtung des Menschen wollte Schel­ling unter keinen Umständen ablassen, denn "je menschlicher wir alles nehmen, desto mehr können wir hoffen, uns der wirklichen Geschichte zu nähern."[10] Die Schwierigkeit betrifft also die Aus­wahl einer passenden Illustration der Schcllingschcn Grundgedan­ken, die eine Dynamik ausdrückt, die gar keine ist, ja keine sein darf, weil der Urgrund der Zeit im Absoluten ruht. Auf die prin­zipielle Dankbarkeit einer zeitlosen Dynamik wird weiter unten eingegangen.

Als eine allererste Annäherung zur Lösung des Darstcllungs- problcms, bei der die genannte Inkonsequenz vermieden wird, schlagen wir ein stark vereinfachtes Bild vor, durch das leider nur wenige Gedanken Schöllings illustriert werden können. Dazu denke man sieh eine riesige, unbewegliche Urblase, die wegen ih­rer Durchsichtigkeit von weitem so gut wie nicht wahrnehmbar ist. Sic symbolisiert den höchsten Urwillcn bzw. nach Schöllings Worten, die reine Lauterkeit. Ihre Unsichtbarkeit verweist auf die Ambivalenz, denn das "Höchste ist kein Seyendes u. doch auch kein Nichtscycndcs; dicß läßt sieh auch so ausdrüekcn: das Höch­ste ist u. ist doch auch nicht."[11] Alles beginnt mit diesem Urwcscn im höchsten Himmel, denn cs ist das "Nichts, oder Aclmliehcs. .Ja wohl ist cs ein Nichts, aber wie die (lautre) Freyheit ein Nichts ist; wie der Wille, der nichts will, der keine Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird. Ein solcher Wille ist Nichts und ist Alles. Er ist Nichts, in wie fern er weder selbst wirkend zu werden begehrt, noch nach irgend einer Wirklichkeit verlangt. Er ist Alles, weil doch von ihm als der ewi­gen Freyheit allein alle Kraft kommt, weil er alle Dinge unter sieh hat, alles beherrscht und von keinem beherrscht wird."[12] So ge­langen wir zu der Erkenntnis: "Nur eine unbewegliche, göttliche, ja, wie wir richtiger sagen würden, übergöttliche Gleichgültigkeit ist das schlechthin Erste, der Anfang, der zugleich auch das Ende ist."[13] Diese deutlichen Sätze reizen zum Widerspruch, denn nur Gott allein kann das Erste und Höchste sein. Schelling wiegelte ab und gab zu bedenken: "Denn unter Gott können wir nur das höchste Gute denken; also einen schon bestimmten Willen; in dem Willen aber, der nichts will, ist weder diefs noch das, weder Gut noch Bös, weder Seyendes noch Scyn, weder Zuneigung noch Ab­neigung, weder Liebe noch Zorn, und doch die Kraft zu allem."[14] Damit entwirft Schelling bereits im Anfangsteil der Wcltaltcrphi- losophie den theologisch problematischen Mythos vom werdenden Gott.

Ein zweiter Blick auf die Blase offenbart eine Dualität. Man erkennt, dass die starre Form, die Unbeweglichkeit des Ballons, das Resultat zweier sieh kompensierender Urwillcn ist, die gegen­läufig auf Kontraktion bzw. Expansion drängen.

[...]


[1] Epost: klQpdi-berlin.de

[2] F.W.J. Schelling, Sämtliche Werke, Hg. K.F.A. Schelling, Cotta, Stuttgart, 1856-1861, II.3, 60.

[3] "F.W.J. Schelling, Die Weltalter, Fragmente, Hg. W. Schröter, Biederstein und Leibniz Verlag, München, 1946, [WA], 224.

[4]:Ebd. 224.

[5] Ebd. 140.

[6] “J. Volkelt, Phänomenologie und Metaphysik der Zeit, Beck’sche Verlags­buchhandlung, München, 1925, 193.

[7] Ebd. 74.

[8] F.W.J. Schelling, Schriften 1804-1812, Union Verlag, Berlin, 1982, 66.

[9] WA, 13.

[10] WA, 10.

[11] Ebd. 228.

[12] Ebd. 15.

[13] Ebd. 132.

[14] Ebd. 134.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Schellings Philosophie der Weltalter im neuen Licht
Autor
Jahr
2010
Seiten
36
Katalognummer
V181411
ISBN (eBook)
9783656066194
ISBN (Buch)
9783656066415
Dateigröße
1555 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schelling, Weltalter, Quanten Physik, Unendlichkeit, Pantheismus
Arbeit zitieren
Dr. Peter Kleinert (Autor:in), 2010, Schellings Philosophie der Weltalter im neuen Licht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/181411

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