Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Analyse
2.1. „Der verwundete Sokrates“
2.2. Gattungszuordnung
2.2.1. Die herkömmliche Kalendergeschichte
2.2.2. Brechts Kalendergeschichte
3. Die Schierlingsbecherproblematik
3.1. Ein Vergleich
3.2. „So ist das mit der Obrigkeit“ – Brechts Anti- Kriegshaltung
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Der verwundete Sokrates“ entstand 1938 in Skovbostrand, Dänemark.[1] Bertolt Brecht, Autor dieser Geschichte, war 1933 aus seinem Heimatland Deutschland geflohen. Aufgrund seiner antifaschistischen Haltung, die auch in seinen Werken zum Ausdruck kam, war er den Nazis ein Dorn im Auge.[2] In den ersten Exiljahren widmete Brecht seine Prosa der Kritik des Faschismus.[3] Sicherlich dachte er, damit eine Reaktion unter seinen Lesern zu erreichen, denn es gab noch gewisse Hoffnungen, dass sich die braune Herrschaft in Deutschland nicht etablieren würde. Brecht wollte wohl mit seinen Schriften auf die kriegerischen Absichten der Nazis aufmerksam machen und vor ihnen warnen. Jedoch erschien „Der verwundete Sokrates“ zusammen mit einigen anderen Erzählungen und Gedichten in Form der Kalendergeschichten erst vier Jahre nach Kriegsende und leistete seine, vor allem für die Kriegsgeneration gedachte, Aufklärungsarbeit viel zu spät.4 Die Kalendergeschichten wurden Brechts erfolgreichste Sammlung und zum Kanon deutscher Erzählkunst.5
In dieser Hausarbeit soll eine der berühmten Kalendergeschichten Bertolt Brechts: „Der verwundete Sokrates“ genau untersucht werden.
Hierfür wird zunächst eine formale Analyse der zusammengefassten Kalendergeschichte durchgeführt, welche die erzähltechnischen Aspekte aufzeigen wird, um die Geschichte anschließend der literarischen Gattung der Kalendergeschichte zuzuordnen. Dabei ist zu untersuchen, ob in Brechts hier zu betrachtendem Werk die Merkmale dieser literarischen Gattung traditionell umgesetzt werden. Es wird also ein Versuch sein, aufzuzeigen, inwiefern sich die Merkmale der deutschen Kalendergeschichte im Allgemeinen, von der Kalendergeschichte Brechts unterscheiden.
Im Weiteren soll geklärt werden, ob der historische Sokrates in seinen Verhaltensweisen ein Abbild der von Brecht als einzig richtig empfundene Ideologie darstellt, um anschließend auf seine Haltung gegenüber dem Krieg und dem Kapitalismus schließen zu können. Hierfür wird zuerst am Text herausgearbeitet, ob Brecht auf die hervorstehenden Eigenschaften des historischen Sokrates zurückgreift und welche Differenzen zwischen diesem und dem Sokrates aus seiner Geschichte vorliegen. Eine davon betrifft die Mäeutik, das Hervorholen der Wahrheit, welches in Verbindung mit Sokrates oft genannt wurde. Diese besondere Gesprächstaktik ist bis heute eine Kunst geblieben, die von vielen Menschen nicht recht beherrscht werden will.
2. Die Analyse
2.1. „Der verwundete Sokrates“
Sokrates, der berühmte Philosoph der Antike, wird hier nicht als historische Person behandelt. „Der verwundete Sokrates“ ist vielmehr ein fiktionaler Text, in dem der Autor nicht gleichzeitig der Erzähler ist.[4] Gleich zu Beginn der Geschichte führt der auktoriale Erzähler in die Geschichte ein. Ganz deutlich tritt er in der ersten Person Plural in den Vordergrund und spricht den Rezipienten an:
„Sokrates, der Sohn der Hebamme, der in seinen Zwiegesprächen so gut und leicht und unter so kräftigen Scherzen seine Freunde wohlgestalter Gedanken entbinden konnte und sie so mit eigenen Kindern versorgte, anstatt wie andere Lehrer ihnen Bastarde aufzuhängen [...]
Der Ruf der Tapferkeit scheint uns ganz gerechtfertigt, wenn wir beim Platon lesen, wie frisch und unverdrossen er den Schierlingsbecher leerte [...]“ (S. 3)[5]
Erst danach beginnt die eigentlich Handlung: mit einer Szene auf dem Schlachtfeld.
Sokrates flüchtet gleich zu Anfang der Schlacht und tritt sich einen Dorn in den Fuß, der ihn am Weglaufen hindert. In der Nähe bemerkt er die persischen Feinde und brüllt so laut er eben kann. Dazu schlägt er mit seinem Schwert wild um sich, so dass die Perser glauben, sie stünden einer mächtigen athenischen Abteilung gegenüber, worauf sie sich zurückziehen. Die Athener starten daraufhin einen Gegenangriff, der schließlich zum Sieg führt. Alle glauben, dass der Sieg Sokrates’ Tapferkeit zu verdanken sei und huldigen ihm, indem sie ihn auf den Schultern nach Hause tragen.
Hier kommt es zu einem kleinen Zeitsprung, denn in der nächsten Szene wird beschrieben wie Xanthippe, seine Frau, Bohnensuppe kochend am Feuer steht und ihren Mann immer wieder misstrauisch beäugt. Sie erkundigt sich nach seinen „Heldentaten“ (S. 12), weil sie diese ihrem Mann nicht so recht zutraut. Um sich nicht ihrem Hohn auszusetzen, erwidert er ausweichend, denn: „Sie war unheimlich klug, wenn es galt, etwas Ungünstiges über ihn herauszubekommen.“ (S. 13) Als er am nächsten Morgen immer noch nicht aufstehen will, macht sich Xanthippe doch ihre Sorgen. Der Erzähler wechselt hier zur Perspektive Xanthippes: „[...] dass er eine ganze persische Schlachtreihe aufgehalten haben sollte, wollte ihr allerdings nicht in den Kopf. ‚Nicht er’, dachte sie.“ (S. 16-17)
Als seine Schüler Sokrates zu seinem Triumph gratulieren wollen, nimmt er dies geduldig hin. Als ihn jedoch die Regierung auffordert, zwecks einer öffentlichen Ehrung in den Aeropag zu kommen, ist der Philosoph schon nicht mehr ganz so gelassen. Barsch lehnt er die Einladung ab. „Er ließ sich also, anstatt aufzustehen, auf sein hartes Polster zurücksinken und sagte missmutig: ‚Ich brauche keine Ehrung [...].’“ (S. 20)
Auch gegenüber seinem Schüler und Freund Antisthenes und dem Feldherren Alkibiades verhält er sich ungewöhnlich. In seinem Kopf herrscht ein innerer Konflikt, als er Xanthippe im Türrahmen stehen sieht: „Er fragte sich, ob er ihr alles sagen sollte [...]“ (S. 19)
Trotz des häufigen Fokus auf Sokrates oder Xanthippe ist die Stellung des Erzählers zum Geschehen eine extradiegetisch - heterodiegetische, da der Erzähler die äußere Handlung der Geschichte beschreibt, jedoch selbst nicht darin vorkommt.[6]
Zum ersten Mal sagt Sokrates, dessen Gewissen ihn nun so plagt, dass es nicht mehr auszuhalten ist, vor allen Anwesenden im Raum die ganze Wahrheit, worauf Alkibiades entgegnet: „Ich kenne niemand, der unter diesen Umständen erzählt hätte, was du erzählt hast.“ (S. 27)
„Der verwundete Sokrates“ ist kein Theaterstück, sondern eine Kalendergeschichte. Trotzdem werden hier, Helmut Schwimmer zufolge, Verfremdungseffekte, die eigentlich kennzeichnend für Brechts episches Theater waren, erzeugt.[7] Werkzeug ist in dieser Geschichte einzig und allein die Sprache. Schon im Titel schlummert ein Gegensatz. Sokrates, der große Philosoph, soll verwundet sein? Andere ironische Gegensatzpaare sind zum Beispiel: „unverdrossen er den Schierlingsbecher leerte, den ihm die Obrigkeit für die seinen Mitbürgern geleisteten Dienste am Ende reichen ließ.“ oder „weder seinem Ansehen nach, er war Schuster, noch seinem Einkommen nach, er war Philosoph...“
Auch werden antithetische Sprachwendungen genutzt, um eine Verfremdung zu erzeugen:
„’Brüllt’, sagte er leise, ‚brüllt’!“ bzw. „...die Treppe hinaufhinken, um den Lorbeerkranz in Empfang zu nehmen.“
Durch diese Widersprüche sollte die Reflexion des Denkprozesses beim Rezipienten angestoßen werden.
Ein weiteres erzähltechnisches Mittel dieser Geschichte ist das der Historisierung. Das heißt, dass "ein bestimmtes Gesellschaftssystem vom Standpunkt eines anderen Gesellschaftssystems aus betrachtet" wird.[8] „Der verwundete Sokrates“ spielt in einem Gesellschaftssystem, dass es so wirklich gegeben hat. Brecht wollte den Rezipienten mithilfe dieser Technik dazu veranlassen, Erkenntnisse, aus der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart, zu ziehen.[9]
2.2. Gattungszuordnung
2.2.1. Die herkömmliche Kalendergeschichte
Eine „kurze, überschaubare Prosaerzählung, deren Gegenstand eine dem Leben des Volkes entnommene unterhaltende oder nachdenkliche Begebenheit ist, und zwar mit lehrhafter und moralischer Tendenz“.[10] So definiert Jan Knopf die deutsche Kalendergeschichte. Deren wichtigsten Kennzeichen sind ihm zufolge: das Historische, der dialogische Charakter und die Volkstümlichkeit. Ersteres bezieht sich auf die Kalendergeschichte als das Medium, das „Zeit zählt und ordnet“, indem es das „Historische anzieht und Erinnerungen rechtfertigt“.[11] Der dialogische Charakter bezeichnet den Usus, „den Kalender in einem Kalendermann zu personifizieren und auf diese Weise eine identifizierbare Person zu schaffen, die sich als Dialogpartner des Lesers kundtut“.[12] Als sekundäres, aber nicht weniger bedeutendes, Merkmal wäre hier noch der didaktische Charakter zu erwähnen. Der Kalender war als Gebrauchsgegenstand für die Aufnahme praktischer Hinweise geradezu prädestiniert.[13] Nützliche Inhalte- vor allem für die Bauern- wichen dem Didaktischen mit der zunehmenden Verbürgerlichung des Kalenders.[14] Somit diente der Volkskalender nicht mehr als praktisches Buch, sondern der Belehrung und Unterhaltung.[15]
Das letzte und wohl wichtigste Merkmal, das Volkstümliche, formulierte zuerst Erfahrungen, die den Bürger täglich betrafen. Im 16. und 17. Jahrhundert war es nämlich das Bürgertum, das hauptsächlich mit dem Medium umging und es auch benötigte.[16] Dieser Volkstums-Begriff des Bürgertums ging Ende des 19. Jahrhunderts verloren, da sich nun die Arbeiter des Mediums bedienten und „ihre“ Kalendergeschichten schrieben.[17]
[...]
[1] Vgl. Tauscher, Rolf: Brechts Faschismuskritik in den Prosaarbeiten und Gedichten der ersten Exiljahre, phil. Diss. Berlin 1981, S. 93-175.
[2] Vgl. Esslin, Martin: Brecht: Das Paradox des politischen Dichters. Frankfurt a.M. 1962, S. 99.
[3] Vgl. Ignasiak, Detlef: Bertolt Brechts „Kalendergeschichten“. Kurzprosa 1935 bis 1956. Berlin 1982, S. 26.
4 Vgl. ebd., S. 169.
5 Vgl. Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften: Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart 1986, S. 294-295.
[4] Vgl. Martinez, Mathias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 2005, S. 9.
[5] Seitenangaben in Klammern zitiert nach Brecht, Bertolt: Der verwundete Sokrates. Berlin 1989.
[6] Vgl. ebd., S. 63.
[7] Vgl. Helmut Schwimmer: Bertolt Brecht. Kalendergeschichten. Interpretationen zum Deutsch-Unterricht. München 1971, S.86 – 90.
[8] Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater 2. In: Gesammelte Werke in acht Bänden, Band 16. Hrsg. von Bertolt Brecht und Elisabeth Hauptmann. Frankfurt a. M. 1967, S. 653.
[9] Vgl. ebd.
[10] Knopf, Jan: Die deutsche Kalendergeschichte. Frankfurt am Main 1983, S. 11.
[11] Ebd., S. 22.
[12] Ebd.
[13] Vgl. ebd., S. 22-24.
[14] Vgl. ebd.
[15] Vgl. ebd., S. 22-24.
[16] Vgl. ebd., S. 23-25.
[17] Vgl. ebd., S. 24-26.