Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Naturzustand und Kontraktualismus bei Thomas Hobbes
2.1 Der Naturzustand in Thomas Hobbes‘ Werk „Leviathan“
2.1.1 Die empirischen Naturzustandsbedingungen
2.1.2 Die normativen Naturzustandsbedingungen
2.1.3 Die Staatsnotwendigkeit: Der Naturzustand als Kriegszustand
2.2 Der Gesellschaftsvertrag in Thomas Hobbes‘ Werk „Leviathan“
2.2.1 Die Vertragsstruktur und der Rechtsverzicht zugunsten des Souveräns
2.2.2 Die Autorisierung, Repräsentation und politische Einheit
2.2.3 Die personelle Bestimmung der souveränen Macht
3. Der Naturzustand und Kontraktualismus bei Jean-Jacques Rousseau
3.1 Der Naturzustand in Rousseaus Werk „Diskurs über die Ungleichheit“
3.1.1 Die menschliche Natur im Naturzustand vor jeder Vergesellschaftung
3.1.2 Die falsche Vergesellschaftung durch den Betrugsvertrag der Reichen
3.2 Der Gesellschaftsvertrag in Rousseaus Werk „Vom Gesellschaftsvertrag“
3.2.1 Die Vertragskonzeption, Rechtsgleichheit und die Erschaffung des Souveräns
3.2.2 Der Gemeinwille, die Gesetzgebung und die Regierung
3.2.3 Die natürliche und bürgerliche Freiheit
4. Der Vergleich der Gesellschaftsverträge von Hobbes und Rousseau
4.1 Die Verwendung der Vertragsfigur und die Motivation zum Gesellschaftsvertrag
4.2 Der Gesellschaftsvertrag und Rechtsverzicht zur Erschaffung des Souveräns
4.3 Der Wille des Souveräns und die souveräne Machtausübung
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Begründung und Legitimierung politischer Herrschaft ist bis heute Gegenstand zahlreicher politikphilosophischer Fragestellungen. Der Grund hierfür ist eindeutig: Es lässt sich kein Zustimmungsakt des Menschen ausmachen, in welchem er dem Staat, in den er alternativlos ohne jeglichen Entscheidungsspielraum hineingeboren wird, zustimmt und sich seiner Macht unterwirft. Der Gesellschaftsvertrag als ein Vertrag, in dem die Menschen der Gründung eines Staates und gleichermaßen ihrer eigenen Unterordnung unter die souveräne Macht zustimmen, ist die bedeutendste Argumentationsfigur der neuzeitlichen politischen Philosophie, mit deren Hilfe staatliche Gewalt legitimiert werden soll (vgl. Schmidt/Zintl 2009: 29). Der Philosoph und Vertragstheoretiker Thomas Hobbes hat in seinem bis heute viel diskutierten Werk „Leviathan“ dieses Vertragsargument ebenso zur Staatslegitimation genutzt wie der Vertragstheoretiker Jean-Jacques Rousseau, der 111 Jahre nach Erscheinung des Leviathan im Jahr 1762 das Werk „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts“ veröffentlichte (vgl. Pfetsch 2003: 126 / 287).
Sowohl Hobbes als auch Rousseau stellen in ihrer Philosophie der vertraglichen Übereinkunft zur Staatsgründung die Beschreibung eines Naturzustandes voran, womit ein vorstaatlicher Zustand ohne politische Herrschaft gemeint ist. Dieser Naturzustand ist für ihre Argumentationen von großer Bedeutung, denn er zeigt zum einen die Notwendigkeit eines Staates und somit Gesellschaftsvertrages auf, und er legt zum anderen die Gegebenheiten fest, unter denen dieser Vertrag abgeschlossen wird. Hobbes beschreibt den Naturzustand im „Leviathan“ selbst. Rousseau widmet sich dieser Thematik insbesondere in seinem Werk „Diskurs über die Öffentlichkeit“, welches sieben Jahre vor dem Werk des Gesellschaftsvertrages erschienen ist. So ähnlich sich die Philosophen Hobbes und Rousseau somit in ihrer grundsätzlichen philosophischen Herangehensweise und Argumentationsstruktur sind(vgl. Schmidt/Zintl 2009: 32-33), so verschieden sind die speziellen Ausgestaltungen der von ihnen konzipierten Naturzustände und Gesellschaftsverträge. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass Hobbes eine absolutistische, Rousseau hingegen eine demokratische Herrschaftsordnung rechtfertigt, in der Herrscher und Beherrschte gleichermaßen durch das Volk repräsentiert werden.
Der Akt des Gesellschaftsvertrages stellt das Herzstück beider vertragstheoretischer Philosophien dar. Durch ihn geht der Naturzustand durch menschliche Übereinkunft auf legitime Weise in einen Zustand staatlicher Herrschaft über. Aufgrund dieser herausragenden Bedeutsamkeit soll in dieser Hausarbeit ein Vergleich der Gesellschaftsverträge von Hobbes und Rousseau vorgenommen werden. Hierzu werden in den ersten zwei Kapiteln der Hausarbeit die Naturzustände sowie Gesellschaftsverträge beider Vertragstheoretiker getrennt voneinander beschrieben. Die Naturzustände, welche nur in ihren wesentlichen Aspekten dargestellt werden, sollen dem Leser dabei die Einordnung des Gesellschaftsvertrages in das jeweilige kontraktualistische Gesamtkonzept ermöglichen, weil der Vertrag unmittelbar an die Naturzustandsgegebenheiten anknüpft und auch aufgrund dieser seine jeweilige Ausgestaltung erlangt. Im dritten Kapitel werden daraufhin die Gesellschaftsverträge beider Philosophen anhand der herausgearbeiteten Merkmale gegenübergestellt, um sowohl deren Gemeinsamkeiten als auch deren Unterschiede aufzuzeigen. Abschließend werden die erarbeiteten Ergebnisse im vierten Teil dieser Arbeit zusammenfassend dargelegt.
2. Der Naturzustand und Kontraktualismus bei Thomas Hobbes
Im ersten Teil dieser Arbeit sollen zunächst der Naturzustand sowie der damit argumentativ verknüpfte Gesellschaftsvertrag, welche Thomas Hobbes in seinem Werk „Leviathan“ konzipiert, beschrieben werden.
2.1 Der Naturzustand in Thomas Hobbes‘ Werk „Leviathan“
2.1.1 Die empirischen Naturzustandsbedingungen
Hobbes beginnt seine Beschreibung des Naturzustandes mit der Darlegung von empirischen Bedingungen, also der Umgebung des Menschen sowie seiner physischen und psychischen Verfassung, gefolgt von normativen, moralischen Bedingungen, denen der Mensch im Naturzustand unterliegt (vgl. Schmidt/Zintl 2009: 33-35). Die empirischen Naturzustandsbedingungen sind Gegenstand dieses ersten Abschnitts.
Die wichtigsten Bedürfnisse, die Hobbes den Menschen zuschreibt, sind sein Selbsterhaltungstrieb sowie das Streben nach Genussbefriedigung (vgl. Hobbes 1966: 95; siehe auch Chwaszcza 1996: 93-96.). Weil die Güter, die diesen Genuss ermöglichen, jedoch knapp sind und der Mensch sich diese auch für die Zukunft sichern möchte, resultiert hieraus ein niemals endendes menschliches Machtstreben (vgl. Hobbes 1966: 75). Hobbes beschreibt den Menschen des Weiteren als vernunftbegabt: Er ist zu rationaler Interessenverfolgung in der Lage; sein Handeln kann als egoistisch bezeichnet werden kann (vgl. Kersting 1994: 66-67; siehe auch Chwaszcza 1996: 100-104). Auch ein Streben nach sozialer Anerkennung zeichnet ihn aus (vgl. Hobbes 1966: 76). Die Menschen werden von Hobbes außerdem im Wesentlichen als gleich betrachtet, denn jeder besitzt grundsätzlich die nötige Körperkraft, um seinen Nächsten zu töten, und Klugheit ist nichts als Erfahrung, die sich alle Menschen gleicherweise aneignen können (vgl. ebd.: 94).
2.1.2 Die normativen Naturzustandsbedingungen
Im 14. und 15. Kapitel des Leviathans geht Hobbes auf die moralischen Bedingungen des Zusammenlebens der Menschen ein, wozu er mit einer Unterscheidung zwischen natürlichem Recht und Gesetz beginnt. Das natürliche Recht beschreibt Hobbes als die Freiheit der Menschen alles tun zu dürfen, was ihrer eigenen Erhaltung dient. Weil jedoch, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, der Naturzustand ein Zustand des Krieges ist, gibt es keine Handlung, die nicht dem Überlebenswillen dienen könnte. Jeder besitzt somit ein uneingeschränktes „Recht auf alles" (Hobbes 1966: 99). Weil daher niemand ein exklusives Recht auf irgendetwas hat, nicht einmal auf das eigene Leben, ist dieses Naturrecht für das menschliche Zusammenleben jedoch ohne Bedeutung (vgl. Kersting 1994: 75).
Diese absolute Handlungsfreiheit wird jedoch durch die Naturgesetze eingeschränkt, welche der menschlichen Vernunft entspringen und den Menschen untersagen etwas zu tun, das ihr Leben gefährden könnte (vgl. Hobbes 1966: 99). Diese Naturgesetze besitzen die Eigenschaft, den Menschen rationale Wege zur Verfolgung ihrer Interessen aufzeigen. Die menschliche Moral ist somit nur der individuellen Interessenverfolgung geschuldet (vgl. Kersting 1994: 75-79; siehe auch Nagel 1996: 193-210). Hobbes beschreibt insgesamt 19 Naturgesetze, von denen für den Gesellschaftsvertrag die ersten beiden wesentlich sind. Das erste natürliche Gesetz lautet, dass die Menschen Frieden suchen und einhalten sollen (vgl. Hobbes 1966: 100; siehe hierzu auch Kaloianov 2002: 142-149), was mit dem menschlichen Selbsterhaltungsbedürfnis zu erklären ist. Weil dieser Frieden nur durch einen Rechtsverzicht zu realisieren ist, lautet das zweite Naturgesetz, dass die Menschen auf ihre Rechte verzichten sollen, soweit dies im Sinne ihrer Selbsterhaltung ist. Hiermit geht einher, dass der Rechtsverzicht auf Gegenseitigkeit beruhen muss (vgl. Hobbes 1966: 100); kein Mensch würde vernünftigerweise als einziger auf sein Recht auf alles verzichten. Einen Vertrag definiert Hobbes als wechselseitige Rechtsübertragung (vgl. ebd.: 102). Aus diesem Grunde können die ersten beiden Gesetze der Natur darin zusammengefasst werden, dass die Menschen zur Verfolgung ihrer eigenen Interessen dazu bereit sind, einen Friedensvertrag abzuschließen, sofern sie sich sicher sein können, dass alle anderen Menschen diesen Friedensvertrag ebenfalls befolgen.
2.1.3 Die Staatsnotwendigkeit: Der Naturzustand als Kriegszustand
Aus den beschriebenen empirischen Naturzustandsbedingungen resultieren nach Hobbes drei Konfliktursachen: Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht. Die Konkurrenz meint den Kampf um begehrte Güter. Aufgrund der Tatsache, dass kein Mensch einem anderen Menschen von Natur aus überlegen ist, weil alle gleich sind, führt die Knappheit dieser Güter zu Konkurrenzkämpfen unter den Menschen. Aus der Gleichheit der Menschen folgen ferner ständige Unsicherheit und Misstrauen, weshalb die Menschen zur Erhaltung ihrer selbst jeden potentiellen Angreifer präventiv attackieren. Als letzte wichtige Konfliktursache nennt Hobbes die Ruhmsucht, die aus dem Streben nach sozialer Anerkennung resultiert (vgl. Hobbes 1966: 95-96). Aufgrund dieser Konfliktursachen stellt sich der Naturzustand bei Hobbes als einen „Krieg eines jeden gegen jeden“ (ebd.: S. 96) dar.
Hobbes zeigt weiter, dass auch die natürlichen Gesetze, aufgrund derer die Menschen grundsätzlich dazu bereit sind, einen Friedensvertrag einzugehen, nicht alleine in der Lage sind, den Krieg zu beenden. Der Grund liegt in der Voraussetzung der Gegenseitigkeit, von der die Befolgung dieser Gesetze abhängig ist: Der Mensch ist derart stark von seinen Leidenschaften dazu verleitet, den Friedensvertrag zu brechen, dass diese Leidenschaften die Furcht vor den negativen Konsequenzen eines Vertragsbruches dominieren (vgl. Hobbes 1966: 131). Die ständige Unsicherheit bleibt somit bestehen und der Krieg dauert fort (siehe Kersting 1994: 71; siehe auch Nida-Rümelin 1996: 118-124). Die Möglichkeit zur Überwindung dieser unbefriedigenden Kriegssituation bietet der Gesellschaftsvertrag, welcher im nächsten Kapitel erläutert wird.
2.2 Der Gesellschaftsvertrag in Thomas Hobbes‘ Werk „Leviathan“
Hobbes Gesellschaftsvertrag besitzt die Aufgabe, den im Naturzustand herrschenden Krieg zu überwinden, weil dies für alle Menschen zur Verfolgung ihrer individuellen Ziele – wie ihnen auch von ihrer Vernunft nahelegt wird – von Vorteil ist. Die Möglichkeit zur Überwindung dieses Krieges liegt in der Beseitigung der Unsicherheit, welche die friedensstiftende Wirkung der natürlichen Gesetze entkräftet. Die Einhaltung von Verträgen und somit auch die Möglichkeit, Sicherheit durch einen Vertrag zu gewährleisten, kann nur durch eine staatliche Gewalt gewährleistet werden, um „diejenigen zu zwingen, die andernfalls ihre Treuepflicht verletzen würden“ (Hobbes 1966: 105). Die Erschaffung dieser staatlichen Gewalt wird in Hobbes Argumentation durch den Gesellschaftsvertrag ermöglicht, der Gegenstand dieses Kapitels ist.
Dass Hobbes zur Überwindung des Naturzustandes auf einen Vertrag zurückgreift, scheint im ersten Moment verwunderlich, weil Hobbes selbst Verträge im Naturzustand ohne eine den Menschen verpflichtende Macht als unwirksam ansieht (vgl. ebd.: 104-105). Wie kann nun ein Vertrag einen Souverän erschaffen, wenn die Durchsetzungs- und Wirkungskraft des Vertrages selbst von der Existenz dieses Souveräns abhängig ist?
Es gibt zwei Antworten auf diese Frage. Zum einen liegt die Lösung des Widerspruchs in der idealistischen Vertragsverwendung der hobbesschen Argumentation, die darauf ausgerichtet ist, die Voraussetzungen bürgerlichen Zusammenlebens und staatlicher Herrschaft aus dem naturgegebenen Ursprung des Naturzustandes heraus abzuleiten, um so die Bedingungen festzuhalten, die zur Erhaltung einer von allen vernünftigerweise angestrebten gesellschaftlichen Ordnung notwendig sind.1 Hobbes‘ Philosophie richtet sich nicht an Naturzustandsbewohner, die den Krieg des Naturzustandes überwinden wollen, sondern an Bürger, welche über die Voraussetzungen gesellschaftlichen Zusammenlebens – und damit einhergehend über die notwendigen Maßnahmen zur Vermeidung eines Rückfalls in den Naturzustand – aufgeklärt werden sollen. In einem Wort: Hobbes geht es darum, das fundamentale Interesse eines jeden Menschen aufzuzeigen, sich einer staatlichen Gewalt unterzuordnen (vgl. Kersting 1996: 174-175). Die aufgeworfene Frage lässt sich zum anderen dadurch beantworten, dass der Gesellschaftsvertrag gerade die Überwindung der vorherrschenden Unsicherheit im Naturzustand zum Gegenstand hat: „Es ist ein Vertrag, der in derselben logischen Sekunde, in der er geschlossen wird, seine Garantie und die Sicherheit für vertragliche Vereinbarungen überhaupt bewirkt“ (Kersting 2009: 148). Die Schlüsselstelle zu Hobbes Gesellschaftsvertrag findet sich im 17. Kapitel des Leviathan, als Hobbes auf die Errichtung des Staates zu sprechen kommt:
„Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt […] liegt in der Übertragung ihrer [– der Menschen –] gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können. […] Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, dass du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat […]“ (Hobbes 1966: 134).
An dieser Stelle verdichten sich die wesentlichen Aspekte des hobbesschen Kontraktualismus: Die Vertragsstruktur und der damit einhergehende Rechtsverzicht unter den Menschen, sowie die Autorisierung des Souveräns und die Bildung einer politischen Einheit. Diese vertragsinhaltlichen Aspekte sollen im Folgenden erläutert werden. Anschließend soll zudem das Vorgehen bei der konkreten Bestimmung des Souveräns dargestellt werden.
2.2.1 Die Vertragsstruktur und der Rechtsverzicht zugunsten des Souveräns
Der Hobbessche Gesellschaftsvertrag ist ein Vertrag eines „jeden mit jedem“ (Hobbes 1966: 134). Hobbes behält auch bei der Überwindung des Naturzustands seine individualistische, aus der Perspektive und Motivationsstruktur eines jeden Menschen abgeleitete Argumentationsweise bei. Der Vertrag ist somit nicht als ein Vertrag zu verstehen, sondern er ist das Aggregat aus einer Vielzahl von bilateralen, zwischenmenschlichen Verträgen. Weder der durch den Vertrag (bestehend aus vielen Vertragsakten) erschaffene Souverän, noch die Gesellschaft, welche ebenfalls erst bei Abschluss der Vielzahl von Vertragshandlungen konstituiert wird, sind selbst als Vertragspartner in den Vertragsschluss involviert. Beide sind Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages, der zwischen den einzelnen Individuen unter der Bedingung der Gegenseitigkeit abgeschlossen wird. Gesellschafts- und Staatsvertrag sind demnach nicht voneinander zu trennen (vgl. Kersting 1996: 175-176).
Die Überwindung des Naturzustandes ist nur durch einen wechselseitigen Rechtsverzicht der Menschen zu realisieren: „Denn solange jemand das Recht beibehält, alles zu tun, was er will, solange befinden sich alle Menschen im Kriegszustand“ (Hobbes 1966: 100). Die Menschen verzichten, wie dies ihnen das zweite aus der Vernunft abgeleitete natürliche Gesetz nahegelegt, im Rahmen des Vertragsschlusses wechselseitig auf ihr Recht auf alles, damit die ersten Voraussetzungen einer funktionierenden gesellschaftlichen Ordnung geschaffen werden (vgl. Kersting 1996: 176). Ihnen bleibt bei diesem Rechtsverzicht nur ihr Selbstverteidigungsrecht: schließlich besteht das Naturrecht weiter fort, und der Vertrag darf nicht die Selbsterhaltung der Menschen gefährden und damit den Zweck seiner Schließung sabotieren (vgl. Kersting 2000: 50-51). Wie kann jedoch durch den Rechtsverzicht eine staatliche und machtvolle, die individuell verschiedenen Interessen koordinierende Gewalt geschaffen werden? Die Antwort auf diese Frage liegt in der speziellen Betrachtung von Rechtsverzichtsakten, die Hobbes wählt. Indem ein Mensch im Naturzustand auf ein Recht verzichtet, wird dadurch für niemanden neues Recht geschaffen, weil jeder ohnehin das Recht auf alles besitzt. Der Rechtsverzicht hat lediglich zur Folge, dass die anderen Menschen ihr natürlich vorhandenes Recht gegenüber dieser Person ohne Widerstreit und Einschränkungen ausüben können (vgl. Hobbes 1966: 100).
Auf diesem Weg erfolgt bei Hobbes auch die Machtetablierung des Souveräns, der als vertragsunbeteiligter Dritter und letzter Naturzustandsbewohner durch den Vertrag begünstigt wird. Er allein besitzt weiterhin das Recht auf alles, das er zur Schaffung einer verbindlichen gesellschaftlichen Ordnung einsetzen kann. Es handelt sich bei Hobbes‘ Vertrag daher um einen Unterwerfungsvertrag, durch den sich die Menschen dem Souverän unterordnen. Der angestrebte Frieden wird durch die Machtmonopolisierung des Souveräns im Sinne des Gemeinwohls sichergestellt (vgl. Kersting 1996: 177; vgl. Kersting 1994: 85).
2.2.2 Die Autorisierung, Repräsentation und politische Einheit
Durch den wechselseitigen Verzicht auf das Recht auf alles unter den Individuen erlangt der Souverän absolute Macht und Stärke, die allerdings zunächst keine herrschaftsrechtliche Qualität besitzt: das Recht auf alles, welches dem Souverän exklusiv erhalten bleibt, schließt kein politisch legitimiertes Herrschaftsrecht mit ein. Hobbes legt zwar die Aufgabengebiete des Staates fest, welcher sich für „[…] den Frieden und die gemeinsame Verteidigung […]“ (Hobbes 1966: 135) einzusetzen hat. Aber auch aus diesen Aufgaben und dem uneingeschränkten Recht lässt sich kein politisches Herrschaftsrecht ableiten, welches die Unterordnung aller Menschen zu rechtfertigen in der Lage ist (vgl. Kersting 1996: 179).
Das im Rahmen des Vertragsaktes abgetretene Recht auf alles wird deswegen im Leviathan durch ein „Recht auf Selbstregierung“ erweitert, welches ebenfalls an den Souverän im Rahmen einer Autorisierung übertragen wird. Erst durch diesen Akt der Autorisierung, mit der auch die Übertragung des Willens und der Subjektivität auf den Souverän einhergeht (vgl. ebd.: 179), wird der politisch agierende Leviathan erschaffen, der mit seinen umfangreichen Befugnissen für die Menschen urteilt, entscheidet und handelt (vgl. Hobbes 1966: 134). Hobbes sieht es für die Bildung der politischen Einheit als notwendig an, dass es einen vereinten Staatswillen gibt, dem sich alle unterzuordnen haben. Die Autorisierung des Souveräns, wie sie von Hobbes in einer uns befremdlichen Weise verstanden wird, greift sogar noch weiter: Die Bürger haben sich dem Souveränitätswillen nicht nur zu unterwerfen, sondern sie verpflichten sich bei Vertragsschluss sogar, alle zukünftigen Entscheidungen und Handlungen des Souveräns als ihre eigenen anzuerkennen (vgl. ebd.). Der Wille aller Bürger wird zukünftig durch den Willen des Souveräns repräsentiert. Der Autorisierungsakt erzeugt somit eine politische Einheit mit einem einheitlichen Willen und verleiht dem Souverän ein genuin politisches Herrschaftsrecht. Der Souverän als Staatsoberhaupt verkörpert diese politische Einheit – den politischen Körper, der sich aus allen Vertragsschließenden zusammensetzt – und verleiht ihr mit dem von allen Bürgern autorisierten Willen legitimierte Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit (vgl. Kersting 1996: 179-182).
Hobbes‘ Vertrag hat somit eine massive Selbstbeschränkung der Menschen zur Folge, für die sich die Menschen jedoch aufgrund ihrer Vernunft selbst entscheiden. Ihnen ist bewusst, dass sie sich nur über diesen radikalen Weg ihre Erhaltung sowie ein zufriedenes Leben sichern können (vgl. Hobbes 1966: 131). Der Autorisierungsakt, durch den sich die Bürger zum Autor der souveränen Handlungen machen, schränkt die absolute rechtliche Unabhängigkeit des Souveräns von dem ihm untergeordneten Bürger nicht ein, sondern verleiht ihr im Gegenteil zusätzliche Deutlichkeit (vgl. Kersting 1996: 181).
[...]
1 Eine ausführliche Überprüfung der Frage, ob Hobbes‘ Vertragsargument realistisch oder idealistisch aufzufassen ist, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden.