Dem Beweisen kommt in der Mathematik bei der Begründung, Entwicklung und Systematisierung von Wissen eine zentrale Bedeutung zu. Erinnere ich mich jedoch an meine eigene Schulzeit, weiß ich, dass dieses Thema von vielen Lehrerinnen und Lehrern stiefmütterlich behandelt wurde. Dazu soll in dieser Arbeit auf erster Ebene eine theoretische Einführung in das Thema "Beweise im Schulunterricht" erfolgen. Auf einer zweiten Ebene widmet sich diese Arbeit der Frage, wie gymnasiale Schulbücher der Sekundarstufe 1 mit dem Thema „Beweisen“ umgehen. Im Detail sollen die folgenden Fragen beantwortet werden: Verwenden Schulbücher eine äußerlich exakte und wissenschaftsorientierte, axiomatische Darstellung oder werden weniger strenge mathematische Beweise verwendet? Wie ausführlich sind die dargestellten Beweise? Sind sie alltagsbezogen und somit anschaulich oder nicht? Wie lassen sich die dargestellten Beweise klassifizieren? Kommen verschiedene Niveaustufen zum Einsatz? Gibt es Unterstützung bspw. durch Abbildungen oder Handlungsanweisungen?
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Textteil
1. Einleitung und Fragestellungen
2. Vom streng mathematischen Beweis zum Beweis im Unterricht der Sekundarstufe 1
2.1 Definition des streng mathematischen Beweises
2.2 Die Eignung des streng mathematischen Beweises zum unterrichtlichen Einsatz
2.3 Definition des schulischen Beweises
2.4 Aufgaben des Beweisens im Unterricht
2.5 Funktionen des Beweisens im Unterricht
2.6 Kompetenzen und Rahmenlehrpl
2.7 Reduktion der fachlichen Strenge durch „lokales Ordnen“
2.8 Einsatz des Schulbuches im beweisenden Mathematikunterricht
3. Satzgruppe des Pythagoras
3.1 Der Satz des Pythagoras
3.2 Der Kathetensatz
3.3 Der Höhensatz
4. Kriterien zur Beweisanalyse
4.1 Niveaustufen eines Beweises
4.2 Funktionen
4.3 Ausführlichkeit eines Beweises
4.4 Beweis- und Aufgabentypen bei der Satzgruppe des Pythagoras
4.5 Beweiskontexte
4.6 Beweismethoden
4.7 Zusammenfassung: Kriterien zur Beweisanalyse
5. Vorstellung und Analyse ausgewählter Beweise zum Thema der Satzgruppe des Pythagoras aus drei gymnasialen Lehrbüchern
5.1 Vorstellung der Lehrbücher und betroffenen Kapitel
5.1.1 Elemente der Mathematik 9
5.1.2 Lambacher-Schweizer 9
5.1.3 Mathematik Plus 9
5.2 Vorstellung von ausgewählten Aufgaben und Beweisen
5.2.1 Elemente der Mathematik 9
5.2.1.1 BEP
5.2.1.2 BEK
5.2.1.3 BEH
5.2.2 Lambacher-Schweizer 9
5.2.2.1 BLP
5.2.2.2 BLK
5.2.2.3 BLH
5.2.3 Mathematik Plus 9
5.2.3.1 BMP
5.2.3.2 BMK
5.2.3.3 BMH
5.3 Analyse der ausgewählten Beweise hinsichtlich ausgewählter Kriterien
5.4 Zwischenfazit
5.5 Kurzanalyse der Beweise aus dem Anhang
6. Ergebnisse und Diskussion
7. Zusammenfassung und Ausblick
Anhang
Literaturverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Analyse des Beweises vom Satz des Pythagoras (Elemente)
Tabelle 2 Analyse des Beweises vom Kathetensatz (Elemente)
Tabelle 3 Analyse des Beweises vom Höhensatz (Elemente)
Tabelle 4 Analyse des Beweises vom Satz des Pythagoras (Lambacher-Schweizer)
Tabelle 5 Analyse des Beweises vom Kathetensatz (Lambacher-Schweizer)
Tabelle 6 Analyse des Beweises vom Höhensatz (Lambacher-Schweizer)
Tabelle 7 Analyse des Beweises vom Satz des Pythagoras (Plus)
Tabelle 8 Analyse des Beweises vom Kathetensatz (Plus)
Tabelle 9 Analyse des Beweises vom Höhensatz (Plus)
Tabelle 10 Kurzanalyse der Beweise aus dem Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 Rechtwinkliges Dreieck mit Bezeichnungen
Abbildung 2.1 Beweisfigur 1 zum Satz des Pythagoras
Abbildung 2.2 Beweisfigur 2 zum Satz des Pythagoras
Abbildung 3 Beweisfigur zum Satz des Pythagoras (Elemente)
Abbildung 4 Beweisfigur zum Kathetensatz (Elemente)
Abbildung 5 Beweisfigur zum Höhensatz (Elemente)
Abbildung 6 Beweisfigur zum Satz des Pythagoras (Lambacher)
Abbildung 7 Beweisfigur zum Kathetensatz (Lambacher)
Abbildung 8 Beweisfigur zum Höhensatz (Lambacher)
Abbildung 9 Beweisfigur zum Satz des Pythagoras (Plus)
Abbildung 10 Beweisfigur zum Kathetensatz (Plus)
Abbildung 11 Beweisfigur zum Höhensatz (Plus)
Abbildung 12 Beweisfigur zu A1.1
Abbildung 13 Beweisfigur zu A1.2 3
Abbildung 14 Beweisfigur zu A1.3
Abbildung 15 Beweisfigur zu A1.4
Abbildung 16 Beweisfigur zu A1.5
Abbildung 17 Beweisfigur zu A1.6 (1)
Abbildung 18 Beweisfigur zu A1.6 (2)
Abbildung 19 Beweisfigur zu A1.7
Abbildung 20 Beweisfigur zu A1.8
Abbildung 21 Beweisfigur zu A1.9
Abbildung 22 Beweisfigur zu A1.10
Abbildung 23 Beweisfigur zu A1.11
Abbildung 24 Beweisfigur zu A1.12
Abbildung 25 Beweisfigur zu A1.13
Abbildung 26 Beweisfigur zu A1.14
Abbildung 27 Beweisfigur zu A1.15
Abbildung 28 Beweisfigur zu A1.16
Abbildung 29 Beweisfigur zu A1.17 (1)
Abbildung 30 Beweisfigur zu A1.17 (2)
Abbildung 31 Beweisfigur zu A1.18
Abbildung 32 Beweisfigur zu A1.20
Abbildung 33 Beweisfigur zu A1.21
Abbildung 34 Beweisfigur zu A1.22
Abbildung 35 Beweisfigur zu A1.23
Abbildung 36 Beweisfigur zu A1.24
Abbildung 37 Beweisfigur zu A1.25 4
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung und Fragestellungen
Dem Beweisen kommt in der Mathematik bei der Begründung, Entwicklung und Systematisierung von Wissen eine zentrale Bedeutung zu. Erinnere ich mich jedoch an meine eigene Schulzeit, weiß ich, dass dieses Thema von vielen Lehrerinnen und Lehrern stiefmütterlich behandelt wurde. Mein eigener Mathematikunterricht bestand in der Sekundarstufe 1 gar nicht und in der gymnasialen Oberstufe nur zu einem geringen Anteil aus Beweisen. Als Student der Mathematik weiß ich aber, dass diese eine beweisende Wissenschaft ist. Betreibt man Mathematik auf akademischer Ebene, beantwortet man nicht selten die Frage nach dem Warum . Das Suchen und Finden von Beweisen mathematischer Behauptungen sind neben den zahlreichen Anwendungen der Mathematik die eigentliche Kunst des Mathematikers. Doch warum wird dem Beweisen in der Schule so wenig Bedeutung beigemessen? Reiss (2002, S. 2) argumentiert, dass insbesondere in den 70er und 80er Jahren eine Überbetonung formaler Aspekte häufig mit einem zu bedauernden Verlust an inhaltlicher Bedeutung interpretiert wurde. Beispielsweise findet man in der Rahmen- konzeption des National Council of Teachers of Mathematics (NCTM)[1] von 1989 das Thema „Beweisen und Begründen“ kaum wieder. Erst in den 90er Jahren gab es eine Gegenbewegung. Danach sollte jedoch der mathematische Formalismus in einem flexiblen Rahmen und vordergründig das rationale Argumentieren behandelt werden. Heute hat das NCTM „Beweisen und Begründen“ fest in seine Rahmenrichtlinien etabliert. Auch in den deutschen Lehrplänen und Bildungs- standards finden sich diese wichtigen Kompetenzen wieder. In den meisten Lehrplänen wird das Beweisen in der Sekundarstufe 1 thematisiert. Diese Thematisierung findet schwerpunktmäßig bei der Behandlung der Geometrie statt. Beweisen wird zwar bspw. im Berliner Rahmenlehrplan (vgl. Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe 1, Berlin, Mathematik, 2006) in seiner aktuellen Fassung nicht als prozessbezogene mathematische Kompetenz formuliert, wohl aber das sog. „Argumentieren“. Das Argumentieren ist, wenn man so will, als eine Vorform oder im schulischen Kontext als ein Überbegriff des mathematischen Beweises verstehbar. Bei der Formulierung der einzelnen Standards und Feinkompetenzen taucht aber sehr oft und vor allem im geometrischen Bereich das Wort „Beweisen“ auf. Die aktuellen Bildungsstandards für das Fach Mathematik, die 2003 von der Kultus- ministerkonferenz herausgegeben wurden, beinhalten den Beweiskontext ebenfalls.
Hier werden u.a. die Kompetenzen „Mathematisch argumentieren“ (K1), „mit sym- bolischen, formalen und technischen Elementen der Mathematik umgehen“ (K5) und „Kommunizieren“ (K6) genannt (vgl. Bildungsstandards Mathematik 2004, S. 8ff.). Jedoch unterliegen mathematische Beweise einem strengen und axiomatisch- vollständigen Formalismus. Wie ist den strengen mathematischen Beweisen im Unterricht zu begegnen und welche spezifischen Aufgaben sind ihnen zugeschrieben? Dazu soll in dieser Arbeit auf erster Ebene eine theoretische Einführung in das Thema erfolgen.
Aus der eigenen Unterrichtspraxis lässt sich berichten, dass das Schulbuch als eines der wichtigsten unterstützenden Hilfsmittel für Lehrkräfte im Mathematikunterricht zu sehen ist. Schulbücher spielen meistens eine zentrale Rolle im Mathematikunterricht. Sie unterstützen Lehrkräfte bei der Unterrichtsvorbereitung und bieten viele didaktische Anregungen und Aufgaben. Auf einer zweiten Ebene widmet sich diese Arbeit der Frage, wie gymnasiale Schulbücher der Sekundarstufe 1 mit dem Thema „Beweisen“ umgehen. Im Detail sollen die folgenden Fragen beantwortet werden: Verwenden Schulbücher eine äußerlich exakte und wissenschaftsorientierte, axiomatische Darstellung oder werden weniger strenge mathematische Beweise verwendet? Wie ausführlich sind die dargestellten Beweise? Sind sie alltagsbezogen und somit anschaulich oder nicht? Wie lassen sich die dargestellten Beweise klassifizieren? Kommen verschiedene Niveaustufen zum Einsatz? Gibt es Unterstützung bspw. durch Abbildungen oder Handlungsanweisungen?
Zur Beantwortung dieser Fragen soll auf zweiter Ebene die Analyse dreier gymnasialer Lehrwerke der Jahrgangsstufe 9 für Berlin in ihren neuesten Auflagen und den ausgewählten Beweisen (oder Beweisen in Aufgabenform) daraus erfolgen:
- Elemente der Mathematik 9 (hrsg. 2008);
- Mathematik plus für Gymnasien Klasse 9 (hrsg. 2007);
- Lambacher-Schweizer Mathematik für Gymnasien 9 (hrsg. 2008).
Es werden nicht jeweils die kompletten Bücher untersucht. Dabei wird sich auf ein klassisches Kapitel des Geometrieunterrichts beschränkt: auf die Satzgruppe des Pythagoras[2]. Bestandteil der Untersuchung sind Beweise und Aufgaben, die im Kontext des Herleitens, Beweisens, Argumentierens oder Begründens stehen. Um die Erwartungen der Autoren/-innen bei Aufgaben einschätzen zu können, werden die Lösungen zu Grunde gelegt, die aus den entsprechenden Lösungsbänden entnommen werden. Es ist indes schwierig, Beweise objektiv zu beurteilen. In einem zum Theorieteil (erste Ebene) gehörenden Kapitel werden Kriterien erarbeitet, die zur Analyse der Beweise und Aufgaben in den Büchern dienen sollen. Für das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nicht nützlich, auf alle didaktischen Fragen des Beweisens einzugehen. Außer Acht gelassen wird wie man Schülerinnen und Schüler zum Beweisen anleitet und motiviert, welche Phasen beim Beweisprozess durchlaufen werden, wie man ein Beweisbedürfnis weckt und wie man methodisch-didaktisch beim Beweisen im Unterricht vorzugehen hat (hier mit Ausnahmen). Im Anschluss an die Analyse werden sich daraus ergebende Fragen formuliert und abschließend diskutiert. Dabei sollen nicht nur die ausgewählten Beweise diskutiert werden. Es ist auch interessant wie in der Breite weiter vorgegangen wird. Werden weitere als die analysierten Kompetenzen geschult und andere Beweisstrategien vermittelt? Dazu sind alle Beweise und Aufgaben, die sich auf das Argumentieren beziehen, im Anhang dieser Arbeit dargestellt. So kann darauf später Bezug genommen werden.
2. Vom streng mathematischen Beweis zum Beweis im Unterricht der Sekundarstufe 1
Die moderne Wissenschaft Mathematik erfordert ein erhebliches Niveau an Strenge und fachlicher Genauigkeit. Doch wie soll man diese Strenge und Genauigkeit in den Schulunterricht übertragen? Im Schulunterricht der Sekundarstufe 1 ist zu keinem Zeitpunkt eine beweistheoretisch-axiomatische Vollständigkeit gegeben (vgl. Wittmann und Müller 2001). Schüler/-innen können daher keine beweistheoretisch- axiomatisch vollständigen Begründungen abgeben, weil die dazu notwendige Strenge im Schulunterricht nicht vorliegt. Dies macht es erforderlich, im Schulunterricht je nach Schulform eher eine gehobene Form der rationalen Begründung zu vermitteln und den streng mathematischen Beweis zugunsten des Verständnisses im Hintergrund zu belassen (vgl. Hanna 1997). Die nun folgenden Kapitel vermitteln zur Anwendbarkeit mathematisch strenger Beweise im Unterricht einige theoretische Grundlagen.
2.1 Definition des streng mathematischen Beweises
Die Mathematik gehört zu den beweisenden Wissenschaften. Ein mathematischer Beweis unterscheidet sich aber deutlich von z.B. dem juristischen Beweis oder dem naturwissenschaftlichen Modell. In einem juristischen Zusammenhang beruhen Beweise bspw. darauf, Tatsachen anzuführen, die nicht im Widerspruch zu einer vorgebrachten Behauptung stehen, sondern mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit oder gar Notwendigkeit mit dieser Behauptung verknüpft sind. Auch die Naturwissenschaften trachten danach, ihre Vermutungen zu beweisen. Diese Beweise können aber nur durch eine endliche Zahl von Experimenten gefunden aber auch widerlegt werden und sind letztendlich nur Empirie. Dagegen gilt ein mathematischer Beweis und das für immer je nach axiomatischer Grundlage. Das Beweisen gilt als das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der Mathematik von den empirischen Wissenschaften. Streng mathematisch versteht man „unter einem Beweis eines mathematischen Satzes S dessen logische Reduktion auf andere mathematische Sätze S1,...,Sn oder Axiome. Ist S mit Hilfe von S1,...,Sn bewiesen, so folgt die Gültigkeit des Satzes S aus der Gültigkeit der Sätze S1,..,Sn“ (Holland 1996, S. 33, leicht verändert). Ein Axiom ist dabei ein einleuchtender Grundsatz, aus dem die Sätze bewiesen werden. Axiome sind nicht zu beweisen.
Die axiomatische Methode verwandte Euklid vor 2000 Jahren zum ersten Mal in der Geschichte der Mathematik - genauer der Geometrie - und legte in seinen „Elementen“[3] ein axiomatisches Fundament, das zum Vorbild für viele andere Wissenschaften, insbesondere auch für die anderen Teilgebiete der Mathematik wurde. Ohne Frage würde Euklids Axiomensystem den Ansprüchen der heutigen Mathematik nicht mehr genügen, doch machte er den ersten bedeutenden Versuch der Axiomatisierung. Die Entwicklung der mathematischen Korrektheit und Strenge ist als ein historischer Prozess zu betrachten. Die Mathematik ist kein fertiger Formalismus, sondern die Gedankenarbeit von Menschen über Jahrtausende. So wurde das euklidische Axiomensystem erst im Jahre 1899 teilweise ersetzt und erweitert. In diesem Jahr veröffentliche David Hilbert sein Werk „Grundlagen der Geometrie“ und legte damit ein Axiomensystem vor, das noch heute gültig ist (vgl. Metzsch 2004). Dieses prominente Beispiel macht deutlich, dass Formalismen und damit auch Beweise, die vor hunderten von Jahren den Ansprüchen der damaligen Mathematik genügten, den heutigen Ansprüchen längst nicht mehr genügen würden. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass historische Beweisideen, die durchaus in Schulbüchern auftauchen, nur mit der heutigen mathematischen Strenge und axiomatischen Grundlage auch als Beweise gelten.
2.2 Die Eignung streng mathematischer Beweise zum unterrichtlichen Einsatz
Entscheidende Merkmale mathematisch korrekter Beweise sind eine argumentative Strenge, die axiomatische Vorgehensweise, deduktive Folgerungen und die notwendige Gewissheit eines Schlusses. Dies im Unterricht zu vermitteln, ist ohne Frage ein wichtiges Lehrziel und curricular z. T. erwünscht (vgl. 2.6). Doch wie sinnvoll ist diese lückenlose Genauigkeit im unterrichtlichen Kontext? Das Ergebnis des vorhergehenden Kapitels ist, dass mathematische Beweise die deduktive Herleitung von Sätzen aus Axiomen sind. Diese Auffassung des mathematischen Beweises wurde mathematikdidaktisch kontrovers diskutiert und legt nahe, dass Beweise lediglich eine verifikative, also eine wahrheitsschaffende, Funktion haben würden. Für den Beweis auf akademischer Ebene ist dies sicherlich zutreffend. Beweise dienen hier in erster Linie dazu, zu verstehen, warum die betreffende Behauptung gilt. Doch im schulischen Kontext kommen dem Beweisen weitaus mehr Funktionen zu. Der Beweis dient hier nicht nur zur Findung und Begründung wahrer Aussagen. Nach Knipping (2004, S. 22) kommt insbesondere für den Mathematikunterricht eine wissensentwickelnde Dimension des Beweisens hinzu. Dabei sind vordergründig die Generierung mathematischer Be- griffe und die Herstellung inhaltlicher und theoretischer Zusammenhänge von Bedeutung (vgl. ebd.). Ferner ist nach Holland (1996, S. 33) die Beweisfindung selbst eine wichtige Aufgabe des Beweisens in der Schule, da hier heuristische Problemlösestrategien zur Anwendung kommen. Das Lernen heuristischer Strategien und die Wissensentwicklung sind für den akademischen Beweis kaum, für den schulischen Beweis dafür um so mehr von Belang. Der Beweis als Prozess ist demnach mathematikdidaktisch bedeutsamer als der Beweis als Resultat.
Während der Mathematiker ein axiomatisch-deduktives[4] Vorgehen beim Beweisen verwendet, können im Schulunterricht Beweise auf strenger axiomatischer Grundlage nicht geführt werden. Zum einen wird dies durch den „Mammutcharakter“ des Axiomensystems und zu lange Beweiswege bis zu einigermaßen interessanten Aussagen erschwert (vgl. Becker 1980, S. 102). Zum anderen liegt das daran, dass im Schulunterricht zu keinem Zeitpunkt ein strenger und axiomatischer Aufbau der Mathematik vorliegt. Ein solcher Aufbau der Mathematik ist aus didaktischer Sicht im Unterricht nicht sinnvoll, da entwicklungspsychologisch der Lernprozess des einzelnen Schülers im Vordergrund steht. Jahnke (1978, S. 212) schreibt, man könne sich nicht auf den Standpunkt eines abgeschlossenen Prozesses stellen, da sich das Wissen beim Schüler stets entwickeln muss. Beweisen kann damit unter dem Gesichtspunkt des dynamischen Wissens verstanden werden (vgl. ebd.). Das macht das Beweisen mit all seinen Vorformen, die im nächsten Kapitel besprochen werden, zu einer Tätigkeit, die stets im Schulunterricht erfolgen kann.
Schulische Beweise sind in den Unterrichtskontext eingebettete Begründungen. Damit sind sie genau wie akademische Beweise intersubjektiv (von mehreren Fachleuten) akzeptiert (vgl. Knipping 2004, S. 29). Auf schulischer Ebene sind diese Fachleute Schüler/-innen und Lehrkräfte, auf akademischer Ebene sind es Mathematiker. Dies lässt vermuten, dass das Beweisen auch einem sozialen Aspekt unterliegt. Um dies deutlicher zu machen: während eine Gruppe von Schülern/-innen einen Beweis als gut und schlüssig zu bezeichnen vermag, muss dies nicht bedeuten, dass eine Gruppe Mathematiker das ebenso sieht. Ob ein Beweis akzeptierbar ist oder nicht, ist demnach von den sozialen Rahmenbedingungen abhängig. Der Beweis im Klassenzimmer muss ein anderer sein, als der Beweis im Hörsaal einer Universität. Und selbst Mathematiker unter sich tun sich mit dem einen oder anderen Beweis schwer. So gibt es bspw. auf dieser Welt nur eine Handvoll Mathematiker, die Andrew Wiles’ Beweis von Fermats letztem Satz[5] überhaupt versteht. Das kann von der Spezialisierung des Mathematikers abhängen.
Bei den hochkomplexen abstrakten Theorien der höheren Mathematik ist um der begrifflichen Klarheit und Übersicht willen ein entsprechender Grad von formaler Darstellung unerlässlich (vgl. Wittmann und Müller 2001). Nach Becker (1980) ist es dieser nur bedingt Wert, im Unterricht vermittelt zu werden. Die Bandbreite mathematischer Formulierungen reicht von Formen umgangssprachlicher Begründungen bis hin zur Verwendung einer eigens entwickelten Kunst- und Symbolsprache. Die Verwendung mathematischer Symbolsprache innerhalb einer formal-strengen Sprache würde für die Lernenden ein großes kognitives Problem darstellen (vgl. Kuntze 2002). Freudenthal führte daraufhin den Begriff des „Formalisierens“[6] (vgl. Becker, 1980, S. 97) ein. Dem „Formalisieren“ sei dabei gegenüber der mathematischen Korrektheit der Sprache und Lückenlosigkeit der Argumentationen stets Vorzug zu gewähren. Freudenthal sieht darin den Vorteil, dass „das Formalisieren auch lokal geübt werden kann und sich wegen der Beschränktheit der mathematisch-sprachlichen Mittel dabei doch global auswirken kann“ (Becker 1980, S. 97). Die Komplexität der Sprache und der formalen Darstellung von Gedankengängen im Unterricht unterscheidet sich also von jenen der Wissenschaft Mathematik. Sie muss nicht axiomatischer Grundlage sein.
Zusammenfassend müssen die Kriterien eines strengen Beweises (vgl. Anfang Kapitel 2) nunmehr für den Schulunterricht abgeschwächt und zugunsten einer umfassenderen und weniger strengen Argumentation in den Hintergrund gerückt werden. Die Lernenden sollen nicht nur das Beweisen lernen, sondern vielmehr im Unterricht eingebettete Zusammenhänge erschließen, verstehen und für sie neue Begriffe lernen. Schupp brachte das mit folgendem Zitat auf den Punkt: „Die statische Auffassung von beweisen können als exakte mathematische Beweise führen können ist aufzugeben zugunsten einer umfassenderen und dynamischeren Sicht zur Sicherung und Widerlegung von Behauptungen...“ (Schupp 1974, S. 40).
2.3 Definition des schulischen Beweises
Freudenthal schrieb einmal: „Beweisen beginnt in der Schule schon lange, bevor diese Tätigkeit einen Namen hat.“ (Freudenthal 1978, S. 1-10). Dieses Zitat macht es deutlich und die Überlegungen des vorhergehenden Kapitels machen es notwendig, eine alternative Definition des mathematischen Beweises für den Schulunterricht zu formulieren. In dieser Arbeit wird für den Beweis im Geometrieunterricht der Sekundarstufe 1 folgende Definition zu Grunde gelegt: „Als Beweis im Geometrie- unterricht der Sekundarstufe 1 sollte bezeichnet werden [ ] jede Form einer auf gedanklichen Überlegungen beruhenden Begründung, [ ] unabhängig davon, ob sie vollständig oder lückenhaft ist, bzw. ob sie die Anschauung mitbenützt oder auf sie verzichtet. Eine nur globale Argumentation soll ebenso wie eine dezidierte formale Schlusskette den Begriff Beweis im Sinne eines primär schülerorientierten Geometrieunterrichts rechtfertigen.“ (vgl. Kratz 1983, S. 283 - 296).
2.4 Aufgaben des Beweisens im Unterricht
Im Folgenden soll zwischen Aufgaben und Funktionen des Beweisens unterschieden werden. Als Aufgaben sollen nunmehr übergeordnete, allgemeine Ziele des Beweisens verstanden werden. Funktionen hingegen sind auf die einzelne Unter- richtsstunde bezogene Feinlernziele des Beweisens (vgl. 2.5). Zu den wichtigsten Aufgaben des Beweisens im Schulunterricht zählt man einerseits im Sinne des Beweises als Prozess die Wissensvermehrung und andererseits die Entwicklung von Schülervorstellungen über das Beweisen (vgl. Kadunz und Sträßer 2008). Bei der Wissensvermehrung sollen die Lernenden z. B. Beweismethoden und neue Begriffe kennen lernen, inhaltliche Zusammenhänge herstellen oder heuristische Strategien zum Problemlösen lernen und anwenden. Das ist zukunftsweisend, da sie diese Kompetenzen im späteren Unterricht auch noch benötigen werden.
Die Schülervorstellungen von der Rolle des Beweises in der Mathematik sind aber genau so wichtig. Zur Begründung der Richtigkeit einer Behauptung sind Beweise unumgänglich. Weiterhin soll den Schülerinnen und Schülern klar werden, dass Beweise keine fertigen und unverrückbaren Produkte sind, sondern vielmehr ein in einem langen Prozess des Denkens, Sammelns, Ausprobierens und fortschreitenden Zusammensetzens von einzelnen Gesichtspunkten und Argumenten entstandenes Gedankengebäude sind, wie dies bereits am Beispiel von Fermats letztem Satz deutlich gemacht wurde (vgl. 2.2).
2.5 Funktionen des Beweisens im Unterricht
Neben den übergeordneten Aufgaben des Beweisens sind jetzt noch die Funktionen vorzustellen. Über die Aufgaben und Funktionen von Beweisen im Unterricht haben sich bereits ganze Generationen von Mathematikdidaktikern Gedanken gemacht (z.B. Bell 1976, de Villiers 1990, Hanna 1996 oder Jahnke 1978). Es soll hier nur das Modell von Hanna (vgl. Kadunz und Sträßer 2008, S. 73) vorgestellt werden. Sie zählt zu den Funktionen F von Beweisen[7] :
- Verifizieren (F1);
- Erläutern (F2);
- Systematisieren (F3);
- Entdecken (F4);
- Kommunizieren (F5);
- Konstruieren von Algorithmen (F6);
- Erläutern neuer Begriffe (F7);
- Einbetten bekannten Wissens in neue Kontexte (F8).
F1 gilt der Prüfung der Wahrheit einer Aussage durch Deduktion ausgehend von bekannten Sätzen. Durch die Vermittlung der Einsicht, warum eine Aussage wahr ist, ist F2 erfüllt. F3 dient der Einbettung einer Aussage in sein mathematisches Umfeld.
Die Entdeckung neuer Ergebnisse und Resultate bietet F4. Die fünfte Funktion (F5) dient der Vermittlung mathematischen Wissens durch Beweise. Die Lernenden sprechen entweder untereinander oder mit der Lehrkraft über den Beweis. Manche Beweise unterliegen gewissen Schemata. Diese zu vermitteln meint F6. Sollten in Beweisen neue mathematische Begriffe auftauchen oder für deren Verständnis notwendig sein, können diese erläutert werden (F7). Abschließend kann bekanntes mathematisches Wissen in einen neuen Kontext gestellt werden (F8).
2.6 Kompetenzen und Rahmenlehrplan
Der Berliner Rahmenlehrplan in seiner aktuellen Fassung fordert, dass „Argumentieren“ als prozessbezogene mathematische Kompetenz im Mathematikunterricht der Sekundarstufe 1 vermittelt wird. Dabei wird unter „Argumentieren“ das Folgende verstanden: „Mathematisches Argumentieren umfasst das Erkunden von Situationen, das Aufstellen von Vermutungen und das schlüssige Begründen von vermuteten Zusammenhängen. In der Sekundarstufe I kommen beim Argumentieren unterschiedliche Grade der Strenge zum Tragen: vom intuitiven, anschaulichen Begründen bis zum mehrschrittigen Beweisen durch Zurückführen auf gesicherte Aussagen." (Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe 1, Berlin, Mathematik, 2006, S. 10). Diese Kompetenz zu vermitteln, wird also von der zuständigen Schulaufsicht gefordert. Dabei werden am Ende der Doppeljahrgangsstufe 9/10 die folgenden Standards erwartet:
Die Schülerinnen und Schüler
− erkunden mathematische Situationen und stellen Vermutungen auf,
− begründen die Plausibilität von Vermutungen oder widerlegen diese durch Angabe von Beispielen oder Gegenbeispielen,
− entwickeln schlüssige Argumentationen zur Begründung mathematischer Aussagen,
− hinterfragen Argumentationen und Begründungen kritisch, finden und korrigieren Fehler.
(Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe 1, Berlin, Mathematik, 2006, S. 20).
Es werden u.a. im Sinne von Kratz’ Definition Beweise und Beweisstrategien erwartet, die auf verschiedenen Niveaustufen operationalisiert werden können. Das Anforderungsniveau kann bspw. durch den Umfang der zu verwendenden Fach- und Symbolsprache oder durch den Grad der Abstraktheit variiert werden, wie dies im Kapitel 2.3 bereits anklang. Dabei wird der Grad der Abstraktheit im Wesentlichen durch die bei einem Beweis zur Begründung notwendigen Beweismittel bestimmt. Hier spielt also die Strenge der Axiomatisierung eine Rolle.
Die Behandlung von Beweisen im Schulunterricht lässt sich unter den gegebenen Umständen kontrovers diskutieren. Sie wird einerseits von der Schulaufsicht und den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz gefordert und ist aufgrund der vielfältigen Funktionen auch wünschenswert. Sie wird andererseits durch die in 2.2 vorgestellte nur bedingte Eignung mathematisch strenger Beweise im Schulunterricht erschwert. Folglich muss ein Weg gefunden werden, die fachliche Strenge des Beweisens für den Mathematikunterricht zu reduzieren. Darauf geht das nächste Kapitel ein.
2.7 Reduktion der fachlichen Strenge durch „lokales Ordnen“
Auf der Hand liegende Möglichkeiten, die fachliche Strenge beim Beweisen zu reduzieren, sind u. a. das Verwenden von Umgangssprache, die Abschwächung des Beweisniveaus (vgl. 4.1), die Darstellung von Beweisschritten durch bildhafte Symbole wie Beweisbäume, die Übertragung von Allaussagen auf Spezialfälle und die Verwendung unbekannter und unbewiesener Voraussetzungen. Letzteres sieht Holland jedoch als bedenklich, das sei methodisch-didaktisch nicht förderlich (vgl. Holland 1996, S. 42). Doch wie ist der notwendigen Axiomatisierung im Unterricht zu begegnen?
Will man geometrische Aussagen als wahr erachten, ist es nach Holland (1996, S. 33) nur notwendig, dass der entsprechende Beweis einerseits korrekt, d.h. es ist auf Grund des Beweises nachvollziehbar, dass der zu beweisende Satz aus den benutzten Sätzen folgt, ist und andererseits die zum Beweis benutzten Sätze auch als wahre Aussagen gelten. Dies ist auch mit weniger Strenge und ggf. mit einer auf einzelne Sätze oder Axiome beschränkte Axiomatisierung erreichbar. Der „Mammutcharakter“ des hilbertschen Axiomensystems und zu lange Beweiswege bis zu einigermaßen interessanten Aussagen sind wesentliche Gründe für eine solche lokale Axiomatisierung. Innerhalb des Versuches, komplexere Sachverhalte in relativ eng umgrenzten und abgeschlossenen Teilbereichen (also lokal) zu behandeln, hat sich der nach Freudenthal benannte Terminus „lokales Ordnen“ etabliert. Die Idee des „lokalen Ordnens“ besteht darin, die Frage nach mathematischer Strenge in der Begründung lokal und innerhalb des unterrichtlichen Kontextes zu verstehen. Man beschränkt sich dabei auf einen inhaltlichen Teilbereich. Zum Beweis von Sätzen werden andere Sätze benutzt. Diese Tätigkeit der lokalen Axiomatisierung teilt das bestehende Satzsystem in zwei disjunkte Mengen ein: die Menge der Basissätze und die Menge der Folgesätze. Mithilfe der Basissätze, das sind also Sätze, die die Schüler/-innen in der Regel kennen, als bewiesen anerkennen und als Voraus- setzungen verwenden dürfen, werden die Folgesätze bewiesen. Diese Basissätze müssen dabei möglichst unabhängig sein. Beispiele hierfür sind eher rar. Um zwei zu nennen: die Winkelsätze von Griesel (1963) oder Winkel in Dreiecken von Walsch (1975) (vgl. Becker 1980, S. 102 f.). Mathematikdidaktisch versteht man noch heute das „lokale Ordnen“ als die Methode , um dem Beweisen im Mathematikunterricht zu begegnen. Auch im Kontext dieser Arbeit kann das „lokale Ordnen“ angewendet werden. Jeder Satz aus der Satzgruppe des Pythagoras ist aus jedem anderen herleitbar. Das schränkt die Menge der Basissätze ein und macht die Satzgruppe unter dem Kontext „Beweisen“ für den Unterricht praktikabel.
2.8 Einsatz des Schulbuches im beweisenden Mathematikunterricht
Das Schulbuch fungiert im Mathematikunterricht eigentlich seit Beginn des allgemein- bildenden Schulwesens als ein wichtiges Hilfsmittel. Es unterstützt die Lehrkraft bei der Planung und Vorbereitung des Unterrichts. Es bietet Ideen und kann als Richtlinie für den Unterrichtsverlauf dienen. Außerdem dient es als Aufgaben- sammlung für den Unterricht und Hilfe für die Konzeption von Klassenarbeiten und Klausuren. Historische Studien belegen sogar, dass Schulbücher früher oft nur aus Aufgaben bestanden (vgl. Sträßer 2008, S. 1ff.). Bei der Durchsicht neuerer Bücher gewinnt man aber zunehmend den Eindruck, dass auf eine schülergerechte Darstellung der Inhalte mehr Wert gelegt wird. Man findet Lehrbuchtexte, die häufig so geschrieben sind, dass sie Lernende beim eigenständigen Arbeiten unterstützen und als Selbstlernmaterial dienen. Darüber hinaus kann es eine Visualisierungshilfe sein und dient den Schülerinnen und Schülern zu Hause als Nachschlagewerk und als Übungs- und Hausaufgabenbuch (vgl. Sträßer 2008, S. 8). Studien belegen, dass das Schulbuch den Mathematikunterricht, in dem es eingesetzt wird, mehr oder weniger stark prägen kann. Das ist davon abhängig, wie es eingesetzt wird. Der Schwede Johannson (vgl. 2006) fand in einer internationalen Untersuchung heraus, dass das Schulbuch im Wesentlichen für drei Zwecke eingesetzt wird:
− als Aufgabensammlung;
− als Plan und Anregung für Einzelstunden;
− als „Curriculum“, an dem die Lehrkraft den Unterricht entlang plant.
Pepin et al. (2001, S. 164 ff.) stellen in ihrer vergleichenden Untersuchung zwischen den Ländern Deutschland, Frankreich und England fest, dass (nur) etwa die Hälfte der Lehrkräfte sich streng am Schulbuch „Seite für Seite“ orientiert.
Doch wie geht das Schulbuch mit dem Thema „Beweisen“ um? Wird überhaupt bewiesen? Falls ja, wie präzise, formal und gut sind die Beweise? Bevor die Beweise in den schon erwähnten Lehrbüchern mit den in Kapitel 4.7 noch vorzustellenden Kriterien analysiert werden, muss zunächst die Frage beantwortet werden, wie Beweise in Schulbüchern aussehen sollten. Das Schulbuch dient der Lehrkraft als Hilfsmittel. Der Beweiskontext erfordert von der Lehrkraft viel Fingerspitzengefühl und didaktisches Geschick (vgl. Vollrath 2001). Wie der Einsatz des Buches aussehen kann, hängt von vielen äußeren Faktoren ab und lässt sich kaum pauschalisieren.
Vergleichende Analysen von Schulbüchern (vgl. Kuntze 2002, S. 3f.) haben gezeigt, dass die Behandlung des Bereiches „Begründen, Argumentieren, Beweisen“ in Schulbüchern sehr verschieden ausfällt. In älteren Büchern (nach 1900 bis in die 80er Jahre) wird meist eine äußerlich exakte und wissenschaftsorientierte Darstellung verwendet (vgl. ebd.). Dabei wird die Bedeutung des Beweisens bestenfalls in den Fußnoten erwähnt. Der Schüler bzw. die Schülerin lernt zwar Beweise und kann diese schlimmstenfalls durch Auswendiglernen wiedergeben, begreift aber die Bedeutung des Beweisens nicht. Diese streng wissenschaftliche Aufmachung der Schulbücher lässt sich historisch durch die „Meraner Beschlüsse“[8] von 1905 und den „Sputnikschock“[9] von 1957 belegen.
Aktuellere Lehrbücher schwanken oft zwischen zwei Extremen hin und her. Einerseits wird durch die Verwendung von Symbolsprache versucht, eine formale Genauigkeit anzustreben, andererseits wird das Thema „Begründen, Argumentieren, Beweisen“ durch schülergemäße Vereinfachungen abgekürzt. Kuntze (2002, S. 4f.) fände eine weniger formal-symbolsprachliche Darstellung, sondern eher eine mit sprachlichen Mitteln aufgebaute Argumentation, wünschenswert, die den zentralen mathematischen Gedanken ausdrückt. Wurde zunächst sprachlich argumentiert, kann das Niveau auch zum Beispiel im Sinne der Binnendifferenzierung durch schriftliche und formalere Begründungen erhöht werden. Nach Kuntze wäre es erfreulich, wenn die Schüler/-innen durch die Lehrbücher lernen würden, mathematisch zu argumentieren, und je nach Anforderungsniveau viele Beweisideen vorgestellt bekämen. Außerdem kann die Beweisführung durch eine vorgegebene Beweisfigur und Tipps erleichtert werden. Gerade in der Geometrie scheint eine Beweisfigur wegen der hohen Anschaulichkeit sinnvoll zu sein. Ferner scheint die Geometrie durch ihren symbolischen Charakter gänzlich tauglich zu sein, um das Beweisen zu lehren. Eine jahrhundertealte Auffassung, wonach „more geometrico“ das deduzierende Vorgehen bezeichnet, legt nahe, dass sich die Geometrie ganz besonders für das Beweisen eignet. Die neuere Mathematik jedoch verlagert Beweise auch in die Bereiche Arithmetik und Algebra. Die Geometrie hat ihren Ursprung in räumlichen und anschaulichen Phänomenen. Das kann zugleich Fluch und Segen sein, da für die unübersehbar große Zahl möglicher Einzelfälle eine Überprüfung der Behauptung an endlich vielen Beispielen eben nicht ausreicht, um allgemeingültige Aussagen zu treffen. Die Beweise zur Satzgruppe des Pythagoras lassen sich aber in wenige Typen einteilen (vgl. 4.4). Das stellt die Satzgruppe als mathematische Grundlage der vorliegenden Arbeit als besonders geeignet heraus. Bevor später in Kapitel 4 auf die Kriterien zur Beweisanalyse eingegangen wird, werden im folgenden Kapitel 3 die Sätze aus der Satzgruppe des Pythagoras vorgestellt.
3. Die Satzgruppe des Pythagoras
Die Sätze aus der Satzgruppe des Pythagoras bilden die mathematische Grundlage dieser Arbeit. Zur Satzgruppe des Pythagoras gehören diese bekannten Sätze: der Satz des Pythagoras, der Höhensatz und der Kathetensatz. Man bezeichnet die Satzgruppe auch als die Satzgruppe am rechtwinkligen Dreieck. Die Sätze sind allesamt Flächensätze, da sie sich auf die Quadrate über den Dreiecksseiten beziehen. Innerhalb des Berliner Rahmenlehrplans werden den Sätzen unterschiedliche Bedeutungen zugemessen. Während der Satz des Pythagoras innerhalb des Pflichtmoduls 2 der Doppeljahrgangsstufe 9/10 „Längen und Flächen bestimmen und berechnen“ hergeleitet, erläutert, angewendet und bewiesen werden soll (vgl. Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe 1, Berlin, Mathematik, 2006, S. 45), tauchen die anderen Sätze nur in einem Wahlmodul auf. Diese sind also gar kein verpflichtender Bestandteil des Unterrichts mehr. Das Wahlmodul 2 der Doppeljahrgangsstufe 9/10 „Flächensätze am rechtwinkligen Dreieck“ beinhaltet den Höhen- und Kathetensatz. Diese sollen innerhalb dieses Moduls auf unterschiedlichen Niveaustufen bewiesen und angewendet werden (vgl. ebd., S. 60).
Die Sätze innerhalb der Satzgruppe des Pythagoras sollen nun kurz genannt und bewiesen werden. Dabei wird auf eine streng axiomatische Vorgehensweise verzichtet, da diese den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Für den Satz des Pythagoras allein existieren weit mehr als 100 Beweise. Einige davon werden später noch vorgestellt.
Im Folgenden werden folgende Bezeichnungen und Grundsätze verwendet:
- Ein Dreieck ist ein Polygon (Vieleck). Innerhalb der euklidischen Geometrie ist es die einfachste ebene Figur, die von drei Linien (Seiten) begrenzt wird.
- In seinem Inneren werden drei Winkel, die sog. Innenwinkel, aufgespannt. Ist einer davon ein rechter Winkel, so spricht man von einem rechtwinkligen Dreieck.
- Die längste Seite des rechtwinkligen Dreiecks liegt dem rechten Winkel gegenüber. Sie heißt Hypotenuse.
- Die beiden anderen Seiten heißen Katheten.
- Der rechte Winkel liegt, wenn nicht anders beschrieben, gegenüber der Seite c.
- Vom Punkt C kann das Lot auf Seite c gefällt werden. Dieses wird als Höhe hc des Dreiecks bezeichnet. Der Lotfußpunkt von h wird D genannt.
- Die Höhe h teilt die Hypotenuse in zwei Abschnitte, die p und q genannt werden.
- Es wird stets ein rechtwinkliges Dreieck gemäß Abbildung 1 verwendet:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Rechtwinkliges Dreieck mit Bezeichnungen
3.1 Der Satz des Pythagoras
Vom Satz des Pythagoras gibt es eine geometrische und algebraische Formulierung: Geometrische Formulierung: In einem rechtwinkligen Dreieck ist der Flächeninhalt des Quadrates über der Hypotenuse gleich der Summe der Flächeninhalte der Quadrate über den Katheten.
Algebraische Formulierung: Sind a, b, c die Seitenlängen eines rechtwinkligen Dreiecks mit c als Länge der Hypotenuse, so gilt a[2] + b[2] = c[2].
Beweis: Es soll hier ein sehr einfacher Beweis durch Ergänzung (T1) geführt werden. Man betrachte zunächst die Abbildungen[10] 2.1 und 2.2:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.1
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.2
Die linke Figur beinhaltet die beiden schraffierten Kathetenquadrate a[2] und b[2], die durch vier kongruente Dreiecke mit den Katheten a und b und der Hypotenuse c zu einem Quadrat der Seitenlänge (a+b) ergänzt wurden. Die rechte Figur, bestehend aus dem schraffierten Hypotenusenquadrat der Länge c und ebenfalls vier kongruenten Dreiecken, wird, wie in der Abbildung zu sehen ist, ebenfalls zu einem Quadrat der Seitenlänge (a+b) ergänzt. Zu zeigen ist nun zunächst, dass die beiden Teilfiguren kongruent sind. Man betrachte dazu (1) und (2) (vgl. Nöth 2008).
(1) Die linke Figur wird so durch die vier kongruenten Dreiecke mit den Katheten a und b und Hypotenuse c ergänzt, dass ein Quadrat mit der Seite a+b entsteht, da zwei kongruente rechtwinklige Dreiecke ein Rechteck mit den Seiten a und b bilden.
(2) Die ursprüngliche rechte Figur (schraffiertes Quadrat mit der Seite c) wird durch kongruente rechtwinklige Dreiecke mit den Katheten a und b und Hypotenusen c ergänzt. Diese wird so ergänzt, dass die Hypotenusen c der Dreiecke an den Seiten des schraffierten Quadrats mit den Seiten c anliegen. Somit treffen die Ecke A eines Dreiecks, die Ecke B eines Dreiecks und eine Ecke des schraffierten Hypotenusenquadrats aufeinander. Da sich die Winkel bei A und B im rechtwinkligen Dreieck zu 90° ergänzen (Innenwinkelsummensatz im Dreieck) und der Winkel des schraffierten Hypotenusenquadrats 90° ist, entsteht an dieser Stelle ein Winkel von 180°. Es entstehen hier keine zusätzlichen Ecken, bei der ergänzten Figur handelt sich also um ein Viereck. Die Seiten dieses Vierecks sind alle gleich lang, nämlich a+b und die Ecken haben einen rechten Winkel, da sich dort die rechten Winkel der ergänzten rechtwinkligen Dreiecke befinden. Also ist ein Quadrat mit den Seiten a+b entstanden.
[...]
[1] US-amerikanischer Fachverband für Mathematikdidaktik mit internationaler Tragweite.
[2] Zur Satzgruppe des Pythagoras gehören neben dem Satz des Pythagoras der Höhensatz und der Kathetensatz. Die Sätze werden in Kapitel 3 erläutert.
[3] Die „Elemente“ des Euklid waren eine mathematische Abhandlung des griechischen Mathematikers Euklid (ca. 360 bis 280 v.u.Z.), in der er die Arithmetik und Geometrie seiner Zeit zusammenfasste.
[4] Axiomatisch-deduktive Theorien sind gekennzeichnet durch eine Menge an Sätzen, die sich aus einem Grundfundament (den Axiomen) durch logisches Schließen (Deduktion) gewinnen lassen.
[5] Fermats letzter Satz ist eine Behauptung des französischen Mathematikers Pierre de Fermat aus dem 17. Jahrhundert, die besagt, dass die Gleichung an+bn=cn mit a,b,c≠0 und n>2 keine ganzzah- ligen Lösungen besitzt. Der vollständige Beweis wurde erst 1994 vom Briten Andrew Wiles vorgelegt (vgl. Singh 2000).
[6] Als Formalisieren im Unterricht bezeichnet Freudenthal das „mathematische Ordnen der Sprache“ (vgl. Becker 1980, S. 97).
[7] Die hier verwendeten Abkürzungen für die einzelnen Funktionen sind später von Bedeutung, wenn es um die Beweisanalyse geht.
[8] Ihr Wegbereiter war Felix Klein (1849 - 1925). Damals wurde dafür gekämpft, die Mathematik als wesentliche Säule der Allgemeinbildung zu etablieren. Die „Meraner Beschlüsse“ umfassten eine Neuordnung des Mathematikunterrichts und neue Curricula.
[9] Der „Sputnikschock“ war die überhastete Reaktion der westlichen Welt auf den Start des ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik durch die Sowjetunion. Dieser belegte den technischen Fortschritt der Sowjetunion und sorgte u.a. auch für eine stark wissenschaftliche Orientierung der Bildungspolitik.
[10] Abbildungen stammen von http://www.didaktik.mathematik.uni-wuerzburg.de/history/pythagoras/ site15.html
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