»La question armenienne n’existe plus« - Die Vertreibung der Armenier aus ethischer Sicht


Hausarbeit, 2005

45 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Forschungsstand und verwendete Literatur

2. Die Vertreibung der Armenier aus historischer Sicht
2.1 Die gesetzliche Gleichstellung und das Ende der Toleranz
2.2 Der Artikel 61 und das hamidische System
2.3 Die Pogrome von 1895 am Vorabend der Vertreibung
2.4 „La question armenienne n'existe plus“
2.5 Die Rekonstruktion des Genozids

3. Die Vertreibung der Armenier aus der Täterperspektive
3.1 Die Verdrängung des Genozids

4. Die Vergangenheitsbewältigung der Opfer

5. Schluss

Anhang

Literatur

1. Einleitung

Neunzig Jahre sind seit der gewaltsamen Vertreibung der Armenier[1] aus dem Os- manischen Reich vergangen, doch nach wie vor bleiben wesentliche Fragen unbe­antwortet. Dabei mangelt es nicht am öffentlichen Interesse, wie durch zahlreiche Zeitungsberichte und Veröffentlichungen zu belegen wäre.[2] Die Aufarbeitung der Geschehnisse gestaltet sich nicht zuletzt deswegen problematisch, weil die Positi­onen unterschiedlicher kaum sein könnten: Während die Vertreibung im kollektiven Gedächtnis der Armenier als sayfo (das Jahr des Schwertes, 1915) oder mets jerern (der große Frevel/das große Verbrechen) einzog, wird in der Türkei von offi­zieller Seite nach wie vor jede Verantwortung für die Vertreibungen und den damit einhergehenden Massakern abgestritten. Außerhalb Kleinasiens hat sich weitest­gehend die armenische Lesart durchsetzen können, wenngleich die historische Er­schließung nach wie vor lückenhaft ist.

Bedauerlicherweise sind die Motive für eine Auseinandersetzung mit den Vertrei­bungen häufig nicht im Interesse der Aufklärung der historischen Ereignisse oder dem Gedenken an die Opfer begründet. So werden die armenischen Opfer instru­mentalisiert, um einen befürchteten EU-Beitritt der Türkei zu verhindern, oder zu­mindest zu verzögern.[3]

Die unterschiedliche Umgangsweise mit den Vertreibungen soll nun im Verlauf der vorliegenden Arbeit thematisiert werden. Dabei wird zunächst die Aufarbeitung in den betroffenen Nationen, der Türkei und Armenien, betrachtet und schließlich mit der vermeintlich objektiveren Sichtweise des westlichen Auslandes verglichen werden. Hierzu bietet sich ein Blick nach Deutschland besonders an, da dem Deutschen Reich, durch sein Bündnis mit dem Osmanischen Reich, eine Mitwis­serschaft wenn nicht gar eine Mittäterschaft unterstellt werden kann. Die Betrach­tungen zur öffentlichen und wissenschaftlichen Erinnerung sollen ferner zur Erörte­rung der Frage herangezogen werden, wie in der Gegenwart mit den Opfern und Tätern jener Zeit umgegangen wird.

1.1 Forschungsstand und verwendete Literatur

Bereits 1977 beklagte Yves Ternon, dass ein Großteil der Vorwürfe, der bezüglich der armenischen Diaspora erhoben würde, jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehre. So werde sich vielerorts nicht die Mühe gemacht die erschienenen Do­kumentationen zur Kenntnis zu nehmen oder sich zumindest über ihre eventuelle Kenntnis zu informieren.[4] Bis in die jüngste Zeit hat sich daran offenbar nichts ge­ändert: Obwohl der Wissenschaft mittlerweile russische und türkische Archive of­fen stehen, auf die Ternon seinerzeit noch nicht zurückgreifen konnte, werden die­se nur selten herangezogen. Somit kommt auch der deutsche Osmanist Klaus Kreiser, zu einem ähnlichen Fazit, wie sein französischer Vorgänger zweieinhalb Jahrzehnte zuvor:

Dokumente aus europäischen, amerikanischen und türkischen öffentli­chen Archiven und den Missionsanstalten stehen inzwischen in großer Zahl zur Verfügung. Leider sind viele Ausgaben selektiv bzw. unsyste­matisch und erlauben ausnahmslos keine Vergleiche untereinander. Die russischen Archive werden bisher so gut wie nicht berücksichtigt. Das vom türkischen Staatsarchiv seit den 1980er Jahren erschlossene Mate­rial wird noch kaum herangezogen. Alle Quellensammlungen sind vor­eingenommen, leiden an Überfrachtungen und Wiederholungen. Ein Teil des Materials stammt aus zweiter oder dritter Hand.[5]

Wie dargestellt sind viele Darstellungen und Quellensammlungen bedauerlicher­weise wenig objektiv, so wird zum Beispiel die Furcht vor der „kulturellen und wirt­schaftlichen Überlegenheit“[6] als Motiv der Jungtürken benannt, die unter anderem zu der Vertreibung der Armenier geführt haben soll. Auf der anderen Seite werden von pro-osmanischer Seite immer wieder die armenischen Aufstände und die ver­meintliche Kollaboration mit dem Russischen Reich angeführt.[7] Die Aufstände der Armenier und die türkischen Opfer, die in deren Zusammenhang zu beklagen sind, dürfen nicht heruntergespielt werden, dennoch stehen sie in keinem Verhältnis zu den Opfern auf armenischer Seite. Des Weiteren, dürfen die armenischen Auf­stände nicht isoliert von der osmanischen Politik gegenüber den Armeniern be­trachtet werden. Der Versuch die Opfer der Vertreibungen mit den Opfern der ar­menischen Übergriffe zu relativieren ist nicht nur unwissenschaftlich, er ist vor al­lem unmoralisch.[8]

Die an dieser Stelle exemplarisch vorgestellten Haltungen belegen, auf welche Weise bereits die Voreingenommenheit der Betrachter eine objektive Beurteilung unmöglich macht. Politische Haltungen und ethnische Zugehörigkeiten nehmen bis heute Einfluss auf die Erforschung. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass wich­tige Fragen bislang nicht abschließend geklärt und nicht zuletzt aufgrund unter­schiedlicher Weltanschauungen kontrovers diskutiert werden. Die beiden wichtigs­ten Fragen, sind erstens die Frage nach der Zahl der Opfer auf beiden Seiten und zweitens die Frage, ob die osmanische Regierung den Tod der Armenier „nur“ in Kauf nahm, oder willentlich herbeiführte.[9]

Die vorliegende Arbeit stützt sich vor allem auf die Arbeiten des türkischen Histori­kers Taner Akçam, der unter anderem für das Hamburger Institut arbeitete und heute an der Universität von Minnesota tätig ist. Seine Arbeit konzentriert sich vor allem auf rechtliche Grundlagen, das (Un-)Rechtsgefühl, sowie auf die strafrechtli­che Verfolgung und Aufarbeitung im späten Osmanischen Reich und der frühen türkischen Republik.[10] Daneben soll an dieser Stelle Yves Ternons Gesamtdarstel­lung „Tabu Armenien. Geschichte eines Völkermordes“ Erwähnung finden, ob­gleich sie mittlerweile nicht mehr zu den aktuellsten Darstellungen zu zählen ist - so konnte Ternon seinerzeit nicht auf die Fülle türkischer, armenischer und russi­scher Archive zurückgreifen, wie es heute möglich ist. Dennoch sind seine For­schungen und Fragestellungen auch in der Gegenwart immer noch von Bedeutung. Die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegenden Quellen, wurden vornehmlich Wolfgang Gusts Quellensammlung „Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts“[11] entnommen. Der Vorteil dieser Quellensammlung liegt vor allem in seine Neutralität. So handelt es sich bei den dargestellten Quellen, vornehmlich um Berichte neutraler Beobachter eines verbündeten Staates, namentlich Konsule, Ingenieure, Soldaten etc. welche das osmanische Vorgehen gegenüber den Armeniern aus erster Hand schilderten. Fiel es den Leugnern des Genozids an den Armeniern bislang leicht vor allem ar­menische Quellensammlungen, der Voreingenommenheit oder gar der Fälschung zu bezichtigen, ist dies bei offiziellen Dokumenten des einstigen Verbündeten un­gleich schwerer. Zudem handelt es sich bei dem Herausgeber der Quellensamm­lung um einen renommierten Historiker, welcher eine reichhaltige Erfahrung mit dem Thema aufweisen kann.[12] Geistige Anregungen wurden überdies den Arbei­ten Tessa Hofmanns[13] entnommen, deren intensive Auseinandersetzung mit der Thematik aus moralisch-ethischer Sicht und deren persönliches Engagement be­merkenswert ist, wenngleich man ihr - sachlich betrachtet - eine armenophile Sichtweise unterstellen kann.

2. Die Vertreibung der Armenier aus historischer Sicht

2.1 Die gesetzliche Gleichstellung und das Ende der Toleranz

Mit der Inthronisierung Sultan Abdülmecîds hatte 1839 die Epoche der Tanzîmât-i hayrîye (d.h. der wohltätigen Verordnungen) begonnen, in der Reformen erlassen und schließlich die erste osmanische Verfassung verabschiedet wurde. Die Not­wendigkeit für Reformen war offenkundig: die Hohe Pforte geriet seit Beginn des 19. Jahrhundert, zunehmend außenpolitisch, wie auch innenpolitisch unter Druck. Während innerhalb des Reiches die Zeit stehen geblieben zu sein schien, hatten sich in Europa Nationalstaaten gebildet deren Wirtschaft, Technologie und Militär­macht die des „kranken Mannes“ deutlich überflügelt hatten. Das osmanische Reich hatte seine Rolle als bedeutender Machtfaktor in Europa eingebüßt, viel­mehr wurde es zum potentiellen Ziel fremder Expansionsbestrebungen. Dazu kam, dass sich die europäischen Mächte zunehmend für die Christen im osmanischen Reich einsetzten, vermutlich weniger aus tatsächlicher Sorge heraus, als aus machtpolitischen Erwägungen. So wurde den europäischen Großmächten im Pari­ser Vertrag von 1856 ein indirektes Interventionsrecht zum Schutz christlicher Min­derheiten eingeräumt, welches allerdings die Einmischung in administrative Ange­legenheiten ausschloss.[14] Aus Sicht der Sultane waren die Reformen zwar not­wendig, um den außen- und innenpolitischen Druck zu senken, gleichfalls bargen sie aber auch Gefahren. Es war kaum abzusehen, welche verheerenden Auswir­kungen eine Verbreitung von nationalistischen Ideen in dem absolutistischen Viel­völkerstaat haben könnte. Die Verfassung von 1876, welche eine Gleichstellung al­ler Menschen im osmanischen Reich ohne religiöse Unterscheidungen garantierte, wirkte positiv auf die rechtliche Situation der Armenier aus. Gesellschaftlich führte die formelle Gleichstellung der Nichtmuslime jedoch zu keiner Annäherung. Viele Muslime betrachteten die Gleichstellung als „grundsätzliche Abweichung von der islamischen Tradition“, welche „die Prinzipien und Gefühle der Muslime“[15] verletze. Zuvor basierte die islamische Toleranz gegenüber den nicht-muslimischen Minder­heiten nicht zuletzt auf der Annahme, dass letztere abgesondert und untergeordnet waren. Durch die Gleichstellung wurde dieses Verhältnis nachhaltig gestört, vor al­lem dort, wo Nichtmuslime aufgrund von Kapitulationen Sonderrechte genossen.[16] [17] [18]

2.2 Der Artikel 61 und das hamidische System

Am 13. Juni 1878 fanden sich die Vertreter der europäischen Großmächte und des Osmanischen Reiches zusammen, um die politischen Verhältnisse nach dem Sieg Russlands im russisch-türkischen Krieg 1877/1878 neu zu ordnen.

Neben dem Verlust von Gebieten vor allem auf dem Balkan,17 musste das Osma- nische Reich den europäischen Großmächten Interventionsrechte, zugunsten der christlichen Minderheiten, zugestehen. Die aus völkerrechtlicher Sicht äußerst zweifelhafte Legitimierung von Interventionsrechten auf dem Boden des osmani- schen Reiches manifestierte sich im Artikel 61, in dem Folgendes festgehalten wurde:

Die Hohe Pforte verpflichtet sich unverzüglich die Verbesserungen und Reformen zu verwirklichen, die die örtlichen Erfordernisse in dem von Armeniern bewohnten Provinzen notwendig machen und ihre Sicherheit gegenüber Zirkassiern [=Tscherkessen]18 und Kurden garantieren. Sie wird die Mächte, die ihre Durchführung überwachen werden, regelmäßig von den getroffenen Maßnahmen unterrichten.[19]

Mit den Regelungen des Artikels 61 sollte die Sicherheit der Armenier sicherge­stellt werden. Dass die Armenier des Schutzes der europäischen Mächte bedurften, war spätestens seit den Aufständen der größtenteils armenisch bewohnten Stadt Zeitun (Süleymanli), offenkundig geworden. Es gelang dem Sultan nur unter größ­ten Anstrengungen, und unter Vermittlung französischer sowie deutscher Diploma­ten, den Konflikt beizulegen.[20] Unter dem Eindruck der Vorfälle schrieb der franzö­sische Historiker Charles Victor Langlois: „Nun hat Europa entdeckt [...], daß es dort ein großes Volk, ja eine echte Nation gibt.“[21] Nach Wolfgang Gust soll die deutsche Botschaft bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Befürchtung ausge­sprochen haben, dass man seitens der Hohen Pforte ,ethnische Säuberungen' plane. So soll der deutsche Botschafter Johann Anton Freiherr von Saurma von der Jeltsch Folgendes an seine Berliner Vorgesetzten gemeldet haben: „Türkischerseits soll der geheime Wunsch gehegt werden [...] das numerische Übergewicht der Bewohner von Zeitun, welches gegenwärtig zugunsten der Arme­nier besteht, durch entsprechende Massentötungen zugunsten des türkischen Elements umzuwandeln.“[22]

Die Zeit der Modernisierungen fand schließlich unter dem reaktionären Abdülhamîd II. ein Ende. Unter ihm wurden Polizei und Geheimdienst ausgebaut, sowie die Presse- und Meinungsfreiheit durch strenge Zensur beschnitten. 1889 entstand die Oppositionsbewegung Komitee für Einheit und Fortschritt[23], welche sich aus einer Vereinigung oppositioneller Medizinstudenten heraus entwickelt hat­te. Zu Beginn waren diese Jungtürken[24], deren Begründer ausnahmslos nicht tür­kische Muslime - d.h. Albaner und Kurden - waren durchaus zur Kooperation mit armenischen Oppositionsgruppen bereit, so schloss man sich beispielsweise 1896 in „einem breiten Bündnis Unzufriedener“[25] zusammen, um Abdülhamîds II. Re­gime ein Ende zu bereiten. Der Umsturzversuch scheiterte jedoch so, dass die Jungtürken untertauchen oder ins europäische Exil fliehen mussten. Die Ideologie der Jungtürken entstand unter dem Eindruck der Ohnmacht gegenüber den Machtspielen Großbritanniens und Russlands um die Vormachtstellung über Kleinasien[26] und wurde inspiriert von den Ideen des europäischen Nationalismus und Liberalismus. Unter diesen Eindrücken spaltete sich die Jungtürken Bewegung in zwei Gruppen: in eine liberale, osmanisch-pluralistische Richtung und in eine türkisch-nationalistische Richtung, wobei letztere den größeren Zulauf hatte.

Wie bereits erwähnt, waren auch armenische Kräfte am Umsturzversuch von 1896 beteiligt.[27] Genährt wurde die oppositionelle Stimmung vom aufstrebenden Natio­nalgefühl der Armenier, das durch die armenische Literatur[28] und die sich entwi­ckelnde armenische Presse getragen wurde. Die Ursachen für das armenische Selbstvertrauen sind gleichermaßen im Niedergang des Osmanischen Reiches, als auch in der europäischen Revolutionsstimmung zu suchen. Junge Armenier, wel­che in Europa Zeugen der Revolutionen von 1830 und 1848 geworden waren, tru­gen Vorstellungen von Vaterland, Demokratie, Liberalismus und Sozialismus ins Land. Und obwohl unter armenischen Reformern (Amiras) und konservativen Kräf­ten (Esnafs) keinesfalls Einigkeit bestand, gelang es ihnen tatsächlich der Hohen Pforte eine eigene armenische Verfassung abzuringen.[29] Wenngleich diese Ver­fassung einen Achtungserfolg für die armenische Bevölkerung darstellte, löste sie Armenien keineswegs aus dem osmanischen Staatsgebiet. Vielmehr regelte sie die Vertretung der Armenier bei der Hohen Pforte und sorgte für die Anerkennung des Patriarchen als offiziellen Vermittler - die Staatsgewalt indes verblieb beim Sultan. Dem armenischen Millet bescherten Bevölkerungsdruck, vor allem im länd­lichen Osten und die Verbreitung von Ideologien besonders durch armenische Akademiker „sehr schnell eine brisante Mischung aus Unzufriedenheit und Ver­zweiflung einerseits, Hoffnungen und falschen Versprechungen andererseits.“[30] Die Hoffnungen der Armenier richteten sich dabei vor allem auf Russland, zum ei­nen erwartete man, dass der Zar seine schützende Hand über sie halten würde, zum anderen suchte man den Schulterschluss mit den Landsleuten in Russland.

So ließ die Heilsunion, die erste revolutionär-armenische Gesellschaft im Osmani- schen Reich verkünden, dass wenn die Alternative zu ihrer derzeitigen Lage die Russifizierung sei, sie dann russifiziert werden wollten; sei es die Auswanderung, so würden sie auswandern; sei es der Tod, so wollten sie sterben - um jeden Preis wollten sie jedoch frei werden.[31]

[...]


[1] Im Zusammenhang mit der Vertreibung der Armenier, werden in der vorliegenden Arbeit die Begriffe „Völkermord“ und „Genozid“ („genos“ = griech. Rasse, Stamm; „cidium“ = lat. Mord) Ver­wendung finden. Der Terminus „Genozid“ ist relativ neu, er wurde 1944 durch den Völker­rechtler Raphael Lemkin geprägt: Unter ,Genozid’ verstehen wir die Vernichtung einer Nation oder ethnischen Gruppe. [...] Genozid bedeutet nicht notwendigerweise die unmittelbare Ver­nichtung einer Nation selbst, ausgenommen, wenn diese durch Massentötung aller Mitglieder der Nation angestrebt wird. Der Begriff versucht vielmehr, einen koordinierten Plan verschiede­ner Handlungen der Zerstörung essentieller Lebensgrundlagen nationaler Gruppierungen zu bezeichnen, mit dem Ziel der Schwächung der Gruppen selbst. Die Verwirklichung eines sol­chen Planes würde die Desintegration der politischen und sozialen Institutionen bedeuten, der Kultur, der Zerstörung von persönlicher Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Würde und auch der Leben der Individuen, die diesen Gruppen zugehören. Genozid ist gegen eine nationale Gruppe als Einheit gerichtet. Die Handlungen, die erwogen werden, richten sich gegen die Individuen nicht in ihrer individuellen Eigenart, sondern als Mitglieder einer nationalen Gruppe. Siehe Hirschfeld, Gerhard: Der Völkermord im zwanzigsten Jahrhundert - Plädoyer für eine ver­gleichende Betrachtung. In: Hummel, Hartwig (Hrsg.): Völkermord - friedenswissenschaftliche Annäherungen. Baden-Baden 2001 (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung). Wenngleich der Begriff des Genozids, erst nach den Vertreibungen von 1915 entstanden ist, und erst am 9.12.1948 mit der Genozid-Konvention der Vereinten Natio­nen (Convention on the Prevention of the Crime of Genocide) rechtskräftig wurde, kann dieser dennoch als ethischer Maßstab für die rückblickende Bewertung verwendet werden.

[2] Dabei reichen die Darstellungen in der deutschen Tages- und Wochenpresse von Artikeln anlässlich des neunzigsten Jahrestages (das Jahr 1915 stellte den Höhepunkt der Vertreibungen dar) der Vertreibung - u.a. Schmidt-Häuer, Christian: „Wer am Leben blieb, wurde nackt gelassen“. In: Die Zeit, Ausgabe Nr. 13 vom 23. März 2005, S. 15-18. - bis hin zu Rezensionen über wis­senschaftliche Werke, die sich eingehender mit der Materie auseinandersetzen - Fritzen, Flo­rentine: Unbeschreibliches Elend. Das Wilhelminische Kaiserreich duldete 1915/16 den türki­schen Völkermord an den Armeniern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.06.2005, o. S.

[3] Selbstverständlich drängt sich die Frage auf, wie weit der Demokratisierungsprozess in einem Land fortgeschritten ist, welches sich nach wie vor weigert, sich aufrichtig mit seiner Vergan­genheit auseinanderzusetzen. Es kann jedoch bezweifelt werden, dass die Forderung nach An­erkennung des Genozids an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich, aus der Absicht heraus entstand einen Beitrag zur Aufklärung der Geschehnisse zu leisten (Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass sich konservative Kräfte bislang nicht als Motor der historischen Aufarbeitung hervorgetan haben). Die Frage wird allerdings noch einmal im Schluss der vorlie­genden Arbeit aufgegriffen werden.

[4] Tabu Armenien. Geschichte eines Völkermords, aus dem Franz. von Ernst, Rudolf. Berlin et al. 1988, S. 10.

[5] Kreiser, Klaus: Der Osmanische Staat 1300-1922. München 2001 (Oldenbourg, Grundriss der Geschichte), S. 137.

[6] Die Darstellung der kulturellen Überlegenheit als Motiv der Vertreibung der Armenier entstammt einem Zitat Martin Niepages, aus dem Jahr 1916, welches Tessa Hofmann, in unreflektierter und unkommentierter Form übernimmt. Siehe: Hofmann, Tessa (Hrsg.): Verfolgung, Vertrei­bung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912-1922. Münster 2004 (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte, Band 32), S. 5.

[7] Infolge der Ausführung dieser Maßnahmen sind diese Armenier aus den Grenzzonen und den Gebieten, wo Etappenlinien eingerichtet sind, entfernt worden. Somit sind sie dem mehr oder weniger wirksamen Einfluß der Russen entzogen und dadurch außerstand[e] gesetzt, den hö­heren Interessen der Landesverteidigung zu schaden und die innere Sicherheit zu gefährden. Siehe: http://www.iewish-forum.de/showtopic.php?threadid=2828&pagenum=3. Wenngleich es sich bei diesem Beitrag um keine Äußerung eines Historikers, oder Politikers handelt, sondern um einen Eintrag in einem Internetforum, spiegelt sich hier die öffentliche Wahrnehmung breiter Teile der türkischen Gesellschaft wider. Die Aussage ist nahezu de­ckungsgleich mit der des türkischen Historikers Türkkaya Ataövs: Die armenischen politischen Parteien gingen wie terroristische Organisationen vor. Sie verübten Attentate und machten von intensiver Gewalt Gebrauch. Sie agierten als Spione, erhielten vom Ausland Waffen und schließlich hießen sie die Besatzungsarmeen willkommen. Die Armenier - mit den Russen in der Nähe - planten das Massaker an den Türken und die den Überlebenden aufgezwungene Abwanderung, um so den Weg für die Unabhängigkeit der Armenier frei zu machen. Vielen Muslimen wie Abchasen, Tschetschenen, Tscherkessen, Dagestanern, Inguschen und anderen blieb keine andere Wahl, als nach Anatolien zu fliehen. Siehe Ataöv, Türkkaya: Die Armeni­sche Frage. Konflikt, Trauma und Objektivität. Ankara 2002 (Zentrum für Strategische For­schung), S. 11.

[8] Als ein solches Produkt der modernen türkischen Apologetik muss das vom Außenministerium der Türkei herausgegebene Schriftstück „Armenische Behauptungen und historische Tatsachen“ angesehen werden (welches auch als Grundlage für ein Internet-Informationsportal der türkischen Regierung dient). Zunächst widmet sich die Arbeit den vorgeblich singulär armenischen Vorwürfen und versucht diese dann, auf einer sehr fragwürdigen wissenschaftlichen Basis, zu entkräften. In dem darauf folgenden Kapitel wird der Versuch unternommen durch die Aufarbeitung des Prozesses im Zusammenhang mit dem Terroranschlag am Pariser Flughafen Orly (am 15.07.1983), die Täter- und Opferrolle umzukehren. Damals explodierte eine Bombe vor dem Schalter der türkischen Fluggesellschaft THY, die acht Menschen tötete und über 60 weitere verletzte. Der 29-jährige syrische Armenier Varadjian Garbidjian gestand die Tat und erklärte, dass die Bombe erst an Bord eines Flugzeugs explodieren sollte. Anschließend bekannte sich die armenische Organisation ASALA zu dem Anschlag. Vgl. AUßENMINISTERIUM der Türkei (Hrsg.): Armenische Behauptungen und historische Tatsachen. Ankara 1998. Aber auch in anderen Werken finden sich Versuche, durch eine Betonung der Opfer der auf türkischer Seite, die Notwendigkeit der Vertreibung der Armenier zu betonen und gleichfalls die Zahl der armenischen Opfer herunterzuspielen. So schreibt Ataöv: Für fast ein Jahrhundert (1821-1922) waren die Türken die Hauptopfer. Die türkischen Verluste begannen mit dem grie­chischen Aufstand, der dem Rest der Christen im Osmanischen Reich als Beispiel diente. [...] Indem sie Türken und andere Muslime ermordeten oder vertrieben, folgten die Armenier und andere bei der „Schaffung eines Nationalstaates“ dem griechischen Beispiel. Siehe Ataöv, Türkkaya (2002), S. 10. Die Muslime, die den christlichen Freiheitsbewegungen im Osmani­schen Reich zum Opfer gefallen sind, sollen an dieser Stelle keinesfalls verschwiegen werden. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass die Existenz von Kollaborateuren und Sepa­rationsbewegungen keinesfalls die Deportation eines gesamten Volkes legitimieren kann.

[9] Kreiser, Klaus (2001), S. 137.

[10] Akçam, Taner: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung. Hamburg 1996.

[11] Gust, Wolfgang (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Springe 2005.

[12] Gust, Wolfgang: Der Völkermord an den Armeniern. Die Tragödie des ältesten Christenvolkes der Welt. München, Wien 1993.

[13] Hofmann, Tessa (Hrsg.) (2004), überdies verfasste Tessa Hoffmann noch Beiträge für das evangelische Magazin epd-Dokkumentation, zu dem Thema: Hofmann, Tessa: „Warum haben wir uns damit abgefunden, als Mörder tituliert zu werden7“ Die Vernichtung und Vertreibung der Christen des Osmanischen Reiches: Versuch einer historischen und politischen Kontextualisie- rung. In: Dokumentation, Nr. 17/18. Frankfurt am Main 2005, S. 7-17.

[14] Akçam, Taner (1996), S. 23.

[15] Siehe ebenda, S. 23. Zitiert nach Lewis, Bernard: Modern Türkiye’nin Dogu§u (Die Entstehung der modernen Türkei). Ankara 1998, S. 107.

[16] In einigen Regionen wurden den christlichen Bevölkerungsteilen, auf Basis von Abkommen zwischen dem Osmanischen Reich und europäischen Schutzmächten, Privilegien zugesichert. So konnten sie sich beispielsweise mit einer Kopfsteuer vom Militärdienst freikaufen. Vgl. ebenda, S. 22.

[17] Durch den Berliner Vertrag wurde die Unabhängigkeit Serbiens, Montenegros und Rumäniens bestätigt und Bulgarien zu einem unabhängigen Fürstentum erklärt. Darüber hinaus trat das Osmanische Reich in einem Abkommen mit England Zypern „vorübergehend“ ab. Vgl. Kreiser, Klaus (2001), S. 214.

[18] Die Tscherkessen waren ihrerseits unter Inkaufnahme von tausenden Opfern aus dem Russischen Reich vertrieben worden und hatten sich im Osmanischen Reich niedergelassen. Vgl. Fußnote 32.

[19] Siehe Ternon, Yves (1988), S. 47, zitiert nach o. A.: Der Friede von Berlin und die Protokolle des Berliner Congresses. Authentischer Text. Leipzig 1878.

[20] Gust, Wolfgang (1993), S. 79ff.

[21] Siehe ebenda, S. 81.

[22] Bedauerlicherweise bleibt Wolfgang Gust einen genauen Quellennachweis schuldig, eine Quellenkritik ist somit unmöglich. Stattdessen verwendet er dieses Zitat als Beleg für die Absicht der osmanischen Regierung, die armenische Nationalbewegung durch Massaker zu zerschlagen. Sofern die Quelle authentisch ist, müsste untersucht werden auf welchen Erkenntnissen von der Jeltschs Aussage gründet. Schenkt man Gusts Deutung glauben, bedeutet dies, dass der Tod hunderttausender Armenier nicht nur von höchster Stelle vorsätzlich herbeigeführt (statt möglicherweise „nur“ in Kauf genommen), sondern bereits ein halbes Jahrhundert vor den e i- gentlichen Vertreibungen geplant wurde. Vgl. ebenda, S. 81.

[23] Zunächst unter dem Namen Ittihat-i Osmanî Cemiyeti, also Gesellschaft für osmanische Einheit - vgl. Kreiser, Klaus (2001), S. 45.

[24] Die Anhänger des Komitees für Einheit und Fortschritt waren im Ausland unter der Bezeichnung Jungtürken bekannt. Der Name leitete sich aus dem Namen einer in Paris erscheinenden Zeit­schrift „le jeune turque“ ab, welche von türkischen Exilanten verfasst wurde.

[25] Siehe ebenda, S. 45.

[26] Seit dem Pariser Vertrag von 1856 mischten sich die europäischen Großmächte - allen voran Großbritannien und Russland - stärker in die (inner-)türkischen Angelegenheiten ein. Die Moti­ve Russlands sich in die innenpolitischen Belange der Türkei einzumischen und sich als Schutzmacht der christlichen Minoritäten im Osmanischen Reich zu postulieren entsprangen dem Expansionsdrang des Zarenreiches. Großbritannien hingegen versuchte Russlands Ein­fluss auf wichtige Verkehrswege nach Indien, das Mittelmeer, die Dardanellen und den Bospo­rus zurückzudrängen. Das Osmanische Reich wurde auf diese Weise gewissermaßen zu einem Spielball der Interessen der beiden Großmächte. Bezeichnend ist daher auch die Aussage des Zaren Nikolaus I., der 1853 dem englischen Botschafter Sir George Hamilton Seymour erklärte: Wir haben da einen kranken, sehr kranken Mann. Offen gesagt wäre es ein großes Unglück, wenn er uns eines Tages entschlüpfte, ehe wir die nötigen Vorkehrungen getroffen haben. Sie­he T ERNON, Yves (1988), S. 31.

[27] Vgl. Koutcharian, Gerayer: Der Völkermord an den Armeniern (1915-1917). In: Hofmann, Tessa (Hrsg.): Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912­1922. Münster 2004 (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte, Band 32), S. 55-78.

[28] Die armenische Literatur erlebte am Vorabend des 20. Jahrhunderts eine besondere Blüte, dabei setzte sich neuarmenisch (Ašharhabar) als Literatursprache durch. Themen der neuarmeni­schen Literatur waren vor allem soziale und nationale Konflikte im Leben der Armenier. Beson­ders hervorzuheben sind an dieser Stelle unter anderem die Werke Hacatur Abovians, Aleksadr Širvanzades oder Siamantos. Vgl. Latchinian, Adelheid: Die armenische Literatur. In: Jens, WALTER: Kindlers neues Literaturlexikon, cD-Rom Ausgabe. München 2000, S. 3-7.

[29] Vgl. Ternon, Yves (1988), S. 34-36.

[30] Siehe Gust, Wolfgang, S. 90.

[31] Gust, Wolfgang, S. 91.

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
»La question armenienne n’existe plus« - Die Vertreibung der Armenier aus ethischer Sicht
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg
Veranstaltung
Zur Ethik des Umgangs mit schweren Menschenrechtsverletzungen
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
45
Katalognummer
V182518
ISBN (eBook)
9783656062073
ISBN (Buch)
9783656062455
Dateigröße
5512 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Armenier, Osmanisches Reich, Ethik, Völkermord, Genozid, Erster Weltkrieg, Türkei, Istanbuler Prozesse, Artikel 61, Armenien, ethnische Säuberung, Abdülhamid II., Jungtürken, Nationalismus, jeune turque, Amiras, Esnafs, Imperialismus, Großbritannien, Russland, Orthodox, Pogrom, 1895, Tscherkessen, Kurden, Berliner Vertrag, hamidiye, Balkankrieg, Komitee für Einheit und Fortschritt, Van, 1915, Umsiedlung, Vertreibung, Izzat Pascha, Leugnung, Entente, Orhan Pamuk, Aufarbeitung, Holocaust-Museum, Deutsches Reich, Musa Bey, Henry Morgenthau, Enver, Talaat, Musch, Opfer, Täter, EU-Beitritt
Arbeit zitieren
M. A. Aaron Faßbender (Autor:in), 2005, »La question armenienne n’existe plus« - Die Vertreibung der Armenier aus ethischer Sicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/182518

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