Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Aktuelle Debatte und Situation
1.2. Ziel und Vorgehensweise der Arbeit
2. Die Stellung der Nichtmuslime im islamischen Recht
3. Kurzer historischer Rückblick
3.1. Der Niedergang des Osmanischen Reiches
3.2. Tanzimatreformen
3.3. Die Entwicklung unter Sultan Abdülhamid
4. Die Jungtürken
4.1. Entstehung und Ziele der Bewegung
4.2. Von der sogenannten Revolution zur Diktatur
5. Versuch der Errichtung eines Nationalstaates
5.1. Armenier und Griechen
5.2. Türkismus, Pläne und erste Schritte zur Homogenisierung des Reiches
5.3. Erster Weltkrieg und planmäßige Vernichtung der Christen
6. Das Ende des Osmanischen Reiches
6.1. Osmanische Niederlage und Teilungspläne der Siegerstaaten
6.2. Atatürk und die „Nationalbewegung“
6.3. Griechisch Türkischer Krieg
7. Das Ende des Krieges, der Lausanner Friedensvertrag und die Ausrufung der Republik
8. Fazit
9. Bibliografie
1. Einleitung
1.1. Aktuelle Debatte und Situation
„Auf uns werden keine Waffen mehr gerichtet, in einer Millionenmetropole sind wir nicht einmal
mehr eine Minderheit“[1], stellt Mihail Vasiliadis, Herausgeber und Chefredakteur der „Apoyevmatini“, der in Istanbul erscheinenden griechischsprachigen Tageszeitung, gegenüber der Journalistin Federica Matteoni resignierend fest.[2]
Der demographische Rückgang der christlichen Minderheiten ist ein Phänomen, welches sich auf unterschiedliche Faktoren zurückführen lässt. Es sind nicht nur die aus christlicher Sicht verhängnisvollen historischen Ereignisse der vergangenen einhundert Jahre, sondern auch die bis zum heutigen Tage anhaltenden restriktiven Gesetzesanwendungen der türkischen Regierungen, die sie zu Bürger zweiter Klasse degradieren. Deutlich wird das unter anderem dadurch, das die türkische Rechtsprechung „ […] die Voraussetzung für eine weitgehende Enteignung der nichtmuslimischen Minderheiten geschaffen […]“ hat, wie es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14.12. 2001 zu lesen war.[3]
Seit dem Jahr 1936 dürfen Minderheiten in der Türkei, weder Vermögen erwerben noch als Schenkung oder Erbschaft annehmen dürfen. Wie es oft bei Erbschaften und Schenkungen der Fall ist, sind keine Rechtsnachfolger der ehemaligen Eigentümer vorhanden. Somit fällt also das Vermögen an den türkischen Staat. Dem sogenannten Stiftungsgesetz aus dem Jahre 1926 und 1935 entsprechend, sind allein in den letzten Jahren 39 Immobilien der armenischen Gemeinde so dem türkischen Staat zugefallen. Auf der Netzseite der „Internationale Gesellschaft für Menschenrechte“ konstatiert Tessa Hofmann:
„1935 wurden Spenden an karitative Einrichtungen gesetzlich untersagt (Gesetz Nr. 2007). 1964 musste ein griechisches Waisenheim, das seit 1853 seine Dienste versah, auf behördliche Anweisung hin seine Tätigkeit einstellen. 1967 wurde mit dem Gesetz 903, Paragraph 2, Art. 74, unterbunden, dass die Grundstücke der karitativen Stiftungen bestimmungsgemäß verwendet werden dürfen und hilfsbedürftigen Minderheitenangehörigen zugute kommen. Im selben Jahr wurde ein weiteres Gesetz verabschiedet, wonach fünf Prozent Steuern aus den Einnahmen der karitativen Einrichtungen gezahlt werden müssen – und dies, obwohl die karitativen Stiftungen die einzige Finanzquelle für die christlichen Kirchen in der Türkei darstellen. 1971 verfügte das Oberste Gericht der Türkei, dass Minderheitenangehörige keinerlei Recht auf ein neues Erbe besitzen.“[4]
Im Jahr 1942 erließen der damalige türkische Staatspräsident Ismet Inönü und der Ministerpräsident Sükrü Saracoglu die sogenannte Vermögenssteuer, die „Varlik Vergisi“, die wieder die ökonomische Entkräftung der christlichen Minderheiten zum Ziel hatte. Der türkische Ministerpräsident Saracoglu selbst formulierte diesbezüglich offen den Zweck dieser Gesetzesverabschiedung. Dieser sei nicht mit der Finanzierung der Kriegskosten, sondern mit der Türkisierung der Wirtschaft verbunden.[5] Da auch diese Maßnahme keinen aus Sicht der türkischen Regierungskreise langfristig vorzeigbaren Erfolg bei der „ethnischen Homogenisierung“ des Kapitals in der Türkei zu verbuchen hatte, mussten andere Mittel für dieses Vorhaben eingesetzt werden. So hatte sich etwa die griechische Gemeinde von der Wirkung der „Vermögenssteuer“ erholt, als es in der Nacht vom 6. zum 7. September 1955 in Istanbul zum folgenschweren Pogrom gegen sie kam:
„In nur neun Stunden zerstörte der Pöbel, der aus vielen Provinzen herbeigeschafft und mir Werkzeugen der Zerstörung ausgestattet worden war, das Eigentum der griechisch orthodoxen Bürger der Stadt und ihrer 45 Kirchengemeinden. Mehr als 100 000 Personen haben sich an den Zerstörungen jener Nacht beteiligt. Geistliche wurden zu Tode gequält, Frauen vergewaltigt, Gräber geschändet. Die Vandalen töteten mehr als 30 Personen, verwüsteten 3500 Wohnungen sowie mehr als 4000 Geschäfte, Büros und Arztpraxen. Sie steckten 72 Kirchen und 31 Schulen in Brand.“[6]
Daraufhin setzte ein Massenexodus der griechischen Minderheit in Richtung Griechenland ein. Ein weiteres Instrument für Repressalien der Bevölkerung in der Türkei ist der auch im europäischen Ausland für Aufsehen erzeugende Paragraf 301 des türkischen Strafgesetzbuches. Aus der Sicht der Europäischen Union stellt dieser Paragraf einen klaren Verstoß gegen die Meinungs und Pressefreiheit dar, während dieser aus türkischer Sicht notwendig sei, um die „Herabwürdigung und Beleidigung des Türkentums“ strafrechtlich ahnden zu können.[7] Dieser Paragraf wird von der Justiz gemeinhin gegen Intellektuelle eingesetzt, die sich in den Augen der türkischen Administration gegen die Axiome der kemalistischen Staatraison stellen. Ein auf Druck der EU resultierender zur Diskussion gestellter Modifizierungsversuch des Paragrafen fand im Januar 2008 im türkischen Kabinett keine Mehrheit. Nationalistisch geprägte Juristen nutzen den Freiraum dieses Paragrafen zur restriktiven Verfolgung von andersdenkenden Intellektuellen und leiten Verfahren gegen sie ein. Der armenisch türkische Intellektuelle Hrant Dink war eines der bekanntesten Opfer dieser Gangart. Er beging, nach der Einschätzung des zuständigen Richters eine außerordentliche Straftat indem er das Türkentum mit der Formulierung in einer türkischen Talkshow verunglimpfte, er sei „ Bürger der Türkei“ und nicht etwa „ein Türke“.[8] Seine Verurteilung erregte einiges Aufsehen in der türkischen Gesellschaft. Auch in extremen Kreisen wurde dieses „Fehlverhalten“ registriert. Am 19. Januar 2007 wurde er auf offener Straße in Istanbul von einem Extremisten ermordet. Hrant Dink blieb nicht der einzige, der mithilfe des Paragrafen 301 vor Gericht angeklagt wurde.
In die Reihe der Angeklagten gesellte sich auch der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger von 2006 Orhan Pamuk. Sein Vergehen war die Erwähnung, dass auf türkischen Boden während des Ersten Weltkrieges eine Million Armenier getötet worden waren. Wegen desselben Paragrafens liefen dutzende andere Anklagen bezüglich der „Herabsetzung und Beleidigung des Türkentums“. Etliche türkische Intellektuelle mussten sie dafür verantworten, weil sie kritisiert hatten, dass ein Gericht einer Universität verboten hatte, eine wissenschaftliche Konferenz zu den Armeniern zu halten. Weiterhin wurde ein Verleger angeklagt, da er den Bestseller „ Die Feen von Izmir“ der griechischen Dichterin Mara Meimardi verlegte. In diesem Werk wird das Leben der christlichen Minderheiten in der einst polyethnischen jedoch derzeitig aus griechischer Bevölkerungsmehrheit zusammengesetzten Stadt Izmir geschildert.[9]
Einige Teile der türkischen Gesellschaft befinden sich in einem Prozess des Umdenkens und des kritischen Hinterfragens, wie die Anklagen gegen einige Personen der Bildungsoberschicht des Landes belegen. Ein Tabubruch! Doch wie zuvor verdeutlicht wird, sind es bestimmte Eliten aus Militär, Verwaltung, Politik und Justiz, die mit aller Vehemenz dagegen aufbegehrt und sich gegen eine unverfängliche Rückschau auf die eigene Geschichte mit allen Mitteln wehrt. So wird etwa der Völkermord an den Armeniern bis heute mit höchster Priorität verleugnet und schon die bloße Erwähnung dieser Geschehnisse strafrechtlich verfolgt. Ähnlich, aber nicht mit gleicher Intensität ist es um die Ereignisse vor dem Ersten Weltkrieg in der Westtürkei bzw. im Westen des Osmanischen Reiches bestellt, wo es um die Austreibung und Vernichtung der dortigen griechischen Bevölkerung ging, oder um die Verfolgung der Assyrer in Südostanatolien sowie dem antigriechischen Pogrom in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Istanbul. Es wird geschwiegen und geleugnet.
1.2. Ziel und Vorgehensweise der Arbeit
In dieser Arbeit wird untersucht werden, weshalb diese politische Stringenz gegen die christlichen Minderheiten seit nunmehr fast einhundert Jahren klar nachzuvollziehen ist und wovor und warum sich die kemalistischen Eliten der Türkei offenbar fürchten, sich der Aufarbeitung dieser, aus der Sicht der Christen, katastrophalen Ereignissen mit aller Macht entziehen und bekämpfen versuchen. Dabei ist es unerlässlich zur Ursache dieses Konfliktes zurückzukehren und dessen Anfänge zu beleuchten, denn die Keimzelle der heutigen Situation ist im Schoße des ausgehenden Osmanischen Reiches zu finden. Nur die Untersuchung der historischen „Hypothek“ macht eine Erklärung der Gegenwart und der türkischen diesbezüglichen Realpolitik möglich.
Diese Untersuchung wird sich mit dem Los der Armenier und den Griechen beschäftigen, den zwei nominal größten christlichen Minderheitengruppen im Osmanischen Reich und in der späteren Türkischen Republik. Besondere Berücksichtigung findet dabei die Periode zwischen den Jahren 1908 und 1923. In diesem Zeitraum fallen die Auflösung des Osmanischen Reiches sowie die Formung der modernen Türkei. Hier wird das Fundament für die heutigen politischen und gesellschaftlichen Zustände gelegt. Auch die Zeit vor dieser speziellen Phase muss historisch abrissartig erkundet werden, da sie die Einleitung zu dieser Episode darstellt. Auf die Entwicklung und das Klima das die Jungtürken hervorbrachte, wird auch näher eingegangen werden. War es doch diese Bewegung, die dem Osmanischen Reich den Todesstoss versetzten und aus ihrem Kreis kamen auch die Eliten der neuen türkischen Republik. Weiterhin ist auch die gesellschaftliche und rechtliche Stellung der Nichtmuslime im Osmanischen Reich aufzuzeigen und wie sie sich im Laufe des Veränderungsprozesses der Machtkonstellationen entwickelte. Daraus soll diese Arbeit auch eine plausible Erklärung dafür bieten, weshalb es aus türkischer Perspektive galt, bei der Umwandlung vom Vielvölkerreich zum Nationalstaat, zur Republik, sich der christlichen Bevölkerung zu entledigen und warum es zum „Holocaust vor dem Holocaust“[10], wie es Elie Wiesel formulierte, kommen konnte. Die Vorgänge aus jener Zeit sind gut dokumentiert. Es hat ausländische Zeugen gegeben: Reisende, Militärangehörige, Missionare, Diplomaten und Lehrer. Ihre Zeugnisse sind bis heute in hunderten Bänden mit Berichten von ihnen in westlichen Archiven verwahrt. Diese Augenzeugen kamen aus verschiedenen Ländern. Wichtige Berichte liefern vor allem deutsche und österreichische Berichterstatter, da sie als Verbündete des Osmanischen Reiches sich auf dessen Territorium frei und ohne Einschränkungen bewegen konnten und nebenbei auch deshalb vom Vorwurf der Feindespropaganda freizusprechen sind. Weiterhin sind etliche diplomatische Dokumente vom Briefwechsel zwischen den verschiedenen Auslandvertretungen und ihren „Mutterländern“ vorhanden. Auch fotografisches Material kann als Beleg für die damaligen Zustände herangezogen werden. Aufgrund des beschränkten Umfangs dieser Arbeit muss die Untersuchung der deutschen Rolle in dieser Geschichtsepisode ausgeblendet werden. Auch wird hier nicht der Versuch unternommen, den Völkermord an den Armeniern oder an anderen Gruppen nachzuweisen. Die Frage, ob es einen Völkermord gab oder nicht, steht in dieser Arbeit nicht zur Untersuchung, da er vorausgesetzt wird. Hierin wird der Erklärung vom 13. Juni 1997 des Internationalen Berufsverband der Genozidforscher, der Association of Genocide Scholars gefolgt. In dieser heißt es: „[…]dass der Massenmord, der an den Armeniern in der Türkei 1915 begangen wurde, einen Fall von Genozid entsprechend den Statuten der Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Genozid der Vereinten Nationen darstellt.“[11]
Die entscheidenden Fragestellungen für die Arbeit sind, wie und weshalb es zu diesem Völkermord kam und warum sich die heutige Türkei mit aller Vehemenz gegen die Aufarbeitung ihrer Geschichte stellt. Weiterhin wird untersucht, welchen Zweck der feindliche Umgang mit den christlichen Minderheiten verfolgte und welche Rolle dieser Homogenisierungsprozess zur Gründung eines türkischen Nationalstaates beigetragen hat.
2. Die Stellung der Nichtmuslime im islamischen Recht
In seiner Bevölkerungszusammensetzung ist das Osmanische Reich multiethnisch und multireligiös
. Die Heterogenität ist somit ein konstituierendes Element dieses Reiches. Das islamische Recht, welches die verfassungsrechtliche Grundlage des Staates bildet, teilt seine Untertanen in zwei Gruppen der Muslime und Nichtmuslime ein. In der rechtlichen Hierarchie nehmen die Muslime eine übergeordnete Stellung ein. Nichtmuslime sind Schutzbefohlene, die ihre rechtlich und gesellschaftlich untergeordnete Position anerkennen. Solange sie sich unterwarfen wurden sie geduldet und geschützt. Für diesen Schutz mussten sie eine Kopfsteuer entrichten, deren Abgabe im Koran festgelegt ist.[12] Auch wenn die Minderheiten im Osmanischen Reich relative Toleranz und Autonomie wie etwa die Regelungen zivilrechtlicher Aufgaben wie Erbrecht, Heirat, Scheidung sowie das Recht auf Erziehung innerhalb des eigenen „Millet“ genossen und zuweilen einige Historiker dazu neigen, ein all zu positives Bild der Minderheiten zu malen, wäre es anachronistisch den Osmanen rassische oder ethnische Toleranz aus humanistischen Beweggründen unterstellen zu wollen, da sie mitnichten in diesen Begriffen dachten. Dieser Toleranz muss das Faktum entgegengestellt werden, dass die islamische Grundeinstellung unmissverständlich die Minderwertigkeit nichtmuslimischer Völker verkündete.[13] Der Historiker Norman Naimark zitiert die Geschichtswissenschaftler Benjamin Braude und Bernard Lewis. Diese schreiben, dass:
„ ‚Verfolgung selten und untypisch’ war, jedoch ‚Diskriminierung permanent und sogar notwendig war, dem System innewohnte und vom islamischen Recht ebenso wie von der alltäglichen Praxis aufrechterhalten wurde.’ “[14]
Auch Taner Akcam formuliert die Lage der nichtmuslimischen Minderheiten in ähnlicher Weise: „Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich Praktiken, legitimiert durch höchtse Erlasse, die Dhimma benachteiligten, demütigten und diskriminierten.“[15] Solange die nichtmuslimischen Minderheiten etliche Beschränkungen wie etwa die offene Herabsetzung im Steuersystem und die hohen Abgaben für ihre Freistellung vom Militärdienst dazu gab es keine Alternative akzeptierten, war es ihnen möglich sich verhältnismäßig gut zu entfalten. Wer von ihnen hingegen zum Islam übertrat, dem standen alle Möglichkeiten zur Erlangung von hohen Ämtern, Wohlstand und Status offen. So waren zum Beispiel zwischen 1453 und 1623 nur fünf Großwesire des Osmanischen Reichs türkischer Abstammung. Wobei hier auch auf die periodischen Aushebungen von christlichen Kindern hingewiesen werden muss. Bei der sogenannten Knabenlese wurden Jungen ihren Familien entrissen und am Sultanshof zu Muslimen erzogen.[16]
Die Folge der Anwendung islamischen Rechts, das die Muslime davon abhielt, sich mit Bank und Handelswesen zu beschäftigen, war, dass das Wirtschaftsleben des Staates in den Händen von Armenier und Griechen lag.[17] Die osmanischen Türken waren „[…] nur an der Beute aus den eroberten Regionen interessiert[…].“[18]
Nach der Eroberung Konstantinopels durch Mehmed II wird den christlichen Byzantinern der Status einer Religionsgemeinschaft, „Millet“, gewährt deren repräsentative Vertreter die jeweiligen Kirchenführer waren.[19] Die „Millets“, vielfach mit „Volk“ oder „Nation“ übersetzt, bilden die Grundbausteine des sogenannten Millet Systems, welches das Verhältnis zwischen den nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften und der staatlichen Obrigkeit regelte.
Bis zur Periode der „Tanzimat Reformen“, der Übernahme europäischer Rechtsnormen 1839, ist dieses islamische Rechtssystem unbeschränkt gültig.
3. Kurzer historischer Rückblick
3.1 Der Niedergang des Osmanischen Reiches
Die Gründe für den Niedergang des Osmanischen Reiches sind zahlreich, können hier aber im Einzelnen nicht untersucht werden.[20]
Was den Beginn des Zerfalls betrifft, gibt es einen breiten Konsens. Die vernichtende Niederlage der Osmanen im Jahre 1683 vor Wien bedeutete „[…] den Anfang vom Ende.“[21] Sie leitete eine Kette von militärischen und außenpolitischen Rückschlägen ein, die folgenschwere territoriale Verluste zur Folge haben. Die nachfolgenden militärischen Niederlagen und die daraus resultierenden Friedensverträge von Karlowitz 1699 und Passarowitz 1718 machten den Osmanen den „[…] militärischen Vorsprung ihrer Gegner klar.“[22] Mit dem Ende der Eroberungen fällt das wirtschaftlich gesellschaftliche Gesamtsystem der Osmanen in eine tiefe Krise. Bassam Tibi schreibt dazu, dass:
„[…]auf Expansion angewiesene Sozialstruktur des Osmanischen Reiches bietet eine Grundlage für die Erklärung des stets anhaltenden Bedarfs nach neuen eroberungen als einem Wichtigen Moment für die Reproduktion jenes Imperiums.“ [23]
Weiterhin zitiert er Steinhaus:
„Indem die materiellen Erträge der äußeren Expansion für die Erhaltung und die Verbesserung des territorialen Status quo unentbehrlich waren, bildete die militärische Überlegenheit wiederum die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses in seiner bestehenden Form.“ [24]
Resümierend ist festzustellen, dass das System stagnierte, die Großraumwirtschaft verfiel, die Seewege nach Indien die Routen durch das Osmanische Reich unattraktiv machten und die vom Neuen Kontinent nach Europa strömenden Edelmetalle erhöhten die Inflation um ein Vielfaches. Im 17. Jahrhundert begann die Verfallszeit des Osmanischen Reiches.[25]
Die offenkundige Schwächung der Pforte führte zu einen gesteigertem Interesse und Initiativen der aufstrebenden europäischen Mächte. Vor allem waren das Österreich, Frankreich, Venedig, England und Russland. Diese konkurrierten miteinander mit wechselseitigen Bündniskonstellationen um Handelsvorrechte und Territorialausweitungen auf Kosten des Osmanischen Reiches. Auch die christlichen Untertanen des Sultans wurden in ihre Pläne miteinbezogen. Ihnen wurden illusionäre Befreiungspläne vorgetäuscht um sich ihrer Unterstützung gewiss zu sein. Daraus erwuchsen einige Male auch handfeste Aufstände im Inneren des Reiches.[26] Vor allem wurden die Griechen ihrer exponierten Stellung wegen von den Österreichern und Russen für ihre jeweiligen Zielsetzungen umworben, denn „die neuerstandene, dynamische, international orientierte griechische Bourgeoisie war ein starkes ökonomisches Element im Osmanischen Reich[…].“[27] Sie waren auch die ersten Christen im Osmanischen Reich, die ihre Aufstände mit Hilfe auswärtiger Mächte erfolgreich zu einer allgemeinen nationalen Erhebung formten und im Jahre 1830 einen Nationalstaat gründeten. Erhebliche territoriale Verluste mussten die Osmanen durch die Niederlagen in zwei „Russisch Türkischen Kriegen“ 1806 1812 und 1828/29 sowohl im Norden des Schwarzen Meeres als auch auf dem Balkan hinnehmen. Der Sultan wurde gezwungen, die Autonomie Serbiens, der Moldau und der Walachei zu akzeptieren und Russland, England und Frankreich Handelsprivilegien im Osmanischen Reich einzuräumen. Diese Länder traten dann auch als Schutzmächte der osmanischen Christen auf und setzten sich, zumindest gaben sie es so vor, für die Interessen der christlichen Minderheiten an der Pforte ein.
3.2 Tanzimatreformen
Die Reformzeit zwischen 1839 und 1876 wir auch die „Tanzimatperiode“ genannt. Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts wurden von der osmanischen Obrigkeit Reformen unterschiedlicher Art in Angriff genommen:
„ Die Reformen, die Selim III angestrebt hat und Mahmud II ermöglicht und begonnen hatte, wurden schließlich zwischen 1839 und 1876 in einem umfangreichen Gesetzgebungswerk verankert.“ [28]
Den Sultanen entgingen die sich weiterentwickelnden Zerfallserscheinungen des Reiches jedoch nicht. In hohem Maße war das Militärwesen davon betroffen, welches Instrument für die Durchsetzung von „Recht und Ordnung“ darstellte. Im Inneren des Reiches herrschten nahezu chaotische Zustände und Konstantinopel verlor zunehmend die administrative Kontrolle über weite Teile des Reiches. Fern der Hauptstadt wurde die Bevölkerung von lokalen Notabeln und Großgrundbesitzern mit hohen Steuerlasten und Willkür überzogen. Der Orientreisende Alphonse de Lamartine beschrieb das Reich als eine „Konföderation von Anarchien.“[29] Daraufhin wurde eine Serie von radikalen Umstrukturierungsprozessen in der Armee nach europäischem Vorbild veranlasst.
Die Fortdauer der fehlenden Gleichberechtigung, der Unterdrückung und der Erniedrigung der christlichen Minderheiten während des ganzen 19. Jahrhunderts war eines der Hauptprobleme des Reiches. Denn infolgedessen kam es vielerorts zu Unruhen, die sich anfänglich durch soziale Hintergründe kennzeichneten. Sultan Abdülmecid, er regierte von 1839 bis 1861, leitete durch die Reformedikte, das „großherrliche Handschreiben“ „Hatt i Sherif von Gülhane“ im Jahr 1839 und das „großherrliche Sendschreiben“ „Hatt i Humayun“ im Jahr 1856 die eigentliche Reformperiode ein. Der Höhepunkt der Reformierungsversuche bildete endlich die Verfassung vom Jahr 1876. Diese Proklamationen wurden zwar auf gehörigen Druck der europäischen Mächte hin erlassen, diente jedoch sie im Wesentlichen den eigenen Interessen. Es sollte Ruhe im Reich einkehren und die Macht der Sultane über ihre Untertanen vollständig wiedererlangt werden.[30]
Doch hatten sich bereits Separationsbewegungen bei den nichtmuslimischen Völkern geformt, denn auch für die christlichen Untertanen hatten die Ideen aus Westeuropa von nationaler Eigenart und Zugehörigkeit stimulierend gewirkt. Dem gegenüber stand der Unmut der Muslime, welche nicht dazu bereit waren, die neuen Verordnungen und die Entwicklungen in der Gesellschaftsstruktur ohne Widerstand hinzunehmen.
„Demnach sollten Muslime und Christen gleichgestellt und ein osmanisches Staatsbürgerprinzip eingeführt werden, das für alle Angehörigen des Reiches Gültigkeit haben sollte. […]. Diese Reformen konnten die Gleichstellung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen jedoch nicht gewährleisten, da das Millet System nicht grundsätzlich beseitigt wurde, denn Artikel 11 der Verfassung garantierte die religiösen Privilegien der verschiedenen Millets und schrieb den Islam als Staatsreligion fest. Aus diesem Grunde entwickelte sich ein duales Rechtssystem, dessen einer Teil auf Gleichheit, der andere auf Ungleichheit basierte.“[31]
Im Inneren des Reiches gab es also trotz aller Reformversuche der Pforte genügend Konfliktpotential, welches sich auch zeitweise entlud. Taner Akcam schreibt dazu:
„Der Unwille, die Gleichstellung zu akzeptieren, löste bei den Muslimen teilweise heftige Reaktionen aus.“ [32] Diese „Reaktionen“ äußerten sich meist in Form von Gewalttaten gegen die christlichen Minderheiten, die sich durch das gesamte 19. Jahrhundert durchzogen.[33]
„Die Massaker an den Armeniern, die Ende des 19. Jahrhunderts systematische Formen annahmen, werden vor dem kulturellen und sozialen Hintergrund dieser Haltung gegen die Christen erklärlicher.“ [34]
3.3 Entwicklung unter Sultan Abdülhamid
Abdülhamid war der Mann, der dann die Reformen wieder endgültig außer Kraft setzte. Anfänglich war er den liberalen Ideen, die diese beinhaltete, nicht abgeneigt und war bemühte sich um das Wohlwollen des europäischen Auslandes. Nach dem Staatsbankrott im Jahr 1875 war das Reich im Griff der europäischen Großmächte, so dass „Der halbkoloniale Status des Reiches als Absatzmarkt und Rohstoffquelle […] vollends besiegelt“[35] war. Unter Druck verkündete er die sogenannte „Verfassung von 1876“, womit er die Grundprinzipien der Tanzimatreformen bestätigte. Die unruhige Lage des Reiches veränderte sich im Wesentlichen dadurch nicht. Es war vor allem die Schwäche der Pforte und ihrer Beamten, die moderne Geldwirtschaft zu verstehen. Das führte dazu, dass weitere Schulden und Anleihen im Ausland aufgenommen wurden. Die ökonomische Abhängigkeit vom Ausland war gravierend. Englands Premier Edward Stanley fasste es zusammen: „Die tägliche Überwachung hat die Souveränität der Türkei praktisch auf Null reduziert.“ [36]
Als sich im Zuge des Londoner Protokolls von 1877 die Ereignisse überschlugen und der Sultan gegen weitere Einmischung opponierte, erklärte das Russische Reich dem Osmanischen Reich den Krieg. Vorausgegangen war, dass die Europäer die Integritätsgarantie des Reiches außer Kraft gesetzt hatten und mit offener Intervention gedroht hatten, wenn die Reformen in Bulgarien nicht durchgeführt würden. Der „Russisch Türkische Krieg“ von 1877/78 wurde durch das Eingreifen Englands beendet und mündete mit dem „Frieden von San Stefano“.[37] Der spätere „Berliner Kongress“ im Jahr 1878 revidierte die Vereinbarungen von San Stefano, dabei verlor das Osmanische Reich zwei Fünftel seines Reichsgebietes.
Obgleich die „Armenische Frage“ in Berlin erstmalig auf dem diplomatischen Parkett erwähnt wurde, schenkte man den armenischen Delegierten vor Ort selbst kaum Beachtung. Trotzdem verhallten die armenischen Bitten um Schutz vor ständigen Übergriffen durch tscherkessische und kurdische Gruppen nicht ungehört. Im Berliner Vertrag hieß es:
„Die Hohe Pforte verpflichtet sich, ohne weiteren Zeitverlust die örtlichen Bedürfnisse in den von den Armeniern bewohnten Provinzen erfordern, und für die Sicherheit derselben gegen die Tscherkessen und Kurden einzustehen. Sie wird in bestimmten Zeiträumen von den zu diesem Zwecke getroffenen Maßregeln den Mächten, welche die Ausführung derselben überwachen werden, Kenntnis geben.“ [38]
[...]
[1] Matteoni, Federica: Das Volk als Waffe. In: Jungle World, Jg. 2005, S. 14.
[2] Heute leben noch schätzungsweise 1500 bis 2000 Griechen in Istanbul. Etwa 3500 bis 4000 Griechen sind es in der gesamten Türkei. http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Laender/Tuerkei.html (Zugriff am 09.12.2010).
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, Jg. 2001, S. 14.
[4] http://www.igfm.de/Christen-in-der-Tuerkei.1027.0.html#content5856 (Zugriff am 09.12.2010)
[5] Vgl. Hermann (2008), S. 222.
[6] Ebd., S. 222-223.
[7] Sechs Monate bis drei Jahre Gefängnis droht denjenigen, die das Türkentum, die Republik und die Große Türkische Nationalversammlung herabwürdigend behandeln. Sechs Monate bis zu zwei Jahren Gefängnis für jene, die die türkische Regierung, die juristischen Organe des Staates oder militärische und sicherheitsbehördliche Einrichtungen herabwürdigend behandeln. Sollten diese Straftatbestände im Ausland von einem türkischen Staatsbürger begangen worden sein, erhöht sich das Strafmaß um ein Drittel. http://www.amnesty-meinungsfreiheit.de/aktuell/tuerkei_301.html ( Zugriff am 09.12.2010 )
[8] Vgl. Hermann (2008), S. 62.
[9] Vgl. Ebd.
[10] http://www.welt.de/print-welt/article666868/Armenier_fordern_Anerkennung_des_Genozids.html ( Zugriff am 01.03.2011)
[11] Hofmann ( 2004), S. 71.
[12] Vgl. Koran, Sure 9, Vers 29.
[13] Dadrian (1999), S. 5-28.
[14] Naimark (2008), S. 31.
[15] Akcam ( 2004), S. 20.
[16] Vgl. Ursinus ( 2004), S. 359 f.
[17] Vgl. Ebd., S. 32.
[18] Tibi ( 2001), S. 160.
[19] Das geistliche Oberhaupt, Patriarch, Katholikos oder Rabbi „[…] gilt dabei als osmanischer Verwaltungsbeamter, der dem Staat gegenüber für seine Glaubensgemeinschaft verantwortlich zeichne, während er dieser gegenüber die Belange des Staates zu vertreten habe.“ Ursinus (2004), S. 442.
[20] Vgl. Matuz, Josef: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. 4. Auflage, Primus Verlag, Darmstadt 2004.
[21] Sen (1985), S. 35.
[22] Aguicenoglu (1997), S. 67 ff.
[23] Tibi (2001), S. 161 f.
[24] Ebd., S. 162.
[25] Vgl. Weithmann ( 2000), S. 200.
[26] Vgl. Ebd., S. 202.
[27] Weithmann (1994), S. 141.
[28] Grunebaum (2000), S. 120.
[29] Weithmann (2000), S. 246.
[30] Vgl. Grunebaum (2000), S. 121.
[31] Akcam (2004), S. 21 ff.
[32] Ebd., S. 22.
[33] Vgl. Ebd., S. 22 ff.
[34] Ebd., S. 23.
[35] Matuz (2004), S. 232.
[36] Gust (1995), S. 316.
[37] Serbien, Montenegro und Rumänien wurden unabhängig. Die östlichen Provinzen Batum, Ardahan und Kars gingen an Russland, und ein Großbulgarien entstand, welches im Sinne des Panslawismus, Russland den Zugang zum Mittelmeer sichern sollte. Vgl. Gust (1995), S. 336.
[38] Naimark (2008), S. 33 f.