[...] Ich möchte nun nicht prüfen, ob die neue Tugendethik ihren Ansprüchen gerecht wird. Auf ihre mangelnde Eigenständigkeit und mangelnde normative Kraft wurde gelegentlich hingewiesen. Zudem weist Otfried Höffe auch auf eine häufig vereinfachte Darstellung Aristoteles hin. Das von den Tugendethiker vertretene Begründungsverfahren, das scheinbar auf Prinzipien verzichtet, um einfach nur auf den Tugendhaften zu verweisen, zog jedoch mein Interesse auf sich. Ich möchte mich direkt an die Texte von Aristoteles wenden und klären, ob Aristoteles uns wirklich keine Handlungsprinzipien oder nützlichen Verallgemeinerungen für Entscheidungssituationen vermittelt und im zweiten Teil meiner Arbeit nach den Gründen für den Vorrang des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen fragen.
Die aristotelische Ethik fragt nach dem guten Leben und dem guten Menschen bzw. dem Tugendhaften. Als Handelnder sehe ich mich jedoch häufig mit der Frage konfrontiert, ob diese oder jene Handlung richtig ist, und darauf scheinen die modernen ethischen Theorien eine direktere Antwort zu geben, da bei ihnen wie erwähnt Handlungen im Zentrum stehen. Wie beantwortet die aristotelische Ethik diese Frage? Eine Handlung ist gut, wenn sie tugendhaft ist, d.h. wenn sie dem entspricht, was ein tugendhafter Akteur tun würde. Um selbst tugendhaft zu werden, müssen wir so handeln, wie ein tugendhafter Akteur handeln würde. Was bedeutet nun aber „Handle so, wie ein Tugendhafter handeln würde!“? Dies ist eine zentrale Frage meiner Arbeit. Damit die Nikomachische Ethik als Orientierungshilfe dienen kann, muss man verstehen, was der Begriff des Tugendhaften beinhaltet und welche spezielle Handlungsweise diesen Tugendhaften auszeichnet. Ich möchte im weiteren Verlauf meiner Arbeit auf diese Fragen eingehen. Die Fragen, ob für das gute Leben die Ausbildung der Tugenden wirklich von Nöten ist und ob, die Tugend tatsächlich als eine Mitte bezeichnet werden kann, klammere ich im Rahmen dieser Arbeit aus. Ich werde sie bejahend voraussetzen.
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- 1. Der Tugendhafte
- 1.1 Zwischen platonischem Absolutismus und sophistischem Relativismus.
- 1.2 „spoudaios“ und „phronimos“
- 1.2.1 Abgrenzung gegenüber dem Weisen
- 1.2.2 Das bedeutungsvolle Erfahrungswissen
- 1.2.3 Der Tugendhafte - ein Experte in der Kasuistik
- 1.2.4 Bedeutung der Lust
- 1.2.5 Abgrenzung der Tugend gegenüber Geschicklichkeit
- 1.3 Fazit aus der Charakterisierung des Tugendhaften
- 2. Was bleibt uns übrig? - Die eigene Urteilskraft
- 2.1 Die Verse Hesiods
- 2.2 Die Unmöglichkeit den Tugendhaften zu erkennen
- 2.3 Notwendigkeit des eigenen Urteilsvermögens
- 2.4 Das Prinzip der Mitte
- 2.5 Ein Ratschlag
- 2.6 Die „Belohnung“ unserer Bemühungen
- 3. Gründe für den Vorrang des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen
- 3.1 Erkenntnistheoretische Schwierigkeit
- 3.2 Der Zweck ethischer Untersuchungen
- 3.3 Instabilität im Bereich der Handlungen
- 3.4 Die Partikularität ethischer Untersuchungen
- 3.5 Fehlende Flexibilität
- 3.6 Bedeutung der Gesinnung
- 3.6 Die Unbestimmtheit des personalisierten Gesetzes
- 4. Nachwort
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Seminararbeit befasst sich mit der aristotelischen Ethik und untersucht die Bedeutung der Handlungsanweisung "Handle so, wie ein Tugendhafter handeln würde!". Die Arbeit analysiert die Bedeutung des Tugendhaften und dessen Handlungsweise, ohne jedoch auf die allgemeine Frage nach dem guten Leben einzugehen.
- Das Konzept des Tugendhaften im Vergleich zum platonischen Philosophenkönig
- Die Rolle des eigenen Urteilsvermögens und der Gesinnung in der Handlung
- Die Herausforderungen der Anwendung allgemeiner Prinzipien in der Ethik
- Die Bedeutung der besonderen Situation in der ethischen Entscheidungsfindung
- Der Vorrang des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen in der aristotelischen Ethik
Zusammenfassung der Kapitel
- Kapitel 1: Der Tugendhafte: Dieses Kapitel analysiert das Konzept des Tugendhaften bei Aristoteles. Es stellt den Tugendhaften als denjenigen dar, der über ein umfassendes Erfahrungswissen verfügt und in der Lage ist, in konkreten Situationen ethisch richtig zu handeln. Die Bedeutung des Tugendhaften liegt darin, dass er als Vorbild für unser eigenes Handeln dient.
- Kapitel 2: Was bleibt uns übrig? - Die eigene Urteilskraft: In diesem Kapitel wird die Notwendigkeit des eigenen Urteilsvermögens hervorgehoben, da es unmöglich ist, den Tugendhaften in allen Fällen zu erkennen und zu imitieren. Das Prinzip der Mitte, welches Aristoteles in seiner Ethik hervorhebt, spielt dabei eine wichtige Rolle, wobei die Anwendung des Prinzips auf den jeweiligen Einzelfall angewiesen ist.
- Kapitel 3: Gründe für den Vorrang des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen: Dieses Kapitel beleuchtet die Gründe, warum Aristoteles den Vorrang des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen in der Ethik betont. Es wird argumentiert, dass die Anwendung allgemeiner Prinzipien in vielen Fällen nicht ausreichend ist und die besondere Situation mit all ihren Facetten beachtet werden muss.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit zentralen Themen der aristotelischen Ethik, wie z.B. dem Tugendhaften, dem Prinzip der Mitte, dem eigenen Urteilsvermögen und dem Vorrang des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen. Sie befasst sich mit der Bedeutung des Erfahrungswissens, der Gesinnung und der konkreten Handlungssituation für ethische Entscheidungen. Darüber hinaus werden Themen wie platonischer Absolutismus und sophistischer Relativismus in Bezug auf das Konzept des Tugendhaften betrachtet.
- Arbeit zitieren
- Edgar Hegner (Autor:in), 2003, Der Tugendhafte (spoudaios, phronimos) in der Tugendethik - Vom Vorrang des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18285