John Stuart Mill (1806-1873) verteidigt den Utilitarismus von Jeremy Bentham (1748-1832) nicht nur: er verändert ihn! Eine wesentliche Veränderung ist die Erweiterung um den qualitativen Hedonismus. Dieser Essay geht der Frage nach, warum John Stuart Mill diese Veränderung vornimmt.
0. Einleitung
Das zweite Kapitel aus John Stuart Mills Essaysammlung Der Utilitarismus mag den Eindruck einer Gerichtsverhandlung erwecken: Angeklagt ist der Utilitarismus, Verteidiger ist Mill. Fast wie in einem platonischen Dialog rezitiert Mill mögliche und tatsächliche Einwände gegen die Moraltheorie, um diese dann detailliert als ungerechtfertigt oder als bloße Missverständnisse herauszustellen.
Doch der Schein, dass Mill hier lediglich die Lehren seines Meisters Jeremy Bentham verteidige, trügt: Denn wer durch die Lektüre dieses Werks zum ersten Mal mit dem Utilitarismus konfrontiert wird, bekommt sicherlich ein ganz anderes Bild dieser Ethik als derjenige, der auch die Schriften Benthams studiert hat. Mill stellt - anders als er ankündigt - nicht nur dar, was die Theorie „besagt und was sie nicht besagt“1, sondern: Er modifiziert sie! Zugespitzt könnte man fragen, ob Mill tatsächlich nur Verteidiger oder nicht auch Kläger in diesem Prozess ist. Doch warum verteidigt Mill den Utilitarismus so lange, dass - wie Kritiker es beschreiben - davon „praktisch nichts mehr übrig“2 bleibt?
Diese Frage soll hier am wohl prägnantesten und meisten diskutierten Unterschied zwischen Bentham und Mill - Mills qualitativem Hedonismus - diskutiert werden. Der Begriff „qualitativer Hedonismus“ bezeichnet Mills Bestrebung, Freuden in höherwertige und minderwertige einzuteilen - Bentham hingegen tritt für eine rein quantitative Bewertung der Freuden ein. Ziel dieses Essays ist weniger eine Paraphrase der Argumente Benthams, Mills oder ihrer Kritiker, sondern vielmehr der Versuch zu verstehen, 1. warum Bentham auf einen qualitativen Hedonismus verzichtet und 2. warum letzterer für Mill so wichtig ist.
1. Benthams Affront gegen die geistige Kultur
„Prejudice apart, the game of push-pin [ein Kinderspiel] is of equal value with the arts and sciences of music and poetry.“3 Diese häufig zitierte Aussage Benthams gilt als provokantes Beispiel für seinen Utilitarismus, in dem der Wert von Freuden rein quantitativ bestimmt wird. Musisch begeisterte Menschen werden diesen Gedanken zumindest als kontraintuitiv, wenn nicht gar als äußerst empörend empfinden: Ist Kunst nicht eine der bemerkenswertesten Errungenschaften der Menschheit? Ist nicht die Fähigkeit, Kunst zu schaffen und sich an dieser zu erfreuen, ein wesentlicher Bestandteil dessen, was den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet? Bietet der Genuss einer Symphonie oder eines Romans nicht höchste geistige Erfüllung, die a priori als höherwertig angesehen werden muss als ein einfaches Kinderspiel?
Doch wenngleich Benthams Standpunkt bei Freunden geistiger Kultur Ablehnung hervorruft, muss Bentham attestiert werden, dass er damit in seiner Theorie konsequent bleibt:
Wir müssen davon ausgehen, dass ein fußballbegeisterter Mensch beim Anfeuern seiner Mannschaft ähnlich in Ekstase gerät wie ein Musikwissenschaftler bei der Aufführung seiner Lieblingsoper. Auch wird ein Fan von Computerspielen den Wert des spielerischen Konsums einer virtuellen Welt mit ähnlicher Inbrunst verteidigen wie ein Literaturwissenschaftler den Wert von Thomas Manns Der Erwählte. Das sozialhistorisch Radikale an Benthams Utilitarismus ist sein Anspruch, dass im kollektiven Nutzenkalkül jeder für einen zähle und keiner für mehr als für einen. Im kollektiven Nutzenkalkül kann daher für Kunstliebhaber oder Akademiker ebenso wenig eine Ausnahme gemacht werden wie für Monarchen oder Angehörige einer gewissen Rasse, eines gewissen Geschlechts etc.
Wenn also jemand mit Benthams Utilitarismus beweisen möchte, dass die Lektüre kunstvoller Dichtung eine höherwertige Freude darstellt als „push-pin“, so kann er dies nur anhand der Instrumentarien4 tun, die Bentham im quantitativen Nutzenkalkül zur Verfügung stellt. Auf diese Weise garantiert Bentham eine vorurteilsfreie Neubewertung aller Freuden: Aus konsequenzialistischer Sicht sind intrinsische Werte (hier etwa: „Dichtung ist an sich gut“) irrelevant. Nur die Folgen der Handlung (hier: „befördert Lektüre von Dichtung Glück?“) dürfen zur Beurteilung der Handlung herangezogen werden. Daher gilt für Bentham: Sowohl für Dichtung als auch für „push-pin“ muss anhand vorgegebener Kriterien nachgewiesen werden, dass sie in der Lage sind, Glück zu maximieren. Gelingt dies in beiden Fällen, so gilt Benthams Zitat „push-pin is as good as poetry“ - stellt sich hingegen heraus, dass Dichtung mehr Glück hervorbringt, so ist diese dem Kinderspiel entschieden zu bevorzugen (oder umgekehrt).
Dieses Beispiel zeigt, dass man als Anhänger von Benthams Utilitarismus' nicht nur die Glücksmaximierung, sondern auch den Konsequenzialismus und Universalismus der Theorie anerkennen muss: Man muss im Extremfall (sollte sich z. B. herausstellen, dass Kunstrezeption weniger Freude bringt als Fußball) akzeptieren, dass eigene ästhetische Urteile oder Wertvorstellungen (Kunst ist besser als Fußball) sich nicht immer utilitaristisch begründen lassen und dass eigene Interessen auch hinter denen der Mehrheit zurückstehen können (z. B. dadurch, dass die Gesellschaft Fußball stärker fördert als Kunst). Es ist daher nicht verwunderlich, dass Bentham auch in diesem Punkt heftig kritisiert wurde. Einer seiner größten Kritiker in dieser Frage war aber indirekt derjenige, der - wie in der Einleitung dieses Essays dargestellt - vorgab, ihn eigentlich zu verteidigen, nämlich John Stuart Mill.
[...]
1 John Stuart Mill: Utilitarianism/Der Utilitarismus (Englisch/Deutsch). Übers. von Dieter Birnbacher. Stuttgart: Reclam, 2006. S. 19.
2 Ebd., S.201/202. Ich beziehe mich hier auf das Nachwort von Dieter Birnbacher zur o.g. Ausgabe, in der Birnbacher William James zitiert und selbst ähnliche Gedanken entwickelt.
3 Jeremy Bentham: The rationale of reward. London: R. Heward, 1830. S. 206. Als Kurzform häufig in folgender Weise zitiert: „push-pin is as good as poetry“.
4 Bentham unterscheidet a) Intensität der Freude/des Leids, b) Dauer der Freude/des Leids, c) Gewissheit oder Ungewissheit über das Eintreten der Freude/des Leids, d) Nähe oder Ferne der Freude/des Leids; sowie: e) Folgenträchtigkeit und f) Reinheit.
- Arbeit zitieren
- Dennis Thiel (Autor:in), 2009, Der Fall "Mill gegen Bentham", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/182990
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