Medizin und Gewissen - historische, systematische und aktuelle Perspektiven im Hinblick auf die Euthanasiegesetzgebung


Diplomarbeit, 2003

134 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Die Euthanasie im NS-Staat
1. Die ideologisch-systematischen Grundlagen des nationalsozialistischen Euthanasiegedankens
1.1. Der Sozialdarwinismus
1.2. Das Recht auf den Tod nach Adolf Jost
1.3. Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens nach Binding und Hoche
1.3.1. Biographische Hintergründe
1.3.2. Karl Binding: Die Freigabe aus Sicht des Juristen
1.3.3. Alfred Hoche: Die Freigabe aus Sicht des Psychiaters
1.3.4. Die Reaktion der Mediziner auf die Thesen von Binding und Hoche
1.3.5. Die theologische Rezeption der Forderungen Bindings und Hoches
1.4. Zwischenresümee
2. Das Sterilisierungsgesetz von 1933 als Vorstufe zur Euthanasie-Aktion
2.1. Ärzte als Wegbereiter des Gesetzes
2.2. Das Sterilisierungsgesetz und seine praktischen Folgen
3. Die Kindereuthanasie
3.1. Der Fall „Kretschmar“ als Initialzündung für die Kindereuthanasie
3.2. Die Durchführung der Tötungsaktion an behinderten Kindern
3.3. Das Verhalten der Eltern
4. Die Erwachseneneuthanasie: Aktion T4
4.1. Die Vorbereitung der T4-Aktion
4.2. Das Ermächtigungsschreiben Hitlers und das Ringen um ein Euthanasiegesetz
4.3. Die praktische Durchführung der Tötung Geisteskranker
4.4. Probleme bei der Umsetzung
5. Die „wilde Euthanasie“
6. Die Aktion „14f13“
7. Grundlegende Fakten zum Nürnberger Ärzteprozess
8. Die Rolle der Kirchen im Kontext von Sterilisierung und Euthanasie
8.1. Reaktionen auf das Sterilisierungsgesetz
8.1.1. Die Enzyklika „Casti connubii“
8.1.2. Der Protest der deutschen Bischöfe
8.1.3. Die Resonanz der evangelischen Kirche
8.2. Widerstände gegen die T4-Aktion
8.2.1. Die Reaktion Pius XII. und des Heiligen Offiziums
8.2.2. Formen des Widerstands im deutschen Episkopat
8.2.3. Der Protest Kardinal von Galens
8.2.4. Widerstand in der evangelischen Kirche
8.3. Zwischenresümee

III. Euthanasie in den Niederlanden
1. Der gesellschaftliche Hintergrund: Calvinismus, Toleranz, Duldung
2. Die historische Entwicklung der Euthanasiepraxis und –gesetzgebung in den Niederlanden
2.1. Euthanasie im niederländischen Strafgesetzbuch
2.2. Der erste Richterspruch im Jahre 1952
2.3. Die Thesen des Jan Hendrik van den Berg im Jahre 1969
2.4. Die siebziger Jahre: Der Fall Postma und seine Folgen
2.5. Die Entwicklung der Euthanasiedebatte in den achtziger Jahren
2.6. Empirische Studien in den neunziger Jahren
2.7. Das neue Meldeverfahren
2.8. Die weiteren Entwicklungen bis zum neuen Euthanasiegesetz
2.9. Zwischenresümee
3. Der Gesetzesvorschlag von 2000
3.1. Die Sorgfaltskriterien
3.2. Die Patientenverfügung
3.3. Die Regelung für Minderjährige
3.4. Die Ergänzung des Artikels 293 nl.StGB
3.5. Die Arbeit der regionalen Kontrollkommissionen
4. Die Evaluation des Gesetzentwurfs
4.1. Stimmen im Ausland
4.2. Das Selbstbestimmungsrecht
4.3. Das Dammbruchargument
4.4. Kritik an den Sorgfaltskriterien
4.5. Die regionalen Kontrollkommissionen
4.6. Die Euthanasie bei Minderjährigen
4.7. Die Rolle der Patientenverfügung
4.8. Zwischenresümee
5. Die christlich-kirchlichen Standpunkte
5.1. Die Enzyklika „Evangelium vitae“
5.2. Die Glaubenskongregation zur Euthanasie
5.3. Die Stellungnahmen der niederländischen Bischöfe
5.4. Weitere christliche Positionen in den Niederlanden sowie in Deutschland

IV. Ärztliche Gewissensentscheidungen – gestern und heute
1. Die Bedeutung des Gewissens für das ärztliche Handeln
2. Die Formen des ärztlichen Widerstandes in der NS-Zeit
2.1. Prof. Gottfried Ewald
2.2. Dr. Hermann Grimme
2.3. Weitere Beispiele ärztlichen Widerspruchs
3. Die ärztlichen Lebenskontexte in der NS-Zeit und der Gegenwart
4. Die Problematik der Nazi-Analogie
4.1. Die Argumente der Analogie-Gegner
4.2. Resümee
5. Die Gründe für das Versagen des Gewissens bei den NS-Ärzten

V. Schlussbemerkung

Einleitung

Seitdem die zweite Kammer des niederländischen Parlaments am Karfreitag des Jahres 2001 den Gesetzentwurf der ehemaligen Gesundheitsministerin Els Borst über einen Strafausschließungsgrund bei der Lebensbeendigung durch den behandelnden Arzt verabschiedet hat, der am 01. April 2002 in Kraft getreten ist, finden weit über die Niederlanden und Deutschland hinaus erneut heftige Kontroversen über Wert und Unwert menschlichen Lebens, über die ethische Erlaubtheit der Tötung eines Sterbenskranken sowie die Notwendigkeit einer gesetzlichen Manifestation einer Regelung zur Euthanasie statt.

Die Kontrahenten der aktuellen niederländischen Rechtslage verweisen auf die drohende Gefahr eines Dammbruchs in der Euthanasiepraxis als auch auf eine wachsende Geringschätzung des menschlichen Daseins vom ersten Augenblick bis zum letzten Atemzug.

Die Befürworter bejubeln die innovative Regelung sowohl als Sieg des menschlichen Selbstbestimmungsrechts als auch eine weitere essentielle Etappe zu einer völligen Legalisierung.

Über ein halbes Jahrhundert nach den schrecklichen Euthanasie-Verbrechen der Nationalsozialisten sieht man in Deutschland die Entwicklungen im Nachbarland immer noch durch die Brille der Vergangenheit. Vereinzelte Stimmen lassen sich vernehmen, die eine Parallele zwischen den damaligen Untaten deutscher Ärzte und den gegenwärtigen Vorgängen in holländischen Krankenhäusern ziehen und die „Nazi-Analogie“ zu einem vielzitierten Schlagwort hochstilisiert haben.

In der vorliegenden Arbeit wird keine endgültige Evaluation dieses Vergleichs intendiert, sondern lediglich die durch ihn vorgegebenen Komponenten der Vergangenheit und Gegenwart verwendet, um auf der Basis der historischen Geschehnisse der NS-Zeit und der niederländischen Geschichte der letzten dreißig Jahre die Frage zu stellen, inwiefern dem aktuellen Euthanasiegesetz und der Handlungsweise deutscher Ärzte zur damaligen Epoche die identischen Prämissen zugrunde liegen, sowohl in Hinsicht auf eine systematische Ethik als auch auf eine bestimmte legislative Regulierung, aus der eine bestimmte Praxis erwächst.

Zugleich soll ein Blick auf die Rolle des Gewissens als Orientierungspunkt bei ärztlichen Entscheidungen im Kontext des Lebensendes geworfen werden, verbunden mit der Frage nach den Gründen für das Versagen der Gewissensinstanz bei zahlreichen Medizinern im Rahmen der NS-Euthanasie.

Im ersten Teil der Arbeit soll sich zunächst mit den ideologischen Prämissen nationalsozialistischer Euthanasie-Aktivitäten auseinandergesetzt und ein Licht auf die Rolle des Sozialdarwinismus und seine direkte Konsequenz in Form des Postulats der Vernichtung lebensunwerten Lebens, theoretisch angedeutet bei Adolf Jost, explizit gefordert von Karl Binding und Alfred Hoche, geworfen werden.

In diesem Kontext werden die Reaktionen seitens der Medizin, aber auch der christlichen Theologie einer Untersuchung unterzogen, bevor hiernach, angefangen bei dem Sterilisierungsgesetz aus dem Jahre 1933 über die Kindereuthanasie und die T4-Aktion bis hin zu der „wilden Euthanasie“ und der Aktion „14f13“ der historische Bogen gespannt wird über die chronologischen Ereignisse der NS-Zeit. Dabei findet, genau wie in der gesamten Abhandlung, die Perspektive des Arztes besondere Berücksichtigung. Ein Aufriss über den Widerstand von Seiten der beiden großen christlichen Kirchen rundet den ersten Part der Arbeit ab.

Im zweiten Teil wird der Sprung in die Gegenwart gewagt, nicht ohne zuvor wiederum nach der Vorgeschichte des Endresultats zu forschen und nach einer kurzen Beleuchtung der Charakteristika der holländischen Gesellschaft beginnend bei dem ersten Richterspruch zur Euthanasie im Jahre 1952 die Weiterentwicklung der Meinungsbildung zur Sterbehilfe sowohl auf juristischer und politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene zu verfolgen und auf diese Weise einen Anhaltspunkt für ein besseres Verständnis des heutigen Gesetzes zu offerieren.

Die zentralen Elemente des Gesetzesvorschlags sollen im Anschluss daran präsentiert und im Original zitiert werden. Daraufhin findet eine eingehende Bewertung der signifikantesten Pro- und Contra-Argumente bezüglich der Euthanasie statt, gefolgt von einer begründeten Kritik an dem Gesetzestext und seinen Konsequenzen für die Praxis des Umgangs mit Sterbenskranken in Holland. Die christliche Perspektive im Hinblick auf die Euthanasie wird durch einen Blick auf kirchliche Verlautbarungen sowohl der Orts- als auch der Weltkirche sowie öffentliche Stellungnahmen beider Konfessionen erhellt.

In einem letzten Schritt wird schließlich näher auf das Gewissensthema eingegangen und einerseits die Fragestellung nach den Ursachen des Versagens des Gewissens zur Zeit des NS-Regimes sowie dessen gesellschaftspolitische und ideologischen Prämissen, andererseits die Problematik der Nazi-Analogie anhand einer allgemeinen Betrachtung der Eigenschaften und Grenzen dieses Phänomens sowie der Vorstellung möglicher Ansatzpunkte für einen solchen Vergleich ausgehend von der niederländischen Euthanasieregelung behandelt.

II. Die Euthanasie im NS-Staat

1. Die ideologisch-systematischen Grundlagen des nationalsozialistischen Euthanasie- gedankens

1.1. Der Sozialdarwinismus

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts flossen verschiedene medizinisch-wissenschaftliche und gesellschaftlich-soziale Strömungen zu einem Bündnis zusammen, das zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen der NS-Euthanasie epochale Konsequenzen nach sich zog.

Die Darwinsche Selektionstheorie der arteigenen Auslese in der Natur fand seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bei den sogenannten „Sozialdarwinisten“ in beständig ansteigender Zahl Anwendung auf die Humangesellschaft. Diesen Vorstellungen zufolge wird die menschliche Gesellschaft als ein Part der Natur angesehen, in der dementsprechend genauso die Naturgesetze zum Tragen kommen. Eine zentrale lex naturalis des sozialdarwinistischen Weltbildes lässt sich, als ein Teil der naturalen Gesamtökonomie, in der „survival of the fittest“-Regel erkennen. Das Stärkere setzt sich demzufolge gegen das Schwächere, das schlecht Angepasste, durch, so dass dieses aufgrund seiner Lebensunfähigkeit seine Existenzberechtigung verliert.[1] Die Gesellschaft wird bezüglich ihrer sozialen und humanen Fundamente und Werteskalen einer Korrektur unterzogen, was ein gänzlich biologistisch geprägtes Menschen- und Gesellschaftsbild zur Folge hat. Jedweder karitativer Einsatz für die Schwachen, Kranken und Wehrlosen erscheint auf diesem Hintergrund widernatürlich, da er dem naturgemäßen Entwicklungsfortgang der Rasse Mensch entgegensteht und diesen verfälscht. Mit diesen Reflexionen geht ein Primat des Kollektivs auf Kosten des einzelnen Individuums einher, das zur Wertlosigkeit degradiert wird, indem lediglich seinem Nutzen für das Ganze Beachtung geschenkt wird.

Im verengten Blickwinkel der Nationalsozialisten wurde dem Einzelnen somit einzig und allein in Hinsicht auf seine Nützlichkeit für das Volk und Vaterland eine Geltung zugesprochen.[2] Es kam hiernach zu einer „Kosten-Nutzen-Kalkulation menschlicher Beziehungen“, die auf utilitaristische Art und Weise die Qualität eines Menschen stets im Kontext mit den Interessen des Staates betrachtete.[3]

1.2. Das Recht auf den Tod nach Adolf Jost

Auf einem derartigen Gedankengut basierende sozialdarwinistische Anklänge stellte man bei zahlreichen Autoren und Wissenschaftlern dieser Epoche fest.[5] Selbst der Student Adolf Jost ließ sich von den damaligen Strömungen mitreißen, was in seiner im Jahre 1895 verfassten Schrift: „Das Recht auf den Tod“ zum Ausdruck kam.[4]

Jost fordert in seiner Abhandlung die Freigabe der Tötung auf Verlangen für die Fälle ein, in denen die Wertlosigkeit eines fortgesetzten Lebens evident erscheint. Stellt sich nun die Frage, auf welche Art und Weise er den Wert eines Menschenlebens determiniert? Jost nimmt zwei unterschiedliche Faktoren bei der Berechnung des Lebenswerts in den Blickpunkt. Einerseits erscheint es seiner Meinung nach erforderlich, die Summe aus Freuden und Schmerzen aus der Sicht der betroffenen Person in Betracht zu ziehen, andererseits aus der Perspektive der Mitmenschen, des Volkes, der Allgemeinheit die Summe von Nutzen und Schaden zu berechnen. Diese aufgestellte Theorie formiert ein Paradebeispiel für eine Kosten-Nutzen-Kalkulation eines sozialdarwinistischen Utilitaristen. Sobald nun ein Minimum an Nutzen für die Gesellschaft und ein Maximum an Leiden und Schmerzen für die Person selbst festgestellt werden können, entspricht ihr Leben nicht lediglich dem Wert „Null“, sondern einem negativen Wertfaktor. In dieser Rechnung ergäbe der Tod des Menschen die Summe „Null“, wohingegen laut Jost ein für seine Umgebung schädlicher, leidender Mensch einen negativen Lebenswert besitzt, d.h. seine Daseinsberechtigung liegt unter dem einer Leiche.[6]

Mit anderen Worten besagt dies nicht anderes, als dass die Erhaltung eines solchen Menschen sowohl für die Person selbst als auch für seine Angehörigen keinen positiven Wert besitzt. Sein Tod erweist sich in dieser Situation als die bevorzugte Alternative. In einem solchen Fallbeispiel treffen Jost zufolge zwei Interessengruppen aufeinander: zum einen der Patient, der als Leidender gerne von seinen Schmerzen erlöst werden möchte und zum anderen die Angehörigen, die als Mitleidende bezwecken, von der ihnen durch den Patienten aufgebürdeten Last befreit zu werden.[7]

Mit dieser Denkweise prägte Jost bereits einen Terminus, den er zwar nicht explizit formulierte, jedoch inhaltlich bereits implizierte, nämlich die Vorstellung von der Existenz „lebensunwerten Lebens“.

Der Autor verstand seine Thesen als „Kampf menschlicher Teilnahme und menschlichen Mitleidens gegen starre unfruchtbare Moralprinzipien“ und deutete dieses Ringen als „eine sittliche Erhebung des Menschengeschlechts“.[8] Bei der Betrachtung von Josts Darlegungen konstatierte bereits der katholische Moraltheologe Franz Walter im Jahre 1935 eine „Umwandlung der sittlichen Werte, in dem Sinne, „daß die Vernichtung der Geistigtoten nicht

mehr ein Verbrechen, sondern eine höhere Sittlichkeit bedeutet“.[9]

Eine Ablehnung des Gnadentodes aus religiösen Motiven beruht nach Jost auf veralteten Vorurteilen, wohingegen er eine Absage an eine Hochschätzung des Lebens postuliert, die seines Erachtens zeitlicher Bedingtheit unterliegt:

Man wird sagen, das Menschenleben bedeute einen unermeßlich hohen Werth, mit

dem verglichen jeder andere Werth zurücktreten müsse. – Welches soll aber dann der

Maßstab sein, an dem man Werthe messen kann? Wir wissen doch alle, daß die Gü-

ter, die wir sonst schätzen, nur deshalb Güter genannt werden, weil sie uns in irgend

welcher Weise nützen. Mit welchem Rechte wollen wir in unserer Zeit den Werth ei-

nes Menschenlebens übernatürlich hoch anschlagen, da wir doch an die Uebernatür-

keit des Menschen längst nicht mehr glauben? Wie kann man Ideen, die man aus der

wissenschaftlichen Theorie hinausgeworfen hat, in der Praxis dulden?[10]

Wenn das Menschenleben bei Jost ausschließlich als biologisch eruierbares Gut aufgefasst wird gleich jedem anderen naturwissenschaftlich zu untersuchenden Material und nicht als Geschenk (Gottes), öffnen sich die Grenzen zur Euthanasie in ihrer Breite. „Nicht mehr die Philosophie, von der Theologie ganz zu schweigen, sondern die Biologie soll Auskunft geben über Zweck und Sinn des Menschenlebens.“[11]

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Ansätze Josts und weiterer Sozialdarwinisten über die Tötung auf Verlangen hinaus weiterentwickelt wurden. Ein Vierteljahrhundert später zogen zwei hochangesehene Professoren aus diesen Prämissen Konditionen, deren Folgen Anfang der zwanziger Jahre noch gar nicht absehbar waren.

1.3. Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens nach Binding und Hoche

1.3.1. Biographische Hintergründe

Prof. Dr. jur. et phil. Karl Binding, geboren am 04. Juni 1841, entstammte einer alten

Frankfurter Juristenfamilie und lehrte in den Jahren 1873 bis 1913 in Leipzig Rechtswis-

senschaften, vor seiner Niederlassung in Freiburg.[12]

Binding galt seinerzeit als eine der berühmtesten und auch im Ausland angesehensten Strafrechtler.[13] Seine Doktrin war durchdrungen von einem ausgeprägten Rechtspositivis- mus, was beinhaltet, dass sich das staatliche Recht auf das „Positive“ im Sinne von das „Wirkliche, Gegebene“ stützt und demnach der Wille des Staates auch dann rechtens ist, wenn dieser unsittliches Recht verfügt.[14]

Binding (s. Foto) verstarb während der Drucklegung des im folgenden thematisierten Buches. In dem Nachruf seines Co-Autoren Hoche, der zu Beginn des Werkes abgedruckt ist, charakterisiert dieser seinen Kollegen Binding als „Feuerkopf kühlscharfen Verstandes“ und bescheinigt ihm ein „von lebhaftestem Verantwortungsgefühl und tiefer Menschenliebe“ getragenes Nachsinnen über die zu behandelnde Thematik.[15]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Psychiater Prof. Dr. Alfred Hoche (s. Foto), am 01. August 1865 als Pfarrerssohn im sächsischen Wildenhain geboren, wurde nach dem Medizinstudium in Berlin Oberarzt und Dozent für Neuropathologie in Straßburg und ab 1902 Ordinarius für Psychiatrie, zu einem späteren Zeitpunkt zusätzlich für Neuropathologie in Freiburg. Er verfasste neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch Gedichtswerke unter dem Pseudonym Alfred Erich.[16]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Diese beiden anerkannten Professoren veröffentlichten im Jahre 1920 gemeinsam das nur 62 Seiten umfassende Büchlein „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“, das die Nationalsozialisten als systematisches Fundament ihrer Euthanasie-Aktion übernahmen. Der Inhalt von Adolf Hitlers Rede bei der Führerkonferenz zur Euthanasie im September 1939 rekrutierte sich in ihren zentralen Teilen aus den im folgenden aufgeführten Argumenten und Thesen Bindings und Hoches.[17]

1.3.2. Karl Binding: Die Freigabe aus Sicht des Juristen

Zu Beginn seiner Abhandlung weist Binding auf die Brisanz der zu durchdenkenden Thematik hin und betont:

Um so notwendiger ist es, nicht dem Affekt, andererseits nicht der übertriebenen Be- denklichkeit das entscheidende Wort zu überlassen, sondern es auf Grund bedächti- ger rechtlicher Erwägung der Gründe für und der Bedenken gegen die Bejahung der Frage zu finden.[18]

Schon dieses Zitat lässt erahnen, aus welchem Grunde die Schrift von Binding und Hoche einen derart überragenden Einfluss auf die Euthanasie-Diskussion der Vorkriegszeit ausübte und bereits zwei Jahre später in der zweiten Auflage in Leipzig erscheinen konnte.

Binding schafft es, durch eine im Tenor zurückhaltende, beinahe vorsichtige Argumenta- tion den Eindruck höchster Seriösität zu erwecken. Trotz des schwerwiegenden, grausa- men Inhalts befällt den Leser heute noch eine gewisse Ehrfurcht vor dem Niedergeschrie- benen, das in seiner wissenschaftlichen Stringenz auf eine bestimmte Art und Weise beein- druckend wirkt.

Binding stellt bereits direkt zu Anfang heraus, dass ihm die streng juristische Behandlung des Themas ein Anliegen ist. Deshalb scheiden a priori alle religiös motivierten und fundierten Einwände aus, denn „alle religiösen Gründe besitzen für das Recht ... keine Beweiskraft.“ Nach seiner Meinung „ist das Recht durch und durch weltlich“, da es „die Regelung des äußeren menschlichen Gemeinlebens“[19] betrifft.

Euthanasie bedeutet für den Juristen „die Verdrängung der schmerzhaften, vielleicht auch noch länger dauernden, in der Krankheit wurzelnden Todesursache durch eine schmerzlo-sere andere“.[20] Er sieht in ihr keinen verwerflichen Akt der Unmenschlichkeit, sondern vielmehr „eine reine Heilhandlung“[21], ein „unverbotenes Heilswerk von segensreicher Wirkung.“[22] Binding hält demnach eine Euthanasie auf Verlangen von juristischer Seite für unbedenklich und in bezug auf das Leiden der Patienten zudem für wünschenswert.[23]

Die ausschlaggebende Fragestellung des Buches formuliert Binding erst im vierten Kapitel seiner Ausführungen: „Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?“[24] Die beiden Komponenten, die Jost differenziert, treten hier erneut explizit in Erscheinung: zum einen der Lebensträger und sein Leiden, zum anderen die Gesellschaft und ihr Nutzen.

Jedoch im Unterschied zu Jost lässt es Binding keineswegs bei dieser Feststellung bewenden, sondern zieht vielmehr eine verhängnisvolle Schlussfolgerung.

Er leitet den folgenreichen Teil seiner Reflexionen mit einem Vergleich ein, indem er die im Krieg umkommende Jugend und verschüttete fleißige Bergarbeiter zu den Insassen der Irrenanstalten in Relation setzt und zu dem Schluss gelangt:

... man ist auf das tiefste erschüttert von diesem grellen Mißklang zwischen der Opfe- rung des teuersten Gutes der Menschheit im größten Maßstabe auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite.[25]

An dieser Stelle wird die Aufnahme der Gedanken Josts ganz offensichtlich, wenn er dessen Rangordnung der Lebensqualitäten einschließlich negativer Lebenswerte rezipiert.[26]

Falls man die zitierte Grundfrage bejahte, könne über die entsprechend zu ergreifenden Maßnahmen laut Binding „nach kühl rechnender Logik kaum ein Zweifel obwalten.“[27]

Er gliedert die für eine Euthanasie in Frage kommenden Menschen in drei Gruppen.

Zunächst erwähnt er „die zufolge Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen, die im vollen Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben.“[28] Zwei Faktoren treffen bei dieser Gruppierung aufeinander: einerseits das unterträgliche Leiden an einer unheilbaren Krankheit, andererseits der keinesfalls unbedingt ausdrückliche Wille des Patienten zu sterben. Diese Einwilligung in den Tod kommt nach Binding in manchen Fällen sogar bereits bei Minderjährigen sowie bei Wahnsinnigen in Betracht.[29] Den Angehörigen der Patienten beabsichtigt er hingegen kein Vetorecht einzuräumen, „vorausgesetzt, daß das Verlangen nach dem Tode ein beachtliches ist.“[30]

Als zweite Gruppe zieht Binding die „unheilbar Blödsinnigen“ in Erwägung, da diese „weder den Willen zu leben, noch zu sterben“ haben.[31] Aus diesem Grunde schließt er eine

freie Einwilligung, so wie er sie für die erste Gruppierung vorsieht, von vornherein aus. Wegweisend für die weitere Entwicklung der Euthanasiedebatte erwies sich die Kennzeichnung dieser Menschen als „furchtbar schwere Belastung“[32] für die Verwandten, als absolut zweckfreies Leben. Auf diese Weise zieht er die Schlussfolgerung:

Wieder finde ich weder vom rechtlichen, noch vom sozialen, noch vom sittlichen, noch vom religiösen Standpunkt aus schlechterdings keinen Grund, die Tötung dieser Menschen, die das furchtbare Gegenbild echter Menschen bilden und fast in Jedem Entsetzen erwecken, der ihnen begegnet, freizugeben.[33]

Die dritte Gruppe bilden die „geistig gesunden Persönlichkeiten, die durch irgendein Ereignis [...] bewußtlos geworden sind, und die, wenn sie aus ihrer Bewußtlosigkeit noch einmal erwachen sollten, zu einem namenlosen Elend erwachen würden.“[34]

Auch in diesen Fällen lässt sich eine Zustimmung der Kranken nur schwerlich einholen.

Dennoch beharrt Binding auf den Grundsatz, dass „jede Freigabe der Tötung mit Brechung des Lebenswillens des zu Tötenden oder des Getöteten ausgeschlossen“[35] sein muss.

Hinsichtlich des Einwands, dass es unter Umständen bei der Vernichtung einzelner Menschen zu Irrtümern kommen könnte, indem beispielsweise ein Lebenswilliger euthanasiert würde, bemerkt Binding lapidar: „Die Menschheit verliert infolge Irrtums so viele Angehörige, daß einer mehr oder weniger wirklich kaum in die Wagschale fällt.“

Entsprechend seiner juristischen Profession, entwickelt der Autor sogar einen Vorschlag für eine praxisorientierte Anwendung der von ihm vorgezeichneten Maßnahmen. Er tritt dezidiert für die Einrichtung einer staatlichen Behörde ein, an die der Patient selbst bzw. sein Arzt den Antrag auf Tötung zu stellen vermag und die über dieses Ansinnen anhand einer Prüfung der Voraussetzungen für eine Freigabe entscheidet. Wenn die Kommission eine unrettbare Krankheit diagnostiziert und zudem noch der Wille des Patienten zur Lebensbeendigung vorliegt, steht der staatlichen Freigabe der Euthanasie nichts mehr im Wege. Als Mitglieder der Behörde postuliert Binding einen praktischen Arzt, einen Psychiater und einen Juristen, die alleine ihr Stimmrecht ausüben und einstimmig die Freigabe beschließen könnten.[36]

Am Ende seiner Ausführungen zitiert Binding aus Shakespeares „King Lear“ folgende Stelle: „Quält seinen Geist nicht! Laßt ihn ziehen! Der haßt ihn, Der auf die Folter dieser zähen Welt Ihn länger spannen will.“[37] Dazu passt ebenfalls seine Endaussage: „Dem Unheilbaren, der den Tod ersehnt, nicht die Erlösung durch sanften Tod zu gönnen, das ist kein Mitleid mehr, sondern sein Gegenteil.“[38]

In Karl Bindings Darlegung erkennen wir die Wertewelt eines rechtspositivistisch geprägten Utilitaristen, der die sittlichen Normen der Gesellschaft lediglich als Entwicklungsprodukte ansieht und sich für die Überwindung dogmatischer Verbindlichkeiten ausspricht, die die Sicht auf die Insignifikanz der Einzelexistenz gemessen an den Interessen des Kollektivs verdecken.[39] Durch Bindings Freigabe-Appelle erfuhren die theoretischen Überlegungen der Sozialdarwinisten wie Jost ihre konsequente Ausführung.

Die praktische Umsetzung der Bindingschen Theorien sollten nicht lange auf sich warten lassen.

1.3.3. Alfred Hoche: Die Freigabe aus Sicht des Psychiaters

Der Arzt Hoche geht von der Prämisse aus, dass „kein in Paragraphen lebendes ärztliches Sittengesetz, keine ‚moralische Dienstanweisung’“[40] existiert, das das Verhältnis des Arztes zum Töten reglementiert. Dennoch erkennt er gewisse „Standesanschauungen“ an, die ein Handeln gemäß der allgemeinen sittlichen Normen vorgeben.[41] Doch diese moralischen Wertmaßstäbe betrachtet er, ähnlich wie sein Kollege Binding und andere Utilitaristen, keineswegs als auf ewig gültige gleichbleibende Normen, ebenso wenig wie die Beziehung des Arztes zur unbedingten Erhaltung und Rettung menschlichen Lebens:

Der Arzt hat kein absolutes, sondern nur ein relatives, unter neuen Umständen verän- derliches, neu zu prüfendes Verhältnis zu der grundsätzlich anzuerkennenden Aufgabe der Erhaltung fremden Lebens unter allen Umständen.[42]

Die Grundfrage Bindings nach der Möglichkeit lebensunwerten Lebens[43] bejaht Hoche ausdrücklich, wobei er bezüglich der ersten Gruppe Bindings, den unrettbar Verlorenen, die Position einnimmt, dass bei diesen Menschen „nicht immer der subjektive und der objektive Lebenswert gleichmäßig aufgehoben sein“[44] muss, was er jedoch für die „unheilbar Blödsinnigen“ ausschließt. Diese zweite Gruppe kategorisiert er in den Kreis der von Geburt bzw. frühester Kindheit an Idiotischen und den Personen, bei denen erst im Verlauf ihres Lebens der „geistige Tod“ eintritt. Für letztere nimmt er an, dass sie für ihre Angehörigen aufgrund ihrer früheren geistigen Regungen einen gewissen „Affektionswert“ innehaben, während erstere vom Zeitpunkt ihrer Geburt an gezwungen sind, ohne geistigen Austausch mit ihrer Umgebung zu leben. Aus dieser Distinktion ergibt sich für Hoche die Notwendigkeit, jeweils differenzierte Maßstäbe bezüglich der Freigabe der Vernichtung anzulegen.[45] Hoche schränkt demnach die Gruppe stärker ein als Binding. Es wird dennoch deutlich, dass für die Eruierung des Lebenswerts eines Menschen nur noch die geistige Seite herangezogen wird. Der Schwerpunkt der körperlich Todkranken bei Jost verlagert sich nunmehr auf die Geisteskranken.

Als sozialdarwinistisch geprägter Mediziner ist es für Hoche zudem von enormer Signifikanz, dass unter ökonomischen Gesichtspunkten die „Vollidioten“, d. h. die seit frühestem Lebensalter geistig Toten, „am Schwersten auf der Allgemeinheit“[46] lasten.

Im Folgenden versteigt sich Hoche zu Formulierungen und Begrifflichkeiten, die zum Stammvokabular der NS-Propaganda werden sollten:

Es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, [...] .

Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, [...].

[...], und bei der kein Platz ist für halbe, Viertels und Achtels-Kräfte. [...]

[...], daß es bisher nicht möglich gewesen, auch nicht im Ernste versucht worden ist, diese Defektmenschen von der Fortpflanzung auszuschließen.[47]

„Aus den sprachlichen Hinrichtungen 1920 wurden 1939 bis 1945 tatsächliche Hinrichtungen am Menschen.“[48]

An dieser Stelle wird die wirtschaftlich-gesellschaftliche Sichtweise Hoches besonders immanent. In der ökonomisch gespannten Nachkriegssituation vermochte er mit diesen Aspekten ohne weiteres zu punkten. Die Notlage der Weimarer Republik als Hintergrund dieser Schrift sollte deswegen bei der Betrachtung ihrer Verbreitung keineswegs außer Acht gelassen werden.

Gegen Ende des Büchleins wagt Hoche einen Blick in die Zukunft und prophezeit:

Wir werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung heranreifen, daß die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt.[49]

Einen bestimmten Bereich der NS-Euthanasie-Aktion hat Hoche trotz allem nicht im vorhinein legitimiert: „Natürlich wird kein Arzt bei einem Kinde im zweiten oder dritten Lebensjahr die Sicherheit dauernden geistigen Todes behaupten wollen.“[50] Die Kinder-euthanasie des Reichsausschusses[51] lässt sich somit nicht explizit auf Hoche zurückführen, obwohl er durch sein Gedankengut gemeinsam mit Binding ohne Zweifel das Grundraster für die Euthanasie-Ideologie der Nationalsozialisten vorgegeben hat.

Interessanterweise ist noch anzumerken, dass Hoche später persönlich von dem praktischen Effekt seiner Gedankenspiele tangiert wurde, als eine Verwandte von ihm im Jahre 1940 selbst der Euthanasie zum Opfer fiel. Aufgrund dieses Vorfalls wurde Hoche, leider zu spät, Gegner der Vernichtung lebensunwerten Lebens.[52]

1.3.4. Die Reaktion der Mediziner auf die Thesen von Binding und Hoche

In den Reihen der Ärzteschaft stießen die Thesen des Kollegen Hoche sowie seines Mitautors Binding auf keine Gegenliebe, im Gegenteil. Zahlreiche Mediziner sahen das Arztethos des Helfens und Heilens, von dem sie sich in ihrem Beruf getragen wussten, durch die Vision einer ärztlichen Tötungsmentalität in höchstem Grade gefährdet.[53]

Besonders empört zeigte sich, als ein Beispiel für etliche Beiträge der damaligen Zeit, der Oberarzt Dr. Wauschkuhn:

So wie Noah eine Taube aussandte, ... , um das Gelände zu erkunden, so ließe mancher moderne Noah seinen Versuchsballon steigen, um zu ergründen, ob die nach der deutschen Sintflut von 1914/18 übriggebliebene Menschheit schon reif sei ‚für seine Ladenhüter aus Leben und Sitte niedrigstehender barbarischer Völker.[54]

Außerdem vertrat er die Ansicht, dass sich eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ebenso durch den Wegfall von Tabak- und Alkoholkonsum erreichen ließe und Hoches Ausführungen nur wenig mit Psychiatrie zu tun hätten.[55]

Der Direktor der Sächsischen Landesheilanstalt „Katharinenhof“, Dr. Ewald Meltzer, fühlte sich nach der Lektüre der Binding-Hoche-Schrift zutiefst beunruhigt und startete eine Umfrage unter 200 Eltern und Vormündern der von ihm behandelten schwachsinnigen Kinder. Als ersten Punkt listete er auf seinem Fragebogen auf: „Würden Sie auf jeden Fall in eine schmerzlose Abkürzung des Lebens ihres Kindes einwilligen, nachdem durch Sachverständige festgestellt ist, daß es unheilbar blöd ist?“[56] Das Resultat traf Meltzer unerwartet, wie er selbst in seinem 1925 erschienenen Buch „Das Problem der Abkürzung
’lebensunwerten’ Lebens“ zugab. 73% der zurückgesendeten Rückmeldungen enthielten die Antwort Ja, nur 27% (43 von 162) der Eltern verneinten die Frage.[57] Auf diese Weise konnte Meltzer sein Ziel, Binding und Hoche zu widerlegen, nicht erreichen.

Dr. Brennecke aus Hamburg brandmarkte die Freigabe-Theorien wie folgt:

[...], weil durch die dünnen Falten dieses gesetzlich geschützten, wissenschaftlich begründeten Mantels ein wohlbekanntes, fast allgemein beliebtes Gesicht hervorlugt: das Gesicht des rücksichtslosen Egoismus, der durch die verheerende Verseuchung mit materialistischer Lebensauffassung gerade jetzt mit lautem Getöse überall auf den Schild gehoben wird, um neben Gott Mammon unbeschränkt zu herrschen.[58]

Die Forderungen der beiden Professoren stellten für Brennecke „die logischen Konsequenzen des Materialismus“ dar, gegen die es vorzugehen galt. Die „Erscheinung des Geistes der Verneinung, der tiefsten Unmoral“ müsse überwunden werden, damit die Menschheit nicht „immer rettungsloserer Verwicklung“ und „qualvollerem Leiden“ anheimfalle.[59]

Nicht nur aus medizinischen Kreisen meldete man sich zu Wort, sondern auch von theologischer Seite nahm man Stellung.

1.3.5. Die theologische Rezeption der Forderungen Bindings und Hoches

Der Münchner Moraltheologe Franz Walter schrieb 1922 als Reaktion auf den sittlichen Relativismus und ethischen Evolutionismus Bindings und Hoches:

Wo nur immer die Moral auf ewige Ideen einer Gottesordnung mit absoluter Verpflichtungskraft gegründet wird, da kann, wenn nur das sittliche Bewußtsein mit voller Deutlichkeit spricht, trotz allem menschlich-schönen Mitgefühl mit dem von Schmerz Gefolterten von einer Freigabe der Tötung niemals die Rede sein.

Wo dagegen die Unabänderlichkeit des Sittengesetzes preisgegeben und die Sittlichkeit in den ruhelosen Strom der menschheitlichen Entwicklung gestellt wird, wird die Rücksicht auf das Glück des Einzelnen wie den Nutzen der Gesamtheit die Tötung lebensunwerten Lebens für berechtigt, ja für ein Gebot der Pflicht halten.[60]

Walter brachte den relativistisch-utilitaristischen Hintergrund der Euthanasie treffend zum Ausdruck und akzentuierte im gleichen Zuge die christliche Maxime der gottgegebenen sittlichen Normen, die keiner evolutiven Entwicklung unterliegen.

Ein weiteres Problem erkannte er in der von Binding propagierten Abstufung der Lebenswerte, da es seiner Auffassung nach unmöglich sei, eine genaue Grenzlinie zu ziehen, ab welchem konkreten Moment ein Leben als lebensunwert bezeichnet werden könnte und bis zu welchem Punkt es ein schützens- und erhaltenswertes Gut darstellte. Aufgrund dieser Überlegungen „verbieten sich zahlenmäßige Bestimmungen von selbst. Ihre praktische Verwertbarkeit wäre wahrscheinlich ‚gleich Null’“.[61]

Des weiteren lehnte Walter das Mitleid als Basis für die Euthanasie strikt ab, da dessen emotionaler Charakter letzten Endes eine gewisse „Unbestimmtheit, Verschwommenheit und Dehnbarkeit“[62] mit sich brächte und somit die Möglichkeit eines Irrtums und die Gefahr übereilten, unvernünftigen Handelns latent würde. Walter wandte sich zudem gegen die Ethik des Philosophen Schopenhauers, für den das Mitleid die „Quelle aller Sittlichkeit“ darstellte.[63] Er warnte vor den Konsequenzen eines schrankenlosen Walten der Empathie und postulierte die Verantwortung der Pietät vor der Vernunft und der Religion.[64] Auf diese Art und Weise verwarf Walter Bindings Leitsatz, dass die Euthanasie stets „Ausfluß freien Mitleids mit dem Kranken“[65] sein sollte.

Der Kölner Theologe Eugen Rose skizzierte dagegen in der Zeitschrift „Ethik“ im Jahre 1934 ein völlig anderes Bild hinsichtlich der Aussagen Bindings und Hoches. Gegen eine Lebensverkürzung innerhalb der ersten Gruppe der unheilbar Kranken, die ihre Zustimmung dazu erteilen, hatte er nichts einzuwenden. Die Tötung Geisteskranker hingegen wies er energisch zurück, da es bei ihr seiner Ansicht nach lediglich um eine Kostenersparnis des Staates und der Allgemeinheit ginge.[66] Trotzdem stand am Ende seiner Überlegungen folgendes positives Fazit:

Darum ist zum Segen unerträglich Leidender, zum Frommen der Angehörigen und Pfleger und zum Heil des Volksganzen eine teilweise Freigabe der Euthanasie, und zwar einerseits als Sterbehilfe und andererseits als Tötung unheilbarer Kranker und Verletzter zur Erlösung von ihren Qualen, unter genauer Beobachtung aller Sicher- heitsmaßregeln auch vom christlichen Standpunkt aus vollauf zu vertreten.[67]

Mit Andreas Frewer bleibt nur noch hinzuzufügen: „Mit diesem Text ist die beginnende ‚schiefe Ebene’ für die Problematik der späteren Euthanasie fast in Reinform beschrieben.“[68]

Der Direktor der Anstalt Magdeburg-Cracau, Pastor Martin Ulbrich, hielt den Theorien der beiden Professoren die Theologie von der Gotteskindschaft jedes Menschen entgegen und breitete diese in ihrer eschatologischen Dimension aus:

Die vielen Blöden ohne sichtbaren Lebenswillen sind trotz der Verhüllung des Gottesebenbildes doch Kinder Gottes, deren Lebensuhr die Hand der ewigen Liebe stellt, der wir nicht vorgreifen dürfen. [...] Was hier kranket, seufzt und fleht, wird dort frisch und herrlich gehen.[69]

Den Aufgabenbereich des Christen sah Ulbrich im Dienst an den Armen, Kranken und Elenden, die Heilung und Hilfe benötigten. Ausgehend vom kirchlichen Standpunkt könnten die Geisteskranken als Schätze angesehen werden, zu deren Hütern Gott alle Menschen bestellt habe.[70]

In seiner radikal christlichen Anthropologie setzte der Anstaltsdirektor klare Akzente gegen die oben erwähnte „schiefe Ebene“.

Zu diesem Gesichtspunkt sollen auch noch die Teilnehmer der „Fachkonferenz für Eugenik“, die sich im Mai 1931 in Treysa bei Kassel trafen, zu Wort kommen. Sieben leitende Ärzte und neun Direktoren und Leiter evangelischer Irrenanstalten befanden sich unter den insgesamt 23 teilnehmenden Fachkräften. Man war sich darüber einig, dass sowohl volkspädagogisch und ärztlich als auch vom religiösen Gesichtspunkt aus die Forderung nach einer Vernichtung lebensunwerten Lebens abzulehnen sei, da das fünfte Gebot auch für die Geisteskranken und sonstige Behinderte Geltung habe. Die These Hoches, nach der bei den „unheilbar Blödsinnigen“ keinerlei Lebenswille oder Seelenleben festzustellen sei, wurde verworfen. Diesen ideologischen Unwahrheiten setzten die Teilnehmenden ihre Alltagspraxis entgegen und kamen zu dem Ergebnis:

Die Erfahrung unserer Anstaltsarbeit hat vielmehr erwiesen, daß sich selbst bei den Elendsten unserer Pfleglinge neben ausgesprochenem Lebenswillen ... auch unzweifelhaft Spuren eines Seelenlebens finden, das oft erst in der Todesstunde die Hemmungen des Leibes zu überwinden vermag.[71]

1.4. Zwischenresümee

Wie die vorangehenden Ausführungen demonstriert haben, wurde der NS-Euthanasie bereits Jahrzehnte vor dem Beginn der Tötung Tausender Geisteskranker in Deutschland ein „guter“ Nährboden bereitet, auf den sich die entscheidenden Führungskräfte der Nationalsozialisten problemlos zu berufen vermochten.

Trotz der markanten Ablehnung seitens der Mediziner sowie großer Teile der Theologie konnten sich die Thesen Josts, Bindings und Hoches in der politisch und wirtschaftlich prekären Lage, unterstützt von der Depression nach dem verlorenen Krieg, schnell verbreiten und auf Akzeptanz stoßen. Die Umfrage Dr. Meltzers verifiziert diese Aussage mit erschreckender Prägnanz. Beinahe drei Viertel der Eltern hätten nicht gezögert, ihr geisteskrankes Kind für die Tötung freizugeben, aus heutiger Sicht wohl eine unfassbare Vorstellung, die jedoch die damalige Einstellung in krasser Weise verdeutlicht.

Auf diesem Hintergrund war es für Hitler und die Nationalsozialisten ein Leichtes, mit dem Sterilisationsgesetz im Jahre 1933 einen Weg aufzunehmen, der am Ende Hunderttausenden das Leben kosten sollte.

Jost, Binding und Hoche waren offensichtlich nicht imstande, derartig verheerende Auswirkungen vorherzusehen.

2. Das Sterilisierungsgesetz von 1933 als Vorstufe zur Euthanasie-Aktion

2.1. Ärzte als Wegbereiter des Gesetzes

Infolge der Komposition aus sozialdarwinistischen und rassenhygienischen Prämissen bil-

dete sich im Laufe der zwanziger Jahre ein ganzer Zweig wissenschaftlicher Erbforschung, wobei seit 1927 das „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ in Berlin unter der Leitung von Eugen Fischer als Zentrum der Rassenhygiene fungierte.[72] Daneben existierte bereits seit 1919 das „Kaiser-Wilhelm-Institut für Genealogie“ in München, geleitet von dem Psychiater Ernst Rüdin.[73]

Der Impetus zum Sterilisierungsgesetz kam jedoch nicht nur aus den Reihen der Erbforscher, sondern gleichermaßen von den ärztlichen Spitzenverbänden, dem Hartmannbund sowie dem Deutschen Ärztevereinsbund, die im November 1932 eine Eingabe an das Innenministerium richteten mit der Bitte um den baldigen Erlass eines Gesetzes, das Sterilisierung aus eugenischen Erwägungen erlauben sollte. Der Ärztevereinsbund gründete sogar in Eigeninitiative ein „Aufklärungsamt für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege“ in der Intention, „das deutsche Volk vor einem biologischen Verfall zu bewahren“.[74] Der bereits erwähnte Prof. Rüdin wurde daraufhin im Juni 1933 als Vorsitzender des „Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik“ ernannt, dessen Aufgabenstellung lautete, das von ärztlicher Seite herbeigewünschte Sterilisierungsgesetz auszuarbeiten. Innerhalb eines Tages konnte das Gesetz formuliert werden, so dass es am 14. Juli bereits öffentlich verkündet wurde und damit in Kraft trat.[75]

2.2. Das Sterilisierungsgesetz und seine praktischen Folgen

Von dem Gesetz waren alle Patienten betroffen, die an „angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem [...] Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz [...], erblicher Blindheit, erblicher Taubheit“ sowie „schwerer erblicher körperlicher Mißbildung“ litten.[76]

Als Erbkrankheit galt laut dem Gesetz außerdem noch schwerer Alkoholismus. Einen Antrag auf Unfruchtbarmachung konnten sowohl der Erbkranke selbst als auch der „beamtete Arzt“ sowie bei Insassen einer Anstalt der jeweilige Anstaltsleiter stellen. Über die Anträge entschieden sogenannte „Erbgesundheitsgerichte“, denen jeweils ein Arzt, ein Gesundheitsbeamter und ein Berufsrichter angehörten. Neben den 30 Obergerichten existierten nicht weniger als 200 weitere untergeordnete Gerichte,[77] die ihre Vorladungen teilweise in Form einer polizeilichen Instruktion versendeten.

Die Möglichkeit einer Zwangssterilisation wurde gedeckt durch den § 12 des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, in dem es hieß: „Hat das Gericht die Unfruchtbarmachung endgültig beschlossen, so ist sie auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen, [...]. Soweit andere Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig.“[78] In der Verordnung zur Ausführung des Gesetzes vom 05. Dezember 1933 restringierte man die Zwangsanwendung allerdings auf Personen ab 14 Jahren, wobei eine Sterilisierung bereits ab dem vollendeten zehnten Lebensjahr freigegeben war. In den Jahren 1934 bis 1936 wurden etwa 7 bis 9% der zu Sterilisierenden durch Polizeigewalt in die Klinik überführt.[79] Bezüglich der Praxis in den Heil- und Pflegeanstalten sollte des weiteren Erwähnung finden, dass die Entlassung eines erbkranken Patienten ausschließlich nach der vollzogenen Sterilisierung bzw. nach einer Aufhebung der Entscheidung zur Sterilisation gestattet war.[80] Man nahm die Sterilisierungen entweder mittels einer Operation oder durch den Einsatz von Röntgenstrahlen vor.[81]

Für die Jahre 1934 bis 1936 ist bekannt, dass lediglich 25.000 Beschlüsse gegen eine Sterilisierung verabschiedet wurden, wohingegen in 200.000 Fällen das zuständige Erbgesundheitsgericht eine Unfruchtbarmachung anordnete.

Im Rahmen des Gesetzes teilte man den Ärzten entscheidende Schlüsselpositionen zu, da sie nicht ausnahmslos die Funktion von Anzeigenden und Antragstellenden einnahmen, sondern ebenso als Sachverständige, Richter und Vollstreckungsorgane fungierten. Dieses Vorgehen ging so weit, dass der am jeweiligen Ort zuständige Amtsarzt de facto das Amt eines Staatsanwalts innehatte.[82] Wenn ein Arzt dennoch einen erbkranken Patienten nicht ordnungsgemäß meldete, drohte ihm eine Geldstrafe in Höhe von 150 Reichsmark.[83] Eine weitere Anweisung besagte, dass jeder Reichsarzt einen Lehrgang in genetischer Krankenlehre zu absolvieren hatte. Als Ort für diese Kurse dienten die mittlerweile an vielen Stellen vorhandenen Institute für Rassenhygiene.[84]

Derjenige, der sich die praktische Durchführung der Unfruchtbarmachung vor allem in den ersten Monaten besieht, gelangt unweigerlich zu dem nachstehenden Urteil: „Schon bei der Durchführung [...] zeigte sich auf Seiten der Psychiater ein Sterilisationseifer, der von dem Rauschzustand zeugt, in den der Nationalsozialismus die deutsche Gesellschaft und besonders ihre akademisch gebildeten Schichten versetzt hatte.“[85]

Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass wohl zwischen 350.000 und 400.000 Personen in den Jahren 1934 bis 1945 sterilisiert wurden, darunter zwei Drittel Frauen. Der Rassenhygieniker Lenz vertrat die Position, dass 10 bis 15% der Bevölkerung eugenische Schäden aufwiesen und deswegen zur Sterilisierung freigegeben werden müssten.[86] Bei den Operationen kam es nicht selten zu tödlichen Komplikationen, so dass ungefähr 5000 Menschen diesen Eingriff mit ihrem Leben bezahlten.[87]

Im Vorwort zur ersten Auflage eines Kommentars zum Sterilisierungsgesetz unternahm man den Versuch, von vornherein jegliche ethischen Bedenken gegen das neue Gesetz zu begegnen und diese durch das Ausrufen einer neuen, gehobeneren Ebene der Nächstenliebe zu entkräften:

Das Gesetz ist demnach eine als Bresche in das Geröll und die Kleinmütigkeit einer überholten Weltanschauung und einer übertriebenen selbstmörderischen Nächstenliebe der vergangenen Jahrhunderte aufzufassen. [...] Dies [das Schützen des Volkes vor Verbrechern und das Bewahren vor erblich belastetem Nachwuchs] aber sind ethisch hohe völkische Ziele, die über das Denken des liberalistischen Zeitalters, ja man kann sagen über die Ethik der christlichen Nächstenliebe der vergangenen Zeitrechnung weit hinausgehen.[88]

Selbst das Deutsche Ärzteblatt erblickte in der innovativen Sterilisationsgesetzgebung einen Akt der Nächstenliebe und proklamierte: „Da die Sterilisierung das einzig sichere Mittel ist, um die weitere Vererbung von Geisteskrankheiten und schweren Erbleiden zu verhüten, muß das Gesetz als eine Tat der Nächstenliebe und Vorsorge für die kommende Generation angesehen werden.“[89]

Von medizinischer Seite aus betrachtet gab es zur damaligen Zeit noch gar keine wissenschaftlich erwiesenen Erkenntnisse, ob die im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses aufgeführten Leiden wirklich durch Vererbung übertragen wurden. „Es kam deshalb nicht selten zu einer Argumentationsakrobatik von seiten der Kommentatoren des ‚Hitler-Gesetzes’, so daß die Einstellung so zu resümieren war: ‚Erblichkeit liegt sicher vor, ist nur nicht festzustellen’“[90]

Mit Inkrafttreten des Sterilisationsgesetzes kam auch die berüchtigte NS-Propaganda-

Maschinerie in Fahrt. Der Gesetzestext samt einer Begründung in Auszügen und der ersten Durchführungsverordnung konnte für 10 Pfennige an den Schaltern der Reichspost erworben werden. Bis 1934 waren bereits zehn Millionen dieser Sonderdrucke verkauft worden.

Neben neu erscheinenden Zeitschriften wie „Der Erbarzt“ wurde vor allem das Kino als massenwirksames Medium benutzt, um bei möglichst vielen Menschen eine positive, zustimmende Einstellung zu der Sterilisierungsaktion zu erreichen. Filmtitel wie „Die Sünde der Väter“ (1935), „Erbkrank“ (1936), „Opfer der Vergangenheit“ (1937)[91] und besonders „Die Sünde wider Blut und Rasse“ zeugen von unsachlicher Propaganda, die durch die Darstellung schwerstkranker Menschen ihre Ideologie zu verbreiten bezweckte. Das „Hauptamt für Volksgesundheit“ führte zusätzlich beachtliche Ausstellungen durch, in denen die Bürger anscheinend über Erbkrankheiten aufgeklärt werden sollten, so 1937 in Hamburg die Ausstellung „Ewiges Volk“ und in Dresden „Volk und Rasse“.[92] Die Propaganda zeigte Wirkung. Die Mehrheit der Deutschen, sogar die evangelische Kirche und manche christliche Theologen[93] begrüßten die Sterilisierung als Weg zur Rettung des deutschen Volkswesens.

3. Die Kindereuthanasie

3.1. Der Fall „Kretschmar“ als Initialzündung für die Kindereuthanasie

Die Kanzlei des Führers diente ursprünglich nur zur Bearbeitung der an Hitler persönlich gerichteten Anschreiben, vergrößerte sich jedoch zunehmend zu einem großen Verwaltungsapparat mit fünf Hauptämtern unter der Leitung von Philipp Bouhler. Das Hauptamt II der Kanzlei kümmerte sich um innerstaatliche und –parteiliche Angelegenheiten und bekam aus diesem Grund die Euthanasie als Aufgabengebiet zugewiesen.[94]

Im Frühjahr 1939 erreichte die Kanzlei des Führers ein Gesuch aus Leipzig, das sich als Anstoßpunkt zur Kindereuthanasie und, davon nicht zu trennen, ebenso der Erwachseneneuthanasie herausstellen sollte. Der leitende Arzt der Leipziger Kinderklinik, Werner Catel, hatte den Eltern einer seiner jungen Patienten geraten, ein Tötungsgesuch an den Führer zu richten, um ihr Kind von seinen qualvollen Leiden zu erlösen.[95]

Über die Identität des sogenannten „Knauer Kindes“, dessen markante Merkmale angebo- rene Blindheit, geistige Behinderung und das Fehlen eines Beines und eines Teils eines Armes bildeten, wurde lange Zeit spekuliert. Neueste Forschungen liefern nun folgendes Bild: Der wirkliche Name des schwer körperlich und geistig behinderten Jungen lautete Gerhard Herbert Kretschmar. Er kam am 20. Februar 1939 in dem sächsischen Dorf Pomßen als erster Sohn des Landarbeiters Richard Herbert Kretschmar und seiner Gattin Lina Sonja zur Welt.

Nach Eingang des Gesuchs in der Führerkanzlei schickte Hitler seinen Leibarzt Dr. Brandt nach Leipzig, um den Fall einer Prüfung zu unterziehen und den dortigen Ärzten gegebenenfalls grünes Licht für eine Tötung des Kindes zu erteilen. Tatsächlich verstarb Gerhard Kretschmar am 25. Juli mit der vorgetäuschten Todesursache „Herzschwäche“ und wurde drei Tage später in Pomßen beerdigt. Es wird angenommen, dass die bei der Kindereuthanasie übliche Tötungsmethode der Verabreichung von Luminal oder Morphium-Skopolamin von Catel bzw. den Ärzten der Leipziger Kinderklinik verwendet wurde.[96]

Das Gesuch der Eltern Kretschmar war damals nicht die einzige Bitte um die Erlaubnis der Tötung eines Angehörigen, die im Hauptamt II zur Bearbeitung kam. Doch der Fall dieses kleinen sächsischen Kindes diente den Naziführern aufgrund seiner schwerwiegenden Implikationen als essentieller Präzedenzfall für weitere Aktivitäten in diese Richtung. „Alle Beteiligten, einschließlich Hitler, erkannten sofort, daß sich der Fall des Kindes Gerhard Kretschmar wie kein anderer zuvor für ihre unterschiedlichen machtpolitischen und ideologischen Zielsetzungen instrumentalisieren ließ.“[97]

3.2. Die Durchführung der Tötungsaktion an behinderten Kindern

In dem Zeitraum von Februar bis Mai 1939 traf sich ein Gremium, bestehend aus Dr. Brandt, Prof. Catel, Kinderarzt Dr. Ernst Wentzler aus Berlin-Frohnau, Jugendpsychiater Dr. Hans Heinze aus Brandenburg und dem Augenarzt Dr. Helmut Unger, um die Vorbereitungen für eine Kindereuthanasie-Aktion zu treffen. Es wurde nicht nur ein genau geregeltes Verfahren zur Umsetzung der Tötungspläne erarbeitet, sondern darüber hinaus ein seriös klingender Name für den Auftraggeber des Projekts erdacht, da die Kanzlei des Führers selbst nicht mit den geplanten Vorgängen in Verbindung gebracht werden wollte. Der Beraterstab einigte sich schließlich auf den Tarnnamen „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“.[98] Als Postadresse diente dem Ausschuss die Postfachschließnummer „Berlin W9, Postfach 101“.[99]

Am 18. August 1939 erging ein streng vertraulicher Runderlass an die Länderregierungen, in dem eine Erfassung aller Fälle geistiger und körperlicher Behinderung bei Säuglingen und Kindern bis zu drei Jahren zwecks „Klärung wissenschaftlicher Fragen“ angeordnet wurde. Hebammen und Ärzte sollten mittels eines Meldebogens Kinder mit angeborener Schädigung an das zuständige Gesundheitsamt melden. Hebammen wurde in diesem Zusammenhang eine Aufwandsentschädigung von 2 Reichsmark zugesprochen. Die Fragen auf dem Meldebogen waren sehr allgemein gehalten und bezogen sich auf die Entwicklungs- und Bildungsfähigkeit des Kindes. Nach Prüfung der Vollständigkeit der Angaben durch den Amtsarzt war dieser angewiesen, die Meldung an den Reichsausschuss weiterzuleiten.[100] Drei Obergutachter kümmerten sich um die Evaluation der Meldebögen und zwar handelte es sich dabei um die bereits zitierten Ärzte Heinze, Wentzler und Catel. Im Umlaufverfahren gingen die Bögen an die Gutachter, die allein anhand der dort getroffenen Angaben, ohne jede eigene ärztliche Untersuchung oder Kenntnis der Krankengeschichte, ihre Entscheidung über Leben und Tod des einzelnen Kindes fällten. Ein „+“ bedeutete die Tötung des Kindes, ein „—“ besagte, dass das Kind weiterleben durfte. Die erforderliche Einstimmigkeit des Verfahrens bildete im Normalfall kein Problem, da der zweite Gutachter aufgrund des Systems die Wertung des Vorgängers und der dritte Gutachter die beiden vorherigen Urteile kannte und sich entsprechend anzuschließen vermochte.[101]

Die Meldungen der Gesundheitsämter trafen äußerst zögerlich in Berlin ein, meistens wurde nur eine sehr überschaubare Anzahl von Vorfällen gemeldet, wie das nachstehende extreme Beispiel aus Tuttlingen veranschaulicht: „In der Zeit vom 1.10.1939-31.12.1940 sind folgende 2 Mißbildungen bei Neugeborenen hier eingegangen: 1. Klumpfuß rechts, (katholisch) 2. Plattfuß, (nicht katholisch)“.[102] Am 01. Juli 1940 meldete ein weiterer Runderlass[103] die Einrichtung der ersten „Kinderfachabteilung“ in Görden bei Brandenburg, obwohl diese bereits seit Oktober 1939 bestand. Als Direktor dieser „Jugend-Psychiatrischen Fachabteilung“ amtierte Obergutachter Dr. Hans Heinze.[104]

Die nächsten „Kinderfachabteilungen“ entstanden in Wien („Am Spiegelgrund“), Eglfing-Haar und Niedermarsberg. Insgesamt existierten ungefähr 30 dieser Sonderabteilungen, die in bestehende Heil- und Pflegeanstalten (Eglfing-Haar), Universitätskliniken (Leipzig, Dr. Catel) und Kinderkrankenhäuser integriert wurden.[105] Die Einweisung der Kinder fand in der Regel von zu Hause oder später auch aus Heimen bzw. Anstalten statt. Die Krankengeschichten belegen, dass es bei der Auswahl der in Frage kommenden Kinder im Prinzip um nichts anderes als ihre Arbeitsfähigkeit und damit ihren Nutzen für die Volksgemeinschaft ging.[106] Die Kinder wurden, um eine medizinische Behandlung zu simulieren, eine Weile in den Fachabteilungen verwahrt. Diese Zeit nutzte man zu wissenschaftlichen Experimenten, bevor dem jungen Kinderleben durch eine Überdosis Luminal ein Ende bereitet wurde. Aus diesem Grund richtete sich die Verteilung der Kinder auf die einzelnen Abteilungen auch oftmals nach dem wissenschaftlichen Interesse des jeweiligen Anstaltsleiters oder Pathologen.[107] Lediglich in der Kinderfachabteilung Görden wurden Kinder im Rahmen der Aktion des Reichsausschusses auch durch Vergasung umgebracht.[108] In den Jahren 1939 bis 1945 sind auf diese Art und Weise insgesamt 5000 Säuglinge, Kinder und später auch Jugendliche im Auftrag des Reichsausschusses ums Leben gekommen.[109] Mit 772 Todesfällen mussten in der Wiener Abteilung die meisten Kinder ihr Leben lassen.[110] Verschiedene Quellen bestätigen zudem die These, dass nicht nur geistig und körperlich behinderte Kinder, sondern in Einzelfällen gleichermaßen völlig gesunde, jedoch schwererziehbare Halbwüchsige umgebracht wurden.[111]

Mit dem offiziellen Ende der T4-Aktion gewann die Arbeit des Reichsausschusses ein weiteres Mal an Bedeutung. Sukzessive wurde das Höchstalter der Kinder von 3 über 8 und 12 bis hin zu 16 Jahre heraufgesetzt, um eine größere Anzahl an Patienten in die Kindereuthanasie miteinbeziehen zu können.

Der Direktor der Anstalt Eglfing-Haar, Dr. Hermann Pfannmüller, war auch als T4-Gutachter tätig. Im Herbst 1939 führte er eine Besuchergruppe durch seine Anstalt, unter ihnen Ludwig Lehner, der sieben Jahre später folgendes darüber berichtete:

Nach dem Besuch einiger anderen Krankenstationen führte uns der Anstaltsleiter mit Namen Pfannmüller in eine Kinderstation. [...] Folgende zusammenfassende Ansprache durch Pfannmüller ist mir dem Sinne gemäß erinnerlich: Diese Geschöpfe [...] stellen für mich als Nationalsozialisten natürlich nur eine Belastung unseres gesunden Volkskörpers dar. Wir töten [...] nicht durch Gift, Injektionen usw. [...] Nein, unsere Methode ist viel einfacher und natürlicher, wie Sie sehen. Bei diesen Worten zog er [...] ein Kind aus dem Bettchen. Während er dann das Kind wie einen toten Hasen herumzeigte, konstatierte er mit Kennermiene und zynischem Grinsen: Bei diesem wird’s noch 2-3 Tage dauern.[112]

Diese kurze Schilderung lässt uns Pfannmüller als einen kalt berechnenden, menschenverachtenden Mediziner erscheinen, der sich darüber hinaus nicht scheute, bereits ganz zu Beginn der Aktion des Reichsausschusses über das Töten der Kinder in aller Offenheit Bericht zu erstatten. So erweist es sich nicht als verwunderlich, dass ab 1942/43 in seiner Anstalt keine physischen Krankheiten länger behandelt und die Kinder auf Hungerkost gesetzt wurden. Mit dem Jahre 1944 endeten in Eglfing-Haar auch jegliche Erziehungs- und Ausbildungsmaßnahmen. Insgesamt fanden durch Dr. Pfannmüller zwischen Mai 1940 und Mai 1945 312 Kinder den Tod, wobei 20 davon durch Unterernährung bzw. fehlende ärztliche Hilfe in den Tod getrieben wurden.[113]

3.3. Das Verhalten der Eltern

Aufgrund des Gnadentod-Gesuchs der Eltern Kretschmar und anderer Väter und Mütter behinderter Kinder entstand in der Führerkanzlei augenscheinlich der Eindruck, dass die Mehrzahl der Eltern ein schmerzloses Hinscheiden ihres Kindes begrüßten. Der Vater des Kindes Paul N., „dessen größte Sorge es war, seinen ‚Stammbaum in Reine’ zu erhalten“[114], mag als Beispiel für die Richtigkeit dieser Ansicht stehen, ebenso wie die fünf Elternpaare in Eglfing sowie die drei Erziehungsberechtigten in Wien, die gegenüber der jeweiligen Anstaltsleitung offen den Wunsch nach einer Tötung ihres Kindes äußerten.[115]

Dennoch wurde der Wille der Eltern zum Widerstand deutlich unterschätzt. Von diesem Faktum zeugen zum einen die schleppenden Eingänge der Meldungen beim Reichsausschuss, zum anderen die offensichtliche Notwendigkeit, renitent aufbegehrende Eltern in Schach zu halten. Ab 1941 konnten die Eltern ihr bis dato weitgehend respektiertes Zustimmungsrecht nicht mehr so einfach in die Wagschale legen. Bei Gegenwehr wurde ihnen entweder mit Entziehung des Sorgerechts, wirtschaftlicher Benachteiligung oder mit der Dienstverpflichtung der Mutter gedroht. Nur auf diesem Weg schien die ungestörte Durchführung der Kindereuthanasie gewährleistet.[116]

Ein Teil der Eltern wurden hintergangen, indem man ihnen weismachte, dass in den Kinderfachabteilungen völlig neuartige Behandlungsmethoden ausprobiert würden, die eine Besserung des Zustandes ihres Kindes erwarten ließen. In anderen Fällen wurden die Kinder auch ohne das Wissen der Eltern einfach von einer Anstalt oder einem Heim in die Fachabteilung verlegt. Wenn die Väter und Mütter dann endlich erfuhren, wo ihre Kinder eingeliefert worden waren, bestand für sie kaum die Möglichkeit zu einer Kontaktaufnahme. Durch vertröstende Berichte über die Lage und den Zustand des Kindes, die meistens unzutreffend waren, wurden sie immer wieder abgewimmelt.[117]

Die Probleme des Reichsausschusses mit den Eltern deutete das Reichsinnenministerium am 20. September 1941 in einem Brief in folgender Weise an:

Die Sorgeberechtigten sind oft nicht gern bereit, das Kind in eine Anstalt zu geben. Sie stützen sich dabei oft auf die Angabe des Hausarztes, daß auch eine Anstaltsbehandlung an dem Zustand nichts ändern könne, oder sie glauben, eine fortschreitende Besserung im Zustand des Kindes zu bemerken.[118]

Zumindest in den Anstalten Eglfing-Haar und „Am Spiegelgrund“ in Wien hatten die Eltern die Chance, ihre Kinder wieder zurückzubekommen.[119] Doch das Drängen auf eine Entlassung stellte in den meisten Fällen eine hohe psychische Belastung dar, dem nicht jedes Elternpaar gewachsen war.[120]

4. Die Erwachseneneuthanasie: Aktion T4

Die Vernichtung vieler Tausend Geisteskranker durch das NS-Regime lässt sich weder konzeptionell noch ideologisch von der Kindereuthanasie des Reichsausschusses trennen. Zeitgleich mit dem Beginn der Tötung behinderter Kinder in deutschen Anstalten fiel die Endphase der Entschlussbildung über eine großangelegte Vernichtung sogenannten lebensunwerten Daseins. Durch den Fall Kretschmar und die ersten aktiven Euthanasien an Kindern erlangte dieses Projekt einen dynamischen Schub und wurde kurze Zeit später, wiederum durch Versendung von Meldebögen, in Gang gesetzt.

4.1. Die Vorbereitung der T4-Aktion

Bereits 1935 soll Adolf Hitler dem Reichsärzteführer Gerhard Wagner seine Pläne bezüglich einer Euthanasieaktion mitgeteilt haben.[121] Einer der Hauptakteure von T4, Prof. Paul Nitsche, sagte 1946 vor Gericht aus: „Von dem Gauärzteführer Wagner [...] bin ich jedoch mit zunehmender Deutlichkeit zur Anwendung der Sterbehilfe gedrängt worden, wobei er mir Anfang 1937 erklärte, daß der Führer jeden Psychiater, der in wohlbegründeten Fällen Sterbehilfe anwende, vor Strafe schützen werde.“[122] Diese Fakten belegen, dass Hitler die Massenvernichtung Geisteskranker seit langer Zeit geplant hatte und zeitgleich mit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg nun die richtige Zeit gekommen sah, um sein Vorhaben in Angriff zu nehmen.

Im Juli 1939 versammelten sich etwa 15 bis 20 Personen in Berlin zu einer Besprechung. Hitler hatte seinem Kanzleiführer Bouhler (s. Foto) und seinem Leibarzt Dr. Brandt neben der Kindereuthanasie ebenfalls die Vernichtung des erwachsenen Lebens anvertraut, ein weiteres Indiz für die Untrennbarkeit der beiden Aktionen. Ihre Aufgabe bestand zunächst in der Suche nach politisch und ideologisch zuverlässigen Ärzten, die sie in die Euthanasie-Aktion einspannen konnten. So fanden sich an jenem Julitag die bereits bekannten Doktoren Wentzler, Heinze und Pfannmüller ein und außerdem u.a. der erwähnte Prof. Paul Hermann Nitsche, Leiter der Anstalt Sonnenstein bei Pirna und. Prof. Werner Heyde, der Ordinarius für Psychiatrie in Würzburg, die später die Leitung der medizinischen Abteilung der T4-Organisation übernehmen sollten. Bouhler erläuterte den anwesenden Medizinern die geplanten Vorhaben und erntete allgemeine Bereitschaft zur Kooperation an dem Projekt. Heyde ließ später verlauten, „daß Bouhler auch davon sprach, man habe sich die Durchführung so gedacht, daß ein Begutachtungssystem eingerichtet werden solle, ähnlich wie in dem Werk von Hoche-Binding.“[123]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Analog zu der Kindereuthanasie erhielt das Hauptamt II unter der Leitung von Oberdienstleiter Viktor Brack den Auftrag zur Umsetzung der Beschlüsse.

4.2. Das Ermächtigungsschreiben Hitlers und das Ringen um ein Euthanasiegesetz

Ein offiziell promulgiertes Gesetz zur staatlichen Regelung der Euthanasie hat es in der

NS-Zeit nie gegeben. Das Fundament aller Initiativen, die in diese Richtung verliefen, bildete ein von Hitler im Oktober 1939 unterschriebener Erlass folgenden Inhalts:

Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.[124]

Diese Ermächtigung der beiden engen Mitarbeiter Hitlers stellte die einzige Rechtsgrundlage für die gesamte „Aktion Gnadentod“ dar. Die Tötungen wurden niemals durch ein offizielles Reichsgesetz legitimiert. Die Form des Erlasses erschien zudem ziemlich befremdlich: Für diese eminente Sache kam Hitlers privates Briefpapier mit dem goldenen Hoheitsadler an der linken oberen Ecke zur Anwendung. Dadurch wird deutlich, dass Hitler „also den Tod von vielen Tausend Kranken als seine Privatangelegenheit betrachtet“ hat und „nicht als Entscheidung des Staatsoberhauptes.“[125] Zu dieser Beobachtung passt die fehlende Gesetzeskraft des Führererlasses.

[...]


[1] Vgl. Bastian, Furchtbare Ärzte, 22.

[2] Vgl. Nowak, Drittes Reich, 26.

[3] Vgl. Schmiedebach, Historische Anmerkungen, 40.

[4] Bei Bastian, Furchtbare Ärzte, 22, auch Adam Jost genannt.

[5] Vgl. die ausführliche Darstellung der Entwicklungslinien des Sozialdarwinismus bei Nowak, Drittes Reich, 11-27.

[6] Vgl. Nowak, Drittes Reich, 45.

[7] Vgl. Schmiedebach, Historische Anmerkungen, 46.

[8] Walter, Heiligkeit, 15.

[9] Walter, Heiligkeit, 126.

[10] Kaiser/Nowak/Schwartz, Eugenik, 40. Während die Arbeit insgesamt den neuen Rechtschreiberegeln folgt, wird innerhalb der Zitate aus Dokumenten und Sekundärliteratur die alte Rechtschreibung beibehalten.

[11] Ders., 125.

[12] Vgl. Klee, NS-Staat, 19f.

[13] Vgl. Zimmermann, Geschichte, 39.

[14] Vgl. Klee, NS-Staat, 20. Dort auch andeutungsweise die Verbindung des Rechtspositivismus mit der paulinischen Lehre in Röm 13.

[15] Binding/Hoche, Freigabe, 1.

[16] Vgl. Nowak, Drittes Reich, 49.

[17] Vgl. Schmidt, Knauer Kind, 134.

[18] Binding/Hoche, Freigabe, 5.

[19] Dies., 7.

[20] Dies., 17.

[21] Dies., 18.

[22] Dies., 19. Zu der juristisch nicht unbedeutenden Einschätzung Bindings, bei einer Euthanasie, so wie er sie beschreibt, handle es sich um eine unverbotene Handlung, meint Nowak lapidar: „Sie war es weder im Jahre 1920 noch ist sie es heute.“ Er wundert sich über diesen Irrtum eines solch bedeutenden Rechtsgelehrten, vgl. Nowak, Drittes Reich, 50. Insgesamt soll im Rahmen dieser Arbeit im Regelfall nicht auf juristische Spitzfindigkeiten eingegangen werden, die in Schriften wie dieser zu finden sind und allgemein als diskussionswürdig erachtet werden.

[23] Es ist schon erstaunlich, wie einfach die Euthanasie in den Kreis der therapeutischen Methoden Aufnahme findet.

[24] Binding/Hoche, Freigabe, 27.

[25] A. a. O.

[26] Darüber hinaus verweisen mehrere Fußnoten auf einen Bezug zu der Schrift Josts, so auf den Seiten 5, 8, 27, 39 im Binding-Teil des Buches.

[27] Binding/Hoche, Freigabe, 28.

[28] Dies., 29.

[29] Vgl. Binding/Hoche, Freigabe, 30. Die Berücksichtigung von Minderjährigen ist in bezug auf die aktuelle niederländische Gesetzgebung nicht ohne Bedeutung, s. unter III 3.3. und 4.6.

[30] Dies., 31.

[31] „Die Schreie der ‘unheilbar Blödsinnigen’, die im Zuge der ‘Aktion Gnadentod’ in die Omnibusse der ‚Gemeinnützigen Kranken-Transport GmbH’ gezerrt und in die Vernichtungsanstalten abtransportiert wurden, hätten Binding, wären sie ihm zu Ohren gekommen, an diesem Punkte eines Besseren belehrt.“ (Nowak, Drittes Reich, 51).

[32] Binding/Hoche, Freigabe, 31.

[33] Dies., Freigabe, 32.

[34] Dies., 33.

[35] Dies., 34.

[36] Binding/Hoche, Freigabe, 36f.

[37] Dies., 41. Walter bemerkt zu der King Lear-Analogie: „Hier fehlt jede Parallele zur Vernichtung des Lebens Nicht das Sterben erscheint als qualvoll, sondern höchstens der Versuch, das entfliehende Leben aufzuhalten. Von Tötung ist nicht die Rede, sondern nur vom passiven Verhalten gegenüber dem natürlichen Verlauf, wie es gerade die Gegner der Euthanasie befürworten. (Walter, Heiligkeit, 61).

[38] A. a. O.

[39] Insgesamt gibt es viele Punkte in Bindings Thesen, die einer Kritik bedürften. Im Rahmen dieser Arbeit können jedoch nur vereinzelt in den Fußnoten kritische Anmerkungen zu Binding ihren Platz finden. Das Gleiche gilt für die Aussagen Hoches. Vornehmlich soll es um eine anschauliche Darstellung der Lehre Bindings und Hoches gehen, insofern sie den Grundstock späterer Euthanasiepraxis bildet.

[40] Binding/Hoche, Freigabe, 45.

[41] Dies., 46.

[42] Binding/Hoche, Freigabe, 49.

[43] Binding ist der Erste, der den Begriff des „lebensunwerten Lebens“ explizit gebraucht. Dieser erfährt eine breite Rezeption, so dass er in späterer Zeit als terminus technicus angesehen werden kann.

[44] Binding/Hoche, Freigabe, 51.

[45] Vgl. dies., 52f.

[46] Vgl. a. a. O.

[47] Binding/Hoche, Freigabe, 55, Hervorhebungen von mir. Zu Recht bezeichnet Alice Platen-Hallermund den Begriff von der „Menschenhülse“ als „Fiktion des biologischen Utilitarismus“ (Platen-Hallermund, Tötung , 8).

[48] Wunder, Medizin und Gewissen, 256.

[49] Binding/Hoche, Freigabe, 57.

[50] Dies., 61.

[51] S. II 3.

[52] Vgl. Klee, NS-Staat, 25.

[53] Vgl. Nowak, Drittes Reich, 55.

[54] Vgl. Nowak, Drittes Reich, 55.

[55] A. a. O.

[56] Kaiser/Nowak/Schwartz, Eugenik, 83. Dort auch der vollständige Text des Fragebogens.

[57] Vgl. a. a. O.

[58] Dies., 85.

[59] A. a. O.

[60] Kaiser/Nowak/Schwartz, Eugenik, 89.

[61] Walter, Heiligkeit, 577. Am Ende des Zitats spielt der Autor auf den von Jost und Binding propagierten Nullwert des Lebens an.

[62] Ders., 275.

[63] Vgl. ders., 260.

[64] Vgl. ders., 273.

[65] Binding/Hoche, Freigabe, 37.

[66] Vgl. Frewer, Euthanasie-Debatte, 97f.

[67] Frewer, Euthanasie-Debatte, 98. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass dieser sogenannte christliche Standpunkt aus den dreißiger Jahren weit über das hinausgeht, was an späterer Stelle in dieser Arbeit als niederländisches Euthanasiegesetz problematisiert werden wird. Selbst im liberalen Holland schließt Sterbehilfe bis dato immer die Situation des Sterbens ein.

[68] A. a. O.

[69] Nowak, Drittes Reich, 59.

[70] Ders., 58.

[71] Nowak, Drittes Reich, 61.

[72] Vgl. Freimüller, Operation, 34.

[73] Vgl. Proctor, Naziärzte, 69.

[74] Hanauske-Abel, Beziehung, 58.

[75] Vgl. ders., 58f.

[76] Kaiser/Nowak/Schwartz, Eugenik, 126.

[77] Vgl. Stauber, Frauenheilkunde, 200.

[78] Kaiser/Nowak/Schwartz, Eugenik, 129.

[79] Vgl. Meyer, Psychiatrie, 45.

[80] Kaiser/Nowak/Schwartz, Eugenik, 130ff.

[81] Vgl. Schmelter, Schloss Werneck, 36.

[82] Vgl. Meyer, Psychiatrie, 45.

[83] Vgl. Kaiser/Nowak/Schwartz, Eugenik, 132.

[84] Vgl. Proctor, Naziärzte, 71.

[85] Blasius, Psychiatrie, 81.

[86] Vgl. Proctor, Naziärzte, 71.

[87] Vgl. Stauber, Frauenheilkunde, 195.

[88] Klee, Dokumente, 52f.

[89] Hanauske-Abel, Beziehung, 59.

[90] Stauber, Frauenheilkunde, 201.

[91] Vgl. Bastian, Furchtbare Ärzte, 46f.

[92] Vgl. Platen-Hallermund, Tötung, 33.

[93] S. unter II 7.1.3.

[94] Vgl. Klee, NS-Staat, 78.

[95] Vgl. Freimüller, Operation, 33.

[96] Vgl. Schmidt, “Knauer Kind”, 125f.

[97] Schmidt, “Knauer Kind”, 129. Bei Schmidt, 127ff., kann man sich einen genaueren Überblick über die Hintergründe, Machtkämpfe und Personalentscheidungen bezüglich dieser Vorgänge verschaffen und die Chronologie der Ereignisse, die zum Start der Euthanasie an behinderten Kindern geführt haben, ganz konkret nachvollziehen.

[98] Vgl. Klee, NS-Staat, 79f.

[99] Vgl. Dahl, Kinder-“Euthanasie”, 145.

[100] Vgl. Kaiser/Nowak/Schwartz, Eugenik, 236.

[101] Vgl. Klee, NS-Staat, 295.

[102] A. a. O.

[103] Vgl. Kaiser/Nowak/Schwartz, 241f.

[104] Vgl. Klee, NS-Staat, 300.

[105] Vgl. Dahl, Kinder-“Euthanasie”, 148.

[106] Bezeichnendes Beispiel für dieses Faktum die Krankengeschichte des elfjährigen Willibald aus Wien bei Dahl, Kinder-“Euthanasie”, 152.

[107] Vgl. Winau, Historische Fakten, 27.

[108] Im Kontext der Euthanasie ab 1942 wurden Kinder zusammen mit den Erwachsenen ebenfalls routinemäßig durch Vergasung getötet. Altersunterschiede spielten in den letzten Jahren vor Kriegsende keine Rolle mehr.

[109] Vgl. Faulstich, Zahl der Opfer, 219.

[110] Vgl. Dahl, Kinder-“Euthanasie”, 153.

[111] Vgl. die Fälle Rettig und Zey bei Platen-Hallermund, Tötung, 52ff.

[112] Klee, NS-Staat, 88.

[113] Vgl. Meyer, Psychiatrie, 48f.

[114] Nowak, Widerstand, 248.

[115] Vgl. Dahl, Kinder-„Euthanasie“, 153f.

[116] Vgl. Meyer, Psychiatrie, 49.

[117] Vgl. Winau, Historische Fakten, 27.

[118] Nowak, Widerstand, 248.

[119] Vgl. Dahl, Kinder-“Euthanasie”, 153.

[120] Vgl. Nowak, Widerstand, 249.

[121] Vgl. Klee, NS-Staat, 52.

[122] Ders., Dokumente, 61.

[123] S. 1.3.2.

[124] Freimüller, Operation, 22.

[125] Platen-Hallermund, Tötung, 18.

Ende der Leseprobe aus 134 Seiten

Details

Titel
Medizin und Gewissen - historische, systematische und aktuelle Perspektiven im Hinblick auf die Euthanasiegesetzgebung
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Katholisch-Theologische Fakultät)
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
134
Katalognummer
V18303
ISBN (eBook)
9783638226776
Dateigröße
1037 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Medizin, Gewissen, Perspektiven, Hinblick, Euthanasiegesetzgebung
Arbeit zitieren
Christoph Heinzen (Autor:in), 2003, Medizin und Gewissen - historische, systematische und aktuelle Perspektiven im Hinblick auf die Euthanasiegesetzgebung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18303

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