Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Schriftlichkeit und Mündlichkeit
1.1 Nähesprachlich geprägte Schreibkompetenz
1.2 Zeugnisse der gesprochenen Sprache in der Geschichte
2. Die Besonderheiten der Texte von semiculto -Autoren
2.1 Die kolonialhistorische Geschichtsschreibung
2.2 Das Ideal der Schriftlichkeit und der Schreibprozess
2.3 Die Diskurstraditionen einer relación im 16. Jahrhundert
2.4 Der Begriff des semiculto -Autors
3. Textanalyse: Die r elación von Andrés de Tapia
3.1 Über den Autor und sein Werk
3.2 Untersuchung der relación auf nähesprachlich geprägte Merkmale
3.2.1 Textpragmatische Merkmale
3.2.2 Syntaktische Merkmale
3.2.3 Semantische Merkmale
3.2.4 Morphologische Merkmale
Resumen
Bibliographie
Einleitung
Die Rekonstruktion der gesprochenen Sprache der letzten Jahrhunderte stellt seit einiger Zeit ein sehr interessantes und umfangreiches Forschungsgebiet dar, weil sie in der diachronen Sprachbetrachtung über lange Zeit vernachlässigt wurde. Schon alleine aus dem Grund, dass wir heutzutage keine mündlichen Quellen für gesprochene Sprache in der Geschichte besitzen, wurde bis weit ins 20. Jahrhundert nur der Stand der geschriebenen Sprache untersucht.[1]
Auf diese Weise stellte sich den Sprachwissenschaftlern zum Ende des 20 Jahrhunderts eine neue Herausforderung, und zwar die, nach authentischen Zeugnissen der Mündlichkeit in der Geschichte zu suchen. So entstand beispielsweise 1991 das Teilprojekt B9 ‚Nähesprachlich geprägtes Schreiben in der Kolonialhistoriographie Hispanoamerikas (1500-1615)’ im Freiburger Sonderforschungsbereich 321 ‚Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit’. Unter der Leitung von Professor Wulf Oesterreicher wurden so zwischen 1991 und 1996 nicht-literarische Texte zur Entdeckung und Kolonialisierung der Neuen Welt auf nähesprachlich geprägte Merkmale untersucht, um so ein Bild des gesprochenen Spanisch zwischen 1500 und 1615 zu formen. Im Mittelpunkt der Analyse standen die Werke von semiculto -Autoren. Zu beachten ist hier, dass diese nicht aufgrund ihrer meist sogar eher geringen historiographischen Informationen von Interesse waren, sondern aufgrund ihres nähesprachlich geprägten Schreibstils.[2]
Das Ziel dieser Arbeit ist es, dem Beispiel des Teilprojektes B9 folgend, den Stand des gesprochenen Spanisch (‚ coloquial’) zur Mitte des 16. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Hierzu soll die ‚Relación de algunas cosas de las que acaecieron al Muy Ilustre Señor Don Hernando Cortés, Marques del Valle, desde que se determinó ir á descubrir tierra en la Tierra Firme del Mar Océano’ von Andrés de Tapia, einem semiculto -Autor, auf sprachliche sowie textpragmatische Merkmale des gesprochenen Spanisch untersucht werden.
Vorab sollen jedoch in Kapitel 1 und 2 einige Hintergrundinformationen gegeben werden, die für das weitere Verständnis dieser Arbeit von großer Bedeutung sind. So wird zunächst das von Wulf Oesterreicher sowie Peter Koch entwickelte Modell einer Nähe- und Distanzsprache erläutert. Hier wird festgestellt, dass die von Oesterreicher und Koch so bezeichnete Nähesprache auch unter der Bedingung, dass sie verschriftlicht wird, der gesprochenen Sprache entspricht. Gegeben dieser Voraussetzung kann man sich also auf die Suche nach geeigneten Quelltexten zur diachronen Analyse der gesprochenen Sprache begeben. Dieses stellt allerdings insofern eine Herausforderung dar, als dass die Mehrheit der heute noch erhaltenen historischen Texte literarischer Art sind, die nähesprachlich geprägten Texte hingegen bis auf wenige Ausnahmen nicht-literarischer Art sind.[3] In Kapitel 1.2 dieser Arbeit werden wir dann sehen, dass uns dennoch eine Reihe von Möglichkeiten bleiben, die gesprochene Sprache der vergangenen Jahrhunderte anhand nicht-mündlicher, also dementsprechend anhand graphischer Quellen zu analysieren.
In Kapitel 2 werden als erstes die Besonderheiten der kolonialhistorischen Geschichtsschreibung dargestellt, die die Voraussetzung für das Entstehen von semiculto -Werken bilden. Daraufhin werden in Kapitel 2.2 sowie 2.3 das Ideal der Schriftlichkeit und die Diskurstraditionen der damaligen Zeit erläutert, um so im nächsten Kapitel die semiculto -Autoren von den für uns uninteressanten gebildeten Autoren abgrenzen zu können.
In Kapitel 3 werden zunächst Hintergrundinformationen zu dem semiculto -Autor Andrés de Tapia und zu seinem Werk gegeben und im folgenden Teil wird mit der Analyse der nähesprachlich geprägten Merkmale in de Tapias relación begonnen.
1. Schriftlichkeit und Mündlichkeit
1.1 Nähesprachlich geprägte Schreibkompetenz
Anhand des Modells der Nähe- und Distanzsprache von Peter Koch und Wulf Oesterreicher[4] sollen in diesem Kapitel die Termini ‚Schriftlichkeit’ und ‚Mündlichkeit’ erläutert und voneinander abgegrenzt werden. So wird für den weiteren Verlauf dieser Arbeit verdeutlicht, was damit gemeint ist, dass Texte von semiculto -Autoren ‚Spuren von Mündlichkeit’ oder eine nähesprachlich geprägte Schreibkompetenz’ aufweisen.
Vorab sollte geklärt werden, welche Schwierigkeiten bzw. Widersprüche die Begriffe ‚Schriftlichkeit’ und ‚Mündlichkeit’ mit sich bringen. Angelehnt an Ludwig Söll[5] wird folgendes Schema angeführt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wenn man die letztgenannten Termini in Verbindung mit dem Medium ‚graphischer Kode’ und ‚phonischer Kode’ bringt, ist ersichtlich, dass deutliche Affinitäten zwischen den Begriffe ‚gesprochen’ und ‚phonisch’ (so z.B. ein Interview) sowie zwischen den Begriffe ‚geschrieben’ und ‚graphisch’ (z.B. ein Buch) bestehen.
Jedoch sind diese Verbindungen nicht obligatorisch. So könnte man ein Interview auch protokollieren und durch einen graphischen Kode realisieren. Umgekehrt kann man auch ein Buch phonisch realisieren, indem man es vorliest.
Wenn man die zwei Begriffe ‚gesprochen’ und ‚geschrieben’ einmal ohne das Medium betrachtet, wird deutlich, dass sie nicht nur die Bedeutungen ‚ausgesprochen’ (phonisch) sowie ‚ausgeschrieben’ (graphisch) besitzen, sondern dass ‚gesprochen’ sich auf eine mündliche Sprache bzw. Umgangssprache bezieht. Dahingegen spiegelt ‚geschrieben’ eine Schriftsprache wider, in der durch diverse Regeln vorgegeben ist, wie man zu schreiben hat. Ludwig Söll führt hierzu das französische Beispiel an, dass die gesprochene Äußerung ‚faut pas le dire’ (sp. ‚ ¡ decirme la verdad!’) im Geschriebenen der Äußerung ‚il ne faut pas le dire’ (sp. ‚ ¡ decidme la verdad!’) entspricht.
Von großer Bedeutung ist, dass die Termini ‚graphisch’ und ‚phonisch’ eine Dichotomie bilden, da eine Äußerung zu einem bestimmten Zeitpunkt nur entweder phonisch oder graphisch realisiert werden kann. Aus diesem Grund sind diese zwei Bereiche in Abbildung 1 durch eine durchgezogene Linie voneinander getrennt.
Man kann auch erkennen, dass dahingegen die Konzeption ‚gesprochen’ bzw. ‚geschrieben’ nur durch eine gestrichelte Linie getrennt ist. Dies ist dadurch zu erklären, dass die beiden Termini ein Kontinuum zueinander bilden, also sozusagen zwei Endpunkte darstellen, zwischen denen es mehrere Abstufungen gibt. Als Bespiel sei an dieser Stelle nur genannt, dass ein Interview entweder sehr formal gehalten werden kann (z.B. mit Politikern) und sich so eher dem Pol ‚geschrieben’ annähert oder auch sehr vertraut in einer Art Umgangssprache ablaufen kann und sich dementsprechend dem Pol ‚gesprochen’ nähert.
Noch genauer wird diese Erkenntnis, wenn man das bisherige Modell, Koch und Oesterreicher folgend, um Kommunikationsbedingungen sowie Versprach-lichungsstrategien erweitert:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Der Pol ‚gesprochen’ vereint Kommunikationsbedingungen wie Privatheit, Vertrautheit der Partner, Emotionalität, physische Nähe, etc. und kann deshalb auch als ‚Sprache der Nähe’ bezeichnet werden. Der andere Pol hingegen ‚Sprache der Distanz’ vereint die gegensätzlichen Kommunikationsbedingungen wie Öffentlichkeit, Fremdheit der Partner, keine Emotionalität und physische Distanz. Zwischen diesen beiden extremen Endpunkten gibt es reichlich Raum für graduelle Abstufungen und Mischformen.
Passendere Beispiele als die kürzlich genannten wären für dieses Modell a = vertrautes Gespräch (Bereich A: phonisch + Sprache der Nähe), b = Privatbrief (Bereich B: graphisch + Sprache der Nähe), c = Vortrag (Bereich C: phonisch + Sprache der Distanz) und d = Verwaltungsvorschrift (Bereich D: graphisch + Sprache der Distanz).
Die Reaktionen der Kommunikationssubjekte auf die unterschiedliche Positionierung innerhalb dieses Kontinuums werden in Abbildung 2 durch die Versprachlichungs-strategien dargestellt. So z.B. wäre ein vertrautes Gespräch unter Freunden verbunden mit Vorläufigkeit, geringem Planungsaufwand, etc. Außerdem ist eindeutig, dass es vielmehr störend wäre, wenn die genannten Gesprächspartner ihre Konversation beispielsweise mit einem hohen Planungsaufwand verbinden würden.
Zusammenfassend ist der wichtigste Punkt in diesem Kapitel, dass Texte, die sich im Bereich B befinden, zwar graphisch realisiert sind, aber dennoch der gesprochenen Sprache entsprechen und sie demzufolge eine nähesprachlich geprägte Schreibkompe-tenz aufweisen. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll dementsprechend der Begriff ‚Nähesprache’ verwendet werden, der äquivalent zu den Begriffen ‚mündlich’ oder ‚Umgangssprache’ (im Spanischen ‚ coloquial’) ist.
1.2 Zeugnisse der gesprochenen Sprache in der Geschichte
Bevor wir mit der Analyse des gesprochenen Spanisch im 16. Jahrhundert anhand eines Quelltextes eines semiculto -Autors beginnen, sollte zunächst geklärt werden, warum gerade dieser für die Analyse in dieser Arbeit bevorzugt wird und welche Quellen uns außerdem zur Verfügung stehen.
Ein großes Problem bei der adäquaten Quellenfindung, das uns allen einleuchten sollte, ist die Tatsache, dass es heutzutage keine phonischen Quellen der damaligen Zeit gibt. So gibt es heute weder lebendige Sprecher noch Tonaufnahmen, da einerseits diese Menschen schon seit hunderten von Jahren tot sind und es andererseits noch keine Geräte gab, um die Sprache festzuhalten.
[...]
[1] Vgl. Koch/Oesterreicher (1985: 25)
[2] Vgl. Oesterreicher (1998: 211-222), Oesterreicher (1996: 151-153), Oesterreicher (1994a: 155)
[3] Vgl. Cano Aguilar (1996: 376)
[4] Vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen Koch/Oesterreicher (1985: 15-24), Koch/Oesterreicher (1990: 5-12) und Koch (2003: 102-105)
[5] Vgl. Söll (1980: 11-29)