Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitungmit Begriffsklärung
2. GeschichtlicherHintergrund
3. Von der Fürsorge zur Volkspflege
4. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt
5. Handlungsfelder Sozialer Arbeit
5.1 Der Umgang mit „Asozialen“
5.2 Behinderte und psychisch kranke Menschen
5.3 DieJugendwohlfahrt
5.4 Hitlerjugend (HJ) und Bund Deutscher Mädel (BDM)
5.5 Das Jugendstrafrecht
6. Die Entwicklung sozialer Berufe
7. Widerstände
8. Fazitund Ausblick
9. Literaturverzeichnis
10. Links
1. Einleitung mit Begriffsklärung
„Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 beginnt eine Epoche, in der alle bisherigen Reformbewegungen der Sozialen Arbeit zunichte gemacht wurden, und das Fürsorge- bzw. Wohlfahrtswesen unter der Vorherrschaft der Nationalsozialisten vereinheitlicht bzw. im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie instrumentalisiert wurde.“ (Puch 10.04.2011, www.pantucek.de S.19)
Um das Thema zu diskutieren, wie sich Soziale Arbeit (SA) in den Jahren des Nationalsozialismus (die Zeit der Diktatur der Nationalsozialisten unter Hitler von 1933 bis 1945) entwickelt hat, müssen zunächst einige Begrifflichkeiten geklärt werden. Was ist SA und wie definiert sie sich? Laut der International Federation of Social Workers (IFSW) soll die heutige Profession Soziale Arbeit sozialen Wandel, Problemlösungen in zwischenmenschlichen Beziehungen und Befreiung von Menschen zur Verbesserung ihres Wohlbefindens fördern. Gestützt auf wissenschaftliche Kenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift SA überall dort ein, wo Menschen und ihre Umwelt aufeinander einwirken. Grundlage der SA sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit. (vgl. Schilling 2007, S.208). Betrachtet man diese Definition, wirkt die anfängliche erläuterte Thematik - grade in diesem Kontext - schlicht provokant. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird jedoch eine „neue Fürsorge“ definiert, die primär dem Nutzen der „Volksgemeinschaft“ und des „Volkskörpers“ zu dienen hat. (vgl. Engelke u.a. 2009, S.296). Im Folgenden wird dies am Beispiel einzelner Handlungsfelder dargestellt und auf die Entwicklung sozialer Berufe während der Diktatur eingegangen. Um den Sachverhalt möglichst komplex darzustellen, sind sowohl der geschichtliche Hintergrund, als auch Widerstände im Bereich der Sozialen Arbeit Inhalt dieser Hausarbeit.
Begriffe und Redewendungen, die der diskriminierenden und ausgrenzenden „Sprache des Dritten Reiches“ (Lingua tertii imperii)[1] entstammen oder in dem Zusammenhang eine andere Bedeutung haben, werden übernommen und in Anführungszeichen gesetzt.
2. Geschichtlicher Hintergrund
Soziale Arbeit gehört zu den Sozialwissenschaften und existiert bereits seit Jahrhunderten als Handlungswissenschaft. Sie basiert auf philosophischen, empirischen, normativen und rationalen Handlungstheorien. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse sollen uns dahingehend befähigen, Ist- Situationen zu erklären, Soll-Vorstellungen möglich zu machen und ein Verständnis für historische Prozesse und Zusammenhänge schaffen. (vgl. Engelke u.a. 2009, S.17) So viel zur Theorie; nun zur Situation in Deutschland um 1930. 1928 wurde im Zuge einer Bestandsaufnahme der Internationalen Konferenz fürWohlfahrtspflege undSozialpolitik in Paris deutlich, dass Deutschland bei öffentlichen und privaten Trägern der Fürsorge relativ weit entwickelt war. Seit der Bismarck 'sehen Gesetzgebung (Arbeitsgemeinschaft Jugend und Bildung e.V. 16.04.2011, www.sozialpolitik.com) existierte ein staatliches Sozialversicherungssystem und eine moderne Armenfürsorge. Die freien Träger schlossen sich in der Deutschen Liga für freie Wohlfahrtspflege zusammen und erreichten einen hohen Organisationsgrad mit starker Lobby. (vgl. Hering/Waaldijk 2002, S.118). Bereits 1922 trat mit dem Reichswohlfahrtsgesetz ein Vorläufer unseres heutigen Kinder- und Jugendhilferechts in Kraft. In diesem wurde nicht nur das Recht des Kindes auf eine wohlwollende Erziehung, sondern auch erste Maßnahmen der öffentlichen Jugendhilfe formuliert. Erziehungsberechtigte sollten nur ihren Rechten und Pflichten entbunden werden dürfen, wenn ein Gesetz dies erlaube. Konkret sah dieses Gesetz, welches bis auf wenige Änderungen bis 1961 galt, Möglichkeiten der Förderung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen wie Familienpflegschaften, Amtsvormundschaften oder finanzielle Unterstützung im Falle einer Hilfsbedürftigkeit vor. (vgl. Krause, M. 24.04.2011, www.forumjustizgeschichte.de S.2)
Nach 1929 stieg die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf 44% an, jüngst eingeführte Unterstützungskassen brachen unter dieser Last zusammen und die Verarmung erreichte weite Bevölkerungsgruppen des Landes. (vgl. Kuhlmann 2011, S.28) Von 1930 bis Juni 1932 sanken die Reallöhne um 18%, Steuern und Versicherungsbeiträge wurden zeitgleich erhöht. Viele Menschen gerieten in existenzielle Notlagen, so dass 1933 schließlich ein Fünftel der Bevölkerung von der öffentlichen Fürsorge lebte. (vgl. Kuhlmann 1989, S.26). Wie bereits in den zurückliegenden Jahrzehnten war auch im Nationalsozialismus Wohnraummangel - insbesondere in Städten - ein Problem. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise 1927 führten zu einer wachsenden Landflucht, viele Menschen zog es in Städte, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Da im Nationalsozialismus nur „würdige“ Bedürftige in den Genuss der Wohnungsfürsorge kamen, während die „Asozialen“ weggesperrt wurden, verringerte sich der Anteil der bedürftigen Klienten um einen beträchtlichen Teil. Unter „asozial“ wurden seinerzeit vielerlei „Schädlinge am Volkskörper“ verstanden, wie z.B. Arbeitsscheue, Betrüger oder Alkoholiker, „würdig“ war nur, wer nicht durch das strenge Raster des „sozialhygienischen Denkens“ fiel. (vgl. Hering/Münchmeier 2000, S.182ff) Nähere Ausführungen hierzu folgen.
Die wirtschaftliche und soziale Lage im Land um 1933 bildete einen optimalen Nährboden für die Propaganda der Nationalsozialisten. Mit zahlreichen Maßnahmen warb das Regime erfolgreich um die Zustimmung der Deutschen. Es reduzierte mit der Einführung des Reichsarbeitsdienstes (1935), durch den Aufbau der Rüstungsindustrie (auch Einführung der Wehrpflicht 1935) und der Entfernung der Frauen von Arbeitsplätzen die Arbeitslosigkeit und entfaltet eine wirtschaftliche Scheinblüte. Ein Kündigungsschutz wurde eingeführt und über die nationalsozialistische Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ wurden Angebote zur Urlaubs- und Freizeitgestaltung gemacht.
(vgl. Engelke u.a. 2009, S.183)
Zahlreiche soziale Berufe waren bereits mit Ende der Weimarer Republik weit entwickelt und Teil eines vielfältigen Ausbildungssystems. (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 25.04.2011, www.bpb.de) Der Erzieherinnenberuf[2] weist die längste geschichtliche Entwicklung auf, die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Um 1880 wurde die Ausbildung zur Jugendleiterin initiiert und lange Zeit als Zusatzqualifikation für berufserfahrene Kindergärtnerinnen angeboten. Ab 1893 etablierte sich der Beruf der Wohlfahrtspflegerin, der durch die Berliner Mädchen- und Frauengruppe für soziale Hilfsarbeit begründet wurde. Kindergärtnerin war bereits vor 1933 ein Beruf mit klar umrissenem Tätigkeitsbereich und seit 1939 existiert der Beruf der Kinderpflegerin in Deutschland. (vgl. Amthor 10.04.2011, www.kindergartenpädagogik.de)
3. Von der Fürsorge zur „Volkspflege“
Nach dem ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik ist das Deutsche Reich vor 1933 ein Wohlfahrtsstaat. Es existiert eine behördliche, rational organisierte öffentliche und eine organisierte private Fürsorge. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird die bereits genannte „neue Fürsorge“ formuliert, welche ausschließlich der „Volksgemeinschaft“ und dem „Volkskörper“ dienen darf. „Gemeinschaftsschädliche“, „Minderwertige“, „Unnütze“, „Krüppel“ und „geistig Gebrechliche“ erhalten keine Unterstützung mehr und werden liquidiert (Euthanasie)[3]. (vgl. Engelke u.a. 2009, S.184) Die Menschen werden auf einer Werteskala zwischen „unwert“ und „wertvoll“, bzw. „minderwertig“ und „vollwertig“ eingestuft und zu Objekten von „Maßnahmen“ gemacht. (vgl. Kappeler 2000, S.21ff) Die „Endlösung“ der sozialen Problematik soll durch eine richtige „Gesundheitsvorsorge“ geschehen, so wurde bereits 1933 ein „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses,, verabschiedet, welches die Zwangssterilisierung von Menschen mit „minderwertigen Erbanlagen“, wie z.B. Trinker, Prostituierte oder Straftäter zur Folge hatte. Aus der Wohlfahrtsschule wurde die „Volkspflegeschule“, wo neue Fächer wie „Rassenhygiene“ und „Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung“ gelehrt wurden. (vgl. Kuhlmann 2011, S.30) Prinzipiell steuerte der Nationalsozialismus von seiner Ideologie her das Ziel an, Soziale Arbeit überflüssig zu machen. Sobald die „Volksgemeinschaft“ die „schädlichen Elemente“ - nach den Lehren der Rassenbiologie und der Vererbungslehre - weitgehend isoliert hatte, würde sie gesunden und keine „Lebensunwerten“ Individuen mehr produzieren. Es wurden zahlreiche Einrichtungen zur Begutachtung und Auslese der Schwachen errichtet. Soziale Arbeit sollte hinfällig werden und nur noch im Gesundheitswesen wichtig und brauchbar sein, um sozialhygienische Aufgaben im Bereich der „Erbgesundheitspflege“ zu verrichten. Die Gesundheitsfürsorge wurde in der NS-Zeit völlig verstaatlicht. Das Interesse am Einzelnen erlosch, es zählte einzig das Wohl des „Volkskörpers“. (vgl. Hering/Münchmeier2000, S.166ff).
4. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV)
Unmittelbar nach der Machtübernahme begannen die Nationalsozialisten, Einrichtungen der privaten Wohlfahrt (z.B. Arbeiterwohlfahrt) zu unterdrücken oder zu verbieten. Zum beherrschenden Wohlfahrtsverband wurde die NSV, die ab 1933 als Teil der Parteiorganisation anerkannt wurde und die Grundsätze der Erb- und Rassenpflege - mit dem Ziel einen neuen, nationalsozialistischen Menschen zu produzieren - umsetzen sollte. In ihren Statuten kommt ihr Selbstverständnis zum Ausdruck: „Die NSV ist Trägerin und Mittelpunkt der völkischen Wohlfahrtspflege. Ihr Ziel ist es, die erbgesunde, einer Förderung würdige und bedürftige deutsche Familie und deutsche Jugend zu betreuen und damit an ihrem Teil den Bestand und die Aufartung des deutschen Volkes sicherzustellen.“ (vgl. Puch 10.04.2011, www.pantucek.de S.20) Bis 1935 hatte sich die NSV soweit im Deutschen Reich ausgebreitet[4], dass sie fast den gesamten Bereich der vorbeugenden Jugendhilfe - inklusive aller Aufgaben der Jugendämter, die vorher in konfessioneller Hand waren - übernommen hat. (vgl. Kuhlmann 1989 S.173ff) Bis 1941 gab es ca. 1500 Kindertagesstätten der NSV in Deutschland. (vgl. Hering/Münchmeier 2000, S.176) Außerdem führte die NSV Sammlungen für „Erbgesunde“ durch und trieb - oft unfreiwillig gegebene -„Spenden“ für „wertvolle“ Hilfsbedürftige ein. Mütter wurden dahingehend beraten, eine „nationalsozialistische Säuglingspflege“ zu betreiben (z.B. durch einen kinderfeindlichen 4- Stunden- Stillrhythmus, der an Gehorsam gewöhnen sollte) oder im Sinne der „Erholungsfürsorge“ mit ihren Kindern aufs Land „verschickt“. (vgl. Kuhlmann 2011, S.30)
5. HandlungsfelderSozialer Arbeit
5.1 Der Umgang mit „Asozialen“
Asozial (gemeinschaftsunfähig) im Sinne der Nationalsozialisten waren nicht nur die Straffälligen, sondern auch jene Menschen, die - ohne straffällig zu werden - als Schmarotzer an der Gesamtheit anzusehen waren. Darunter fielen auch „arbeitsscheue Elemente“ und „politische Untermenschen“, die sich dadurch auszeichneten, dass sie von der Fürsorge lebten. (vgl. Schmitz- Berling 25.04.2011, www.books.google.de S.263) Zunächst wurden die „Asozialen“ (auch:
Nichtsesshafte, Prostituierte, Trunksüchtige, Bettler,u.a.) im Rahmen einer „ausgrenzenden Fürsorge“ in Arbeitshäuser, später zeitweise in Konzentrationslager oder in „Lager für geschlossene Fürsorge“ eingewiesen. Ab 1938 waren sie nicht mehr den Fürsorgeämtern, sondern direkt der Kriminalpolizei und Gestapo[5] unterstellt und somit von Unterstützungsleistungen ausgenommen. Ein „Gemeinschaftsfremdengesetz“ war in Planung, welches erlauben sollte, die nicht „Gemeinschaftsfähigen“ dauerhaft zu Zwangsarbeit zu verurteilen. Letztendlich ist davon auszugehen, dass die „Asozialen“, ebenso wie Behinderte und Juden, zur Vergasung in Vernichtungslagern vorgesehen waren. (vgl. Kuhlmann 2011, S.32) Das familiäre
Rollenverständnis der damaligen Zeit, insbesondere das der Nationalsozialisten, wird in folgendem Zitat aus der Deutschen Zeitschrift für Wohlfahrtspflege 1937/38 deutlich: „ Geht man den Gründen für das Absinken einer asozialen Familie nach, so ist nicht selten die Frau Schuld daran; ist sie unwirtschaftlich, unmoralisch, leichtsinnig, verantwortungslos, so wird auch ein gutartiger Familienvater arbeitsunlustig und hemmungslos.“ (vgl. Hering/Münchmeier 2000, S.161)
5.2 Behinderte und psychisch kranke Menschen
„Die Forderung, daß defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen unmöglich gemacht wird, ist eine Forderung klarster Vernunft und bedeutet in ihrer planmäßigen Durchführung die humanste TatderMenschheit.“ [6]
Psychisch Kranke und behinderte Menschen waren als sogenannte „Ballastexistenzen“ das Hauptangriffsziel der nationalsozialistischen Propaganda. Mehr als 400 000 Menschen wurden während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland zwangssterilisiert. Zwischen 1940 und 1945 wurden ca. 300 000 psychisch Kranke und behinderte Menschen umgebracht. (Euthanasie). (vgl. Universitätsklinikum Rostock 24.04.2011, www.med.uni-rostock.de) Trotz versuchter Geheimhaltung der Morde kam es zu öffentlichen Protesten von Angehörigen und der Kirchen, woraufhin die „offiziellen Mordaktionen“ eingestellt, und zu „wilder Euthanasie“ durch Giftspritzen übergegangen wurde. Zudem starben viele behinderte und psychisch Kranke an Unterernährung, da man sie absichtlich verhungern ließ. (vgl. Kuhlmann 2011, S.32)
[...]
[1] vgl. Kappeler, M. 2002 S.21
[2] Aufgrund des quasi nicht existenten Anteils männlicher Personen im Bereich der SA in den Jahren ab 1933 wird im Folgenden die weibliche Form verwandt.
[3] Aktive Tötung eines nicht Sterbenden, sondern Kranken, auch ohne seine Einwilligung (vgl. Schmitz-Berling www.google.books.de 25.04.2011 S.216)
[4] 12 Millionen Mitglieder im Jahre 1939 (vgl. Puch 10.04.2011 www.pantucek.de)
[5] Gestapo: AbkürzungfürGeheimeStaatspolizei (vgl. Schmitz-Berling25.04.2011 www.books.google.de S.258)
[6] Zitat aus Hitlers „Mein Kampf“, gelesen in Otto 1989