Alkoholabhängigkeit. Community Reinforcement Approach als Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit


Diplomarbeit, 2011

163 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Alkoholabhängigkeit
2.1 Das Phänomen der Alkoholabhängigkeit
2.1.1 Geschichte der Alkoholabhängigkeit als Krankheit
2.1.2 Begriffsbestimmungen: Abhängigkeit - Missbrauch - Sucht
2.2 Epidemiologie der Alkoholabhängigkeit
2.3 Ätiologie der Alkoholabhängigkeit
2.3.1 Das sozialwissenschaftliche Erklärungsmodell
2.3.2 Die psychologischen Erklärungsmodelle
2.3.3 Das (neuro-)biologische Erklärungsmodell
2.3.4 Das biopsychosoziale Erklärungsmodell
2.4 Folgeschäden der Alkoholabhängigkeit
2.4.1 Psychische Folgeschäden
2.4.2 Soziale Folgeschäden
2.4.3 Physische Folgeschäden
2.5 Behandlung der Alkoholabhängigkeit
2.5.1 Behandlungsphasen
2.5.2 Suchthilfesystem
2.5.3 Prinzipien und Ziele der Behandlung
2.5.4 Therapieansätze in der Behandlung alkoholabhängiger Menschen

3 Soziale Arbeit in der Behandlung alkoholabhängiger Menschen
3.1 Das Profil der Sozialen Arbeit in der Behandlung alkoholabhängiger Menschen
3.1.1 Soziale Arbeit im Suchthilfesystem
3.1.2 Klinische Sozialarbeit
3.2 Aufgaben der Sozialen Arbeit im Suchthilfesystem
3.2.1 Soziale Arbeit in der Sucht- und Drogenberatungsstelle (Kontaktphase)
3.2.2 Soziale Arbeit in der Entzugsbehandlung
3.2.3 Soziale Arbeit in der Entwöhnungsbehandlung
3.2.4 Soziale Arbeit in der Nachsorge
3.3 Relevante Konzepte und Methoden der Sozialen Arbeit in der Behandlung alkoholabhängiger Menschen
3.3.1 Die drei klassischen Methoden
3.3.2 Lebensweltorientierung
3.3.3 Case Management
3.3.4 Empowerment
3.3.5 Beratung

4 Der therapeutische Ansatz des Community Reinforcement Approach
4.1 Was ist der Community Reinforcement Approach?
4.1.1 Assessment
4.1.2 Abstinenz-Konto
4.2 Behandlung nach dem Community Reinforcement Approach
4.2.1 Medikamentöse Behandlung
4.2.2 Behandlungsplan
4.2.3 Skills Training
4.3 Spezielle Bereiche in der Behandlung nach dem Community Reinforcement Approach
4.3.1 Rückfallprävention
4.3.2 Paartherapie
4.3.3 Arbeitsberatung
4.3.4 Beratung im sozialen und Freizeitbereich

5 Der Community Reinforcement Approach als Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit
5.1 Die Schnittmenge des Community Reinforcement Approach und der Sozialen Arbeit
5.1.1 Community Reinforcement Approach und Lebensweltorientierung
5.1.2 Community Reinforcement Approach und Case Management
5.1.3 Community Reinforcement Approach und Empowerment
5.1.4 Community Reinforcement Approach und Beratung
5.2 Die Verortung der Sozialen Arbeit im Community Reinforcement Approach
5.3 Die Aufgaben der Sozialen Arbeit in der Behandlung alkoholabhängiger Menschen nach dem Community Reinforcement Approach

6 Fazit und Ausblick

7 Literatur- und Quellenverzeichnis

8 Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit betritt das weite Feld der Behandlung einer Alkoholabhängigkeit[1]. Die Frage, ab wann der Genuss von Alkohol zu einer behandlungsbedürftigen Krankheit wird, stellt sich nicht nur dem einen oder anderen Konsumenten[2], sondern auch vielen Fachleuten. Die damalige Drogenbeauftragte der Bundesregierung Sabine Bätzing schildert im Drogen- und Suchtbericht 2009, dass sich die Krankheit der Alkoholabhängigkeit über mehr als zehn Jahre „..vom riskanten Konsum alkoholischer Getränke über den schädlichen Konsum hin zu einer manifesten Abhängigkeit“ (Bätzing 2009, S. 46) entwickeln kann. Aufgrund erheblicher Verträglichkeitsunterschiede zwischen den Konsumenten ist es nicht nur eine Frage der konsumierten Menge, ob eine Alkoholabhängigkeit entsteht. Mit der Menge des Alkohols steigt jedoch das individuelle Risiko, alkoholbedingt zu erkranken sowie für sich und Andere physischen, psychischen und sozialen Schaden zu verursachen. Die Einstellung in der Bevölkerung zum Thema Alkohol ist ambivalent. Viele Menschen wissen wenig über das Phänomen der Alkoholabhängigkeit und können „... sich gar nicht vorstellen, dass die beruflich und gesellschaftlich anerkannten und erfolgreichen Konsumenten legaler Drogen an einer ernstzunehmenden Krankheit oder Störung leiden sollen“ (Trost 2002, S. 278). Das Thema wird unter den Konsumenten nicht ernst genug genommen, wodurch bis zu einer effektiven Behandlung oft viele Jahre vergehen.

In der Fachwelt wird die Thematik der Alkoholabhängigkeit seit einigen Jahrzehnten umfassend untersucht und ausführlich dokumentiert. Die vorliegende Diplomarbeit fügt hier einen neuen und aktuellen Baustein ein: Das aus den USA stammende verhaltenstherapeutische Konzept des Community Reinforcement Approach zur Behandlung alkoholabhängiger Menschen wird als Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit im deutschen Suchthilfesystem beleuchtet.

Hierbei wird das Konzept des Community Reinforcement Approach, das erst seit wenigen Jahren vereinzelt im bestehenden komplexen Suchthilfesystem in Deutschland umgesetzt wird, mit der Sozialen Arbeit im multiprofessionellen Team eben dieses Systems verknüpft. Der Community Reinforcement Approach hat in Deutschland bisher kaum Fuß gefasst, wodurch zum Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit im Rahmen dieses Ansatzes insgesamt wenig Erfahrungsberichte aus der Praxis existieren.

Die vorliegende Diplomarbeit möchte in diesem noch recht jungen Arbeitsfeld folgende Frage beantworten:

Wie passfähig sind der Community Reinforcement Approach und die Soziale Arbeit im Rahmen der Tätigkeit im deutschen Suchthilfesystem?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, ist die Beantwortung weiterer Teilfragen vonnöten (vgl. Kap.5):

Welche Schnittmengen weisen der Community Reinforcement Approach und die Soziale Arbeit miteinander auf? Gibt es gemeinsame Ziele oder Herangehensweisen? Wenn ja, welche sind es? An welchen Punkten kreuzen sich die Wege der Sozialen Arbeit und des Community Reinforcement Approach am deutlichsten?

Ebenso stellt sich die Teilfrage der Verortung der Sozialen Arbeit im therapeutischen Konzept des Community Reinforcement Approach: Wo liegen in diesem Zusammenhang welche Grenzen? An welcher Stelle zwischen Beratung und Psychotherapie lässt sich die Soziale Arbeit in der Behandlung nach dem Community Reinforcement Approach einordnen?

Weiterhin hängt die Passfähigkeit des Community Reinforcement Approach und der Sozialen Arbeit von der Verteilung der bestehenden Aufgaben im multiprofessionellen Team ab: Welche Aufgaben fallen an und was übernimmt hierbei die Soziale Arbeit? Welche Profession trägt die Verantwortung für den Behandlungsprozess? Gibt es Absprachen zwischen den Professionen, die eine gelingende Kooperation möglich machen?

Um all diese Fragen lebendig beantworten zu können, ist der Dialog mit der Praxis zwar von zentraler Bedeutung, dennoch sind die theoretischen Auseinandersetzungen zwischen den Professionen aus der Praxis des Community Reinforcement Approach essentiell. Die folgende Arbeit kann hierfür eine Grundlage darstellen.

Um diese Grundlage zu schaffen, ist die Vorstellung des Community Reinforcement Approach (vgl. Kap. 4) als Behandlungsansatz unerlässlich: Grundsätzliches, die konkrete Durchführung der Behandlung und spezielle Bereiche der Behandlung nach dem Community Reinforcement Approach werden an dieser Stelle erklärt.

Weiterhin sind zum allgemeinen Verständnis inhaltliche Kenntnisse zur Sozialen Arbeit in der Behandlung alkoholabhängiger Menschen (vgl. Kap. 3) vonnöten: Hierfür werden das Profil und die Aufgaben der Sozialen Arbeit im Suchthilfesystem beschrieben sowie relevante Konzepte und Methoden der Sozialen Arbeit in der Behandlung alkoholabhängiger Menschen dargestellt.

Zuvor jedoch ist die Beschreibung grundlegender Aspekte der Alkoholabhängigkeit (vgl. Kap. 2) notwendig: Die Darstellungen des Phänomens der Alkoholabhängigkeit, der Epidemiologie und der Ätiologie geben Auskunft über Hintergründe dieser Krankheit. Die Folgeschäden sowie die Behandlungsinhalte und -formen im deutschen Suchthilfesystem vertiefen dieses detaillierte Vorwissen zur Alkoholabhängigkeit, welches die Basis der hier bearbeiteten Thematik darstellt.

2 Alkoholabhängigkeit

Die verschiedenen Facetten der Alkoholabhängigkeit werden in dem nun folgenden Kapitel näher beleuchtet und in Beziehung zu Deutschland gesetzt. Die Betrachtungen beginnen mit dem Phänomen der Alkoholabhängigkeit (vgl. Kap. 2.1), wobei die Geschichte als Krankheit (vgl.

Kap. 2.1.1) und die Begriffsbestimmung, wann eine Abhängigkeit, ein Missbrauch bzw. eine Sucht vorliegt (vgl. Kap. 2.1.2), abgeklärt werden. Daraufhin werden die Epidemiologie der Alkoholabhängigkeit (vgl. Kap. 2.2) und die Ätiologie anhand verschiedener Erklärungsmodelle (vgl.

Kap. 2.3) dargestellt. Es handelt sich hierbei zunächst um das sozialwissenschaftliche, die psychologischen (lerntheoretisch, kognitiv, psychoanalytisch und persönlichkeitstheoretisch) und um das (neuro-)biologische Erklärungsmodell (vgl. Kap. 2.3.1-2.3.3). Daraufhin wird das biopsychosoziale Erklärungsmodell der Alkoholabhängigkeit (vgl. Kap. 2.3.4) beschrieben, welches das gängige Modell in der Praxis dargestellt, da es die zuvor beschriebenen Erklärungstheorien integriert. Nachdem die Folgeschäden der Alkoholabhängigkeit (psychisch, sozial und physisch) (vgl. Kap. 2.4) beschrieben sind, wird auf die Behandlung der Alkoholabhängigkeit (vgl. Kap. 2.5) eingegangen. Hierbei werden die Behandlungsphasen (vgl. Kap. 2.5.1), das in Phasen verlaufende deutsche Suchthilfesystem (vgl. Kap. 2.5.2), die Prinzipien und Ziele einer Behandlung (vgl. Kap. 2.5.3) und zuletzt unterschiedliche Therapieansätze (vgl. Kap. 2.5.4) thematisiert.

2.1 Das Phänomen der Alkoholabhängigkeit

2.1.1 Geschichte der Alkoholabhängigkeit als Krankheit

Schon seit dem Altertum ist Alkohol unter den Menschen sehr weit verbreitet, doch auch schon seit Urgedenken ist diese Substanz „ein umstrittenes Getränk“ (Feuerlein 1979, S. 1 und vgl. Mann 1999, S. 183). Im Laufe des 16. Jahrhunderts kommt es durch umfassende gesellschaftliche Veränderungen zum Statusverlust des ungehemmten Alkoholkonsums. Dieser verliert seine Selbstverständlichkeit, woraufhin Menschen mit Alkoholproblemen zunehmend moralisch verurteilt und zusammen mit Verrückten und Kriminellen von der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Im Jahre 1774 benannte der amerikanische Arzt Benjamin Rush den Alkoholismus erstmals als Krankheit des Willens. Durch ihn wurde die Entwicklung dahingehend angestoßen, diese Krankheit aus dem medizinischpsychologischen Blickwinkel zu betrachten und dementsprechend zu behandeln. (Vgl. Schabdach 2009, S. 29 und vgl. Lindenmeyer 1999, S. 1) Durch die Aussage, dass die „... Begierde nach häufiger Trunkenheit eine durch die chemische Natur der alkoholischen Getränke hervorgerufene Krankheit ...“ (Soyka und Küfner 2008, S. 4) sei, wurde der schottische Arzt Thomas Trotter im Jahre 1780 zum „Vater des Krankheitskonzepts des Alkoholismus“ (ebd.). Der Arzt Magnus Huss aus Schweden bezeichnete im Jahre 1852 mit dem Begriff des Alkoholismus die körperlichen Folgeschäden, die durch übermäßigen Alkoholkonsum entstehen (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 1).

Das Bündel dieser Gedanken griff der amerikanische Physiologe Elvin Morton Jellinek auf und entwickelte im Jahre 1942 das Krankheitsmodell der Alkoholabhängigkeit, dem heutige Behandlungsansätze zugrunde liegen (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 16 und vgl. Lindenmeyer 1999, S. 1). Dieses Krankheitsmodell klassifiziert alkoholabhängige Menschen[3] nach Typen und untergliedert die Krankheitsentwicklung der Alkoholabhängigkeit in Phasen (vgl. Feuerlein 2000c, S. 17f.). Obwohl das Modell bis heute kontrovers diskutiert wird, beeinflusste es die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1968, dass nicht nur die Alkoholfolgekrankheiten, sondern auch der Alkoholismus als solcher in Deutschland als Krankheit anerkannt wurde. Diese Entscheidung ist von großer Bedeutung für das Verständnis und das Selbstverständnis alkoholkranker Menschen, denn sie wirkt der bis heute nicht gänzlich ausgeräumten Bagatellisierung und Moralisierung des Alkoholkonsums in unserer Gesellschaft entgegen. (Vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 16f., vgl. Reker 2007, S. 176, vgl. Trost 2002, S. 288, vgl. Zeitler 2001, S. 308 und vgl. Lindenmeyer 1999, S. 1f.) Reker schildert die Hintergründe dieser Moralisierung: „Die christliche Tradition hat dazu beigetragen, dass der übermäßige Suchtmittelkonsum stark schuldbesetzt geblieben ist und Schuld- und Schamgefühle in der Therapie von Suchtpatienten auch deshalb immer einen hohen Stellenwert behalten haben“ (Reker 2007, S. 175).

Durch diese gesetzliche Verankerung der Alkoholabhängigkeit als Krankheit ist der Behandlungsanspruch der Betroffenen begründet (vgl. Lindenmeyer 1999, S. 1), wodurch sich seit dem Jahre 1968 in Deutschland „... ein qualitativ hochwertiges und flexibles Behandlungs- und Beratungssystem für Abhängigkeitserkrankungen ...“ (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 4) entwickelt hat.

2.1.2 Begriffsbestimmungen: Abhängigkeit - Missbrauch - Sucht

Als Synonym für den älteren Begriff des Alkoholismus wird heute der Terminus Alkoholabhängigkeit verwendet, wobei umgangssprachlich der alte Begriff nach wie vor weltweit und missverständlich verbreitet ist (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 1 und vgl. Feuerlein 2000c, S. 16). Die Bezeichnung Alkoholismus ist missverständlich, weil sie einerseits die Alkoholabhängigkeit und andererseits den Alkoholmissbrauch, bzw. den schädlichen Gebrauch, bezeichnet, obwohl es sich hier um zwei unterschiedliche Phänomene handelt (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 1f. und vgl. Schmidt und Schmidt 2003d, S. 52).

Eine Alkoholabhängigkeit liegt laut ICD-10[4] dann vor, wenn drei oder mehr der folgenden psychischen und physischen Kriterien gemeinsam mindestens einen Monat lang vorhanden waren oder während des letzten Jahres wiederholt aufgetreten sind (vgl. Dilling u.a. 2006, S. 79):

Psychische Kriterien:

Craving: starker Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren

Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums

Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Alkoholkonsums: erhöhter Zeitaufwand, um den Alkohol zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen

Anhaltender Alkoholkonsum trotz Nachweis eindeutiger schädlicher Folgen wie Leberschädigung durch exzessives Trinken, depressive Verstimmungen infolge starken Alkoholkonsums oder alkoholbedingte Verschlechterung kognitiver Funktionen

Physische Kriterien:

Körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums: nachgewiesen durch alkoholspezifische Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder einer nahe verwandten Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden. Mögliche Entzugssymptome: Tremor, Schwitzen, Übelkeit, Hypertonie, psychomotorische Unruhe, Kopfschmerzen, Insomnie (Schlafstörung), Krankheitsgefühl, Schwäche, Halluzinationen, Krampfanfälle

Nachweis einer Toleranzentwicklung: Erforderlichkeit von zunehmend höheren Dosen, um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung der Substanz hervorzurufen.

(Vgl. Dilling u.a. 2006, S. 79ff.)

Im DSM-IV[5] wird von sehr ähnlichen Diagnosekriterien für die Alkoholabhängigkeit ausgegangen (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 13 und vgl. Feuerlein 2000c, S. 17). Wie zuvor dargestellt kann zwischen physischer und psychischer Abhängigkeit unterschieden werden, wobei die psychische Abhängigkeit auch nach erfolgtem körperlichen Entzug fortbestehen kann (vgl. Feuerlein 2000c,S. 17 und vgl. Trost 1999, S. 218). Tretter und Müller verstehen die Abhängigkeit als eine „... extrem starke Bindung, gegen die der Verstand zunächst machtlos ist, ja sich sogar diesem Verlangen unterordnet“ (Tretter und Müller 2001a, S. 23).

Der Missbrauch (Abusus) von Alkohol kann die Vorstufe einer Alkoholabhängigkeit sein (vgl. Schmidt und Schmidt 2003d, S. 52 und vgl. Trost 2002, S. 281). Feuerlein erklärt: „Unter Mißbrauch (!) versteht man den Gebrauch einer Sache in einer Weise, die vom üblichen Gebrauch bzw. vom ursprünglich dafür gesetzten Zweck abweicht, und zwar in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht“ (Feuerlein 1979, S. 3). Von einem Alkoholmissbrauch kann demzufolge gesprochen werden, wenn alkoholbezogene Folgeschäden auf körperlicher, psychischer und/oder sozialer Ebene aufgetreten, aber die Kriterien für eine Abhängigkeit noch nicht erfüllt sind. Beispielsweise liegt ein Alkoholmissbrauch dann vor, wenn im Straßenverkehr getrunken wird, auch wenn die getrunkene Menge in einer anderen Situation auf Toleranz stößt. (Vgl. Feuerlein 2000c, S. 17, vgl. Lindenmeyer 1999, S. 11 und vgl. Feuerlein 1979, S. 3) Es treten bei einem Missbrauch folgerichtig keine Toleranzentwicklung, keine Entzugssymptome und kein zwanghafter Alkoholgebrauch wie bei einer Abhängigkeit auf. Von Bedeutung sind die schädlichen Konsequenzen des wiederholten Alkoholgebrauchs. (Vgl. DSM-IV 2003, S. 238)

Nach dem DSM-IV ist ein Alkoholmissbrauch festzustellen, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien innerhalb desselben 12-Monats-Zeitraums vorliegt:

Wiederholter Alkoholkonsum, der zu einem Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen (Arbeit, Schule, familiäres Umfeld) führt

Wiederholter Alkoholkonsum in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann (im Straßenverkehr, an Maschinen)

Wiederkehrende rechtliche Probleme im Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum (Verhaftungen)

Fortgesetzter Alkoholkonsum trotz ständiger oder sich wiederholender sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme, die durch die Auswirkungen des Alkohols verursacht oder verstärkt werden (Streit mit Ehegatten, Gewalt, Kindesmissbrauch). (Vgl. DSM-IV 2003, S. 239)

In der ICD-10 wird anstelle des Missbrauchsbegriffs der Terminus des schädlichen Gebrauchs verwendet. Ohne soziale Aspekte zu berücksichtigen, wird der schädliche Gebrauch in diesem Klassifikationsschema als Schädigung der psychischen oder physischen Gesundheit aufgrund des Drogenkonsums beschrieben (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 11). Laut Tretter und Müller ist der Begriff des Missbrauchs des DSM-IV, in dem auch die psychosozialen Aspekte zum Tragen kommen, normgebend und führt in Gesprächen mit alkoholabhängigen Menschen schnell zu Abwehrhaltungen, wohingegen der Begriff des schädlichen Gebrauchs im ICD-10 von ihnen als neutraler angesehen wird (vgl. Tretter und Müller 2001a, S. 25). Lindenmeyer betont hingegen, dass die „unscharfe Definition“ (1999, S. 11) des schädlichen Gebrauchs im ICD-10 zu Problemen in der Abgrenzung zu einer Abhängigkeit führen kann und hält die präziseren Missbrauchskriterien des DSM-IV für passender, um alkoholgefährdete Menschen frühzeitig diagnostizieren zu können (vgl. ebd.).

Ähnlich wie der Alkoholismusbegriff ist auch der Terminus der Sucht umgangssprachlich weit verbreitet (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 7). Der Bezeichnung leitet sich von Siechtum ab. Die ursprüngliche Wortbedeutung konzentriert sich auf das krankhafte Verlangen nach bestimmten Erlebniszuständen. (Vgl. Wolffersdorff 2005, S. 324) Im Jahre 1964 wurde der Suchtbegriff von der WHO[6] durch den der Abhängigkeit abgelöst (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 8 und vgl. Trost 2002, S. 282). Es wurde vorgeschlagen, stoffgebundene Phänomene nicht mehr als Sucht zu bezeichnen, sondern sie „... durch Zusammenstellung mit der Nennung einer psychotropen Substanz als stoffgebundene Abhängigkeit zu spezifizieren“ (Schmidt und Schmidt 2003a, S. 9). Dem lag die Einschätzung zugrunde, dass die Bezeichnung Sucht im Gegensatz zum Abhängigkeitsbegriff unscharf, mehrdeutig und schwer zu definieren ist und es sich bei der Sucht um ein substanz- übergreifendes Erscheinungsbild handelt (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 8, vgl. Kleinemeier 2004, S. 12 und vgl. Schmidt und Schmidt 2003a, S. 9).

In beiden aktuellen Klassifikationsschemata (ICD-10 und DSM-IV) wird der Begriff der Sucht derzeit vermieden (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 8). In Zukunft wird dieser Terminus durch das DSM-5[7], welches im Mai 2013 erscheinen soll, jedoch wieder eingeführt (vgl. Rumpf und Kiefer 2011, S. 45). Rumpf und Kiefer erklären die Änderungen im zukünftigen DSM-5 bezüglich der Begriffsbenutzung mit folgenden Worten:

Der frühere Oberbegriff „Substanzbezogene Störungen“ erhält die neue Bezeichnung „Sucht und zugehörige Störungen“ („Addiction and Related Disorders“). (...) Als erste nicht stoffgebundene Störung wurde das pathologische Glücksspielen aufgenommen. Eine weitere weitreichende Änderung ist, dass die Differenzierung zwischen Missbrauch (Substance Abuse) und Abhängigkeit (Substance Dependence) aufgegeben wurde, um stattdessen eine „Substanzgebrauchsstörung“ („Substance Use Disorder“) zu definieren. (Rumpf und Kiefer 2011, S. 45)

Demnach wird die zuvor beschriebene Unterscheidung von Abhängigkeit und Missbrauch in Zukunft zumindest vom DSM-5 aufgehoben (vgl. Rumpf und Kiefer 2011, S. 45). Wie im Zitat angesprochen wird eine neue Kategorie Sucht und zugehörige Störungen eingeführt, die neben der Drogensucht auch die Spielsucht umfasst, also stoffungebundene und stoffgebundene Süchte mit ein schließt (vgl. American Psychiatric Association, 2010b zit. n. vgl. Rumpf und Kiefer 2011, S. 45). Die Vor- und Nachteile und die Konsequenzen, die diese Veränderung in der Praxis mit sich bringen, werden von Rumpf und Kiefer beschrieben (vgl. 2011, S. 45-48). Das Darstellen dieser Aspekte würde den Rahmen dieser Arbeit jedoch sprengen.

2.2 Epidemiologie der Alkoholabhängigkeit

An dieser Stelle gilt es zunächst festzustellen, dass es einen gänzlich risikofreien Alkoholkonsum nicht gibt, denn jede Trinkgelegenheit kann zu einer erst viele Jahre später eintretenden Alkoholfolgeerkrankung beitragen (vgl. Schmidt und Schmidt 2003b, S. 14 und vgl. Teyssen 2002, S. 219). Um das individuelle Erkrankungsrisiko einschätzen zu können, wurden Konsumklassen definiert, bei denen es sich um Konsummengen handelt, für die statistisch ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung von Erkrankungen bestehen. Die verschiedenen Organisationen (BMA[8], DHS[9] und WHO) empfehlen unterschiedliche Schwellenwerte für Männer. (Vgl. Schmidt und Schmidt 2003a, S. 9 und vgl. Schmidt und Schmidt 2003b, S. 14) Dadurch kommt es im Folgenden bei den Männern zur Nennung mehrerer Zahlen:

Risikoarmer Konsum:

Bis 30 g (BMA und DHS) bzw. 40 g (WHO) Reinalkohol pro Tag für Männer, bis 20 g pro Tag für Frauen

Riskanter Konsum:

Mehr als 30 g (BMA und DHS) bzw. 40 bis 60 g (WHO) Reinalkohol pro Tag für Männer, mehr als 20 bis 40 g pro Tag für Frauen

Schädlicher Konsum:

Mehr als 60 bis 120 g Reinalkohol pro Tag für Männer, mehr als 40 bis 80 g pro Tag für Frauen

Hochkonsum:

Mehr als 120 g Reinalkohol pro Tag für Männer, mehr als 80 g pro Tag für Frauen.

(Vgl. Schmidt und Schmidt 2003b, S. 14)

Die WHO hat im Laufe der Zeit mit „... zunehmendem Wissen über die Alkoholauswirkungen auf den menschlichen Organismus ...“ (Teyssen 2002, S. 219) die Gefährdungsgrenze des Alkoholkonsums immer weiter nach unten korrigiert (vgl. ebd.). Der Pressesprecher der Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen e.V.[10] Jürgen Stoschek gibt niedrigere Zahlen an und spricht von einer bestehenden Gefährdung, wenn der tägliche Alkoholkonsum bei Frauen 12 g beziehungsweise bei Männern 24 g übersteigt und regelmäßig aus Gründen der Spannungsreduktion und Konfliktbewältigung getrunken wird (vgl. Stoschek 2011, S. A179).

Die derzeitige Drogenbeauftragte der Bundesregierung[11] Mechthild Dyckmans hat im kürzlich veröffentlichten Drogen- und Suchtbericht erklärt, dass der regelmäßige Alkoholkonsum von Jugendlichen in Deutschland weiter rückläufig ist und im Jahre 2010 den niedrigsten Stand seit den 1970er Jahren erreicht hat (vgl. Dyckmans 2011, S. 12). Eine „generelle Trendwende“ (Dyckmans 2011, S. 12) sieht sie darin jedoch nicht, denn Deutschland liegt nach wie vor in der Spitzengruppe sämtlicher Länder der Welt (vgl. ebd., vgl. Bätzing 2009, S. 38 und vgl. Schmidt und Schmidt 2003b, S. 13). 800 Millionen Liter reinen Alkohols werden laut Gaßmann, dem Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V., jährlich in Deutschland konsumiert (vgl. 2010, S. 5). Durchschnittlich sind das pro Kopf 10 Liter reinen Alkohols (vgl. Dyckmans 2011, S. 21). Im Jahre 2000 lag dieser Wert bei 10,5 Litern (vgl. Merfert-Diete 2010, S. 7). Dabei trinken laut Teyssen 5 Prozent der Bevölkerung in Deutschland bereits 50 Prozent des Pro-Kopf-Konsums (vgl. 2002, S. 219) und lediglich 5-10 Prozent der Erwachsenenbevölkerung trinken überhaupt keinen Alkohol (vgl. Lindenmeyer 1999, S. 6).

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. hat 2003 veröffentlicht, dass etwa 1,6 Millionen Menschen (2,4 Prozent der Wohnbevölkerung ab 18 Jahren) akut alkoholabhängig sind (vgl. Schmidt und Schmidt 2003b, S. 17). Dyckmans gibt 2011 an, dass etwa 1,3 Millionen Menschen als alkoholabhängig gelten (vgl. 2011, S. 21) und Lachmann nennt 2,5 Millionen behandlungsbedürftige alkoholkranke Menschen in Deutschland (vgl. 2004, S. 146), wovon 65 bis 75 Prozent der Betroffenen Männer sind (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 16).

Alkoholmissbrauch liegt bei etwa 2,65 Millionen Menschen (4 Prozent der Wohnbevölkerung ab 18 Jahren) vor (vgl. Schmidt und Schmidt 2003b, S. 17) und 9,5 Millionen Menschen in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form (vgl. Dyckmans 2011, S. 21 und vgl. Bätzing 2009, S. 38). Trost stellt fest, dass 50 Prozent der Abhängigkeitskranken an einer zusätzlichen psychiatrischen Erkrankung wie Depression, Angstneurose oder Persönlichkeitsstörung leiden (vgl. 2002, S. 284 und vgl. Schulz 2000c, S. 370). Die Berechnung der Inzidenz gestaltet sich bei Abhängigkeitserkrankungen insofern problematisch, da „... der Beginn der Störung aufgrund der langsamen Entwicklung nur schwer bestimmbar ist“ (Ujeyl und Haasen 2004, S. 23). Die Mortalitätsrate gibt an, dass jedes Jahr in Deutschland mindestens 73.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs sterben (vgl. Dyckmans 2011, S. 21).

Laut Soyka hängen die Angaben zur Häufigkeit von Alkoholabhängigkeit und -missbrauch in der Gesamtbevölkerung entscheidend von den eingesetzten Diagnose- und Untersuchungsinstrumenten und den fokussierten Konsumklassen ab (vgl. 1999, S. 1). Weiterhin wird ein hoher Alkoholkonsum von den Betroffenen nicht immer wahrheitsgemäß angegeben und besonders stark Konsumierende werden häufig bei Umfragen und Untersuchungen nicht erreicht (vgl. Schmidt und Schmidt 2003b, S. 16). Aus diesen Gründen sind in der Literatur unterschiedliche Zahlen und Fakten zu finden. Trotz dieser doch insgesamt hohen Zahlen können wir in unserer Gesellschaft eine „weit verbreitete unkritisch positive Einstellung“ (Dyckmans 2011, S. 21) zum Alkohol vorfinden. Diese Einstellung kann ein Aspekt bei der Entstehung einer Alkoholabhängigkeit sein.

2.3 Ätiologie der Alkoholabhängigkeit

Eine Alkoholabhängigkeit tritt nicht plötzlich aufgrund einer bestimmten Ursache auf, sondern ihre Entstehung stellt eine „schleichende, individuell verlaufende Entwicklung“ (Lindenmeyer 2010, S. 78) dar. Überwiegend ist ein zyklischer Verlauf zu verzeichnen und der Abhängigkeit geht oft eine lange Zeit des Missbrauchs von Alkohol voran (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 21).

Um die Abhängigkeitsentstehung wissenschaftlich zu erklären, wurden viele unterschiedliche Modelle entwickelt. In der Fachliteratur sind u.a. sozialwissenschaftliche (vgl. Kap. 2.3.1), psychologische (vgl. Kap. 2.3.2) und (neuro-)biologische (vgl. Kap. 2.3.3) Erklärungsmodelle zu finden. (Vgl. Tretter 2000, S. 11ff.) Diese einfachen kausalen Modelle werden zwar im Folgenden beschrieben, doch sie verengen den Blick auf die Dynamik der Abhängigkeitsproblematik. Die Ursachen einer Abhängigkeitsentwicklung sind äußerst vielfältig und untereinander sehr komplex vernetzt. (Vgl. Lachmann 2004, S. 144 und vgl. Tretter und Müller 2001b, S. 68) Am deutlichsten wird die Entstehung der Alkoholabhängigkeit demnach durch ein mehrdimensionales Störungsmodell, dem biopsychosozialen Modell (vgl. Kap. 2.3.4), erklärt (vgl. Schmidt und Schmidt 2003c, S. 30).

2.3.1 Das sozialwissenschaftliche Erklärungsmodell

Sozialwissenschaftlich betrachtet geht es bei der Erklärung der Abhängigkeitsentstehung um die Untersuchung der Wirkung sozialer Handlungsregeln und kultureller Faktoren wie Normen und Werte. Die kulturspezifische Haltung gegenüber der legalen Droge Alkohol prägt die Trinksitten einer Gesellschaft und lässt sich zwischen den beiden Polen der Repressivkultur (z.B. die religiöse Sanktionierung des Alkoholkonsums) und der Permissivkultur (z.B. die Duldung von Rauschexzessen) einordnen. (Vgl. Schmidt und Schmidt 2003c, S. 31 und vgl. Tretter 2000, S. 12) Lindenmeyer unterscheidet an dieser Stelle drei Kulturformen:

1. Die Abstinenzkultur verbietet jeglichen Alkoholkonsum. Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen kann sich kaum eine Abhängigkeit entwickeln (Länder der arabischen Welt, in denen der Islam Staatsreligion ist, wie Saudi-Arabien, Libyen, Iran). (Vgl. Lindenmeyer 2010, S. 13) Die Abstinenzkultur stellt den Pol der Repressivkultur dar.

2. In der Trinkkultur ist der Konsum von Alkohol allgemein weit verbreitet und gesellschaftlich anerkannt. Der Alkoholverbrauch ist sehr hoch, doch es gibt klare und verbindliche Regeln im Umgang mit Alkohol. Überschreitungen dieser Trinkrituale werden in der Regel frühzeitig durch die Umwelt korrigiert, so dass es trotz dieser Umstände vergleichsweise wenig Alkoholabhängige gibt (Länder des Mittelmeerraumes, wie Italien, Spanien, Griechenland). (Vgl. Lindenmeyer 2010, S. 13f.) Die Trinkkultur befindet sich zwischen den Polen der Repressiv- und der Permissivkultur.

3. Die gestörte Trinkkultur weist einen hohen Alkoholverbrauch und keine klaren Grenzen zwischen normalem und abnormalem Alkoholkonsum auf. Alle Formen des Umgangs mit Alkohol sind weit verbreitet, wodurch das Risiko für die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit sehr hoch ist. Da die Betroffenen lange Zeit keine eindeutige Korrektur durch die Umwelt erfahren, kommt diese dann um so konfliktreicher und meist für ein Aufhalten der Abhängigkeitsentstehung zu spät. Häufig ist die Abhängigkeit so weit voran geschritten, dass dem Betroffenen nur noch die vollständige Alkoholabstinenz mit therapeutischer Hilfe bleibt (Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich, Großbritannien, Russland). (Vgl. Lindenmeyer 2010, S. 14) Die gestörte Trinkkultur ist an dem Pol der Permissivkultur anzusiedeln.

(Vgl. Lindenmeyer 2010, S. 13f.)

Je nachdem in welcher Kultur ein Mensch lebt, überwiegen die Risiko- oder Schutzfaktoren einer Gesellschaft und es ist leichter oder schwerer, sich vor einer Alkoholabhängigkeit zu schützen (vgl. Tretter 2000, S. 12).

Sozialwissenschaftlich betrachtet lassen sich auf der Makro-, Meso- und Mikroebene Schutzfaktoren gegenüber Risikofaktoren abgrenzen. In Deutschland überwiegen auf der Makroebene die Risikogegenüber den Schutzfaktoren, da die deutsche Gesellschaft in der Kulturform der zuvor beschriebenen gestörten Trinkkultur anzusiedeln ist. Die Wirtschaft stellt auf dieser Ebene einen weiteren Einflussfaktor auf die Abhängigkeitsentstehung dar, denn sie steuert die Verfügbarkeit von Alkohol in der Gesellschaft (vgl. Tretter 2000, S. 13). Mehrere Milliarden Euro nimmt der deutsche Staat jährlich an Alkoholsteuern ein. Diesen Einnahmen steht ein volkswirtschaftlicher Schaden durch Alkoholmissbrauch in 5 bis 6-facher Höhe gegenüber, der jedoch nicht durch die Alkoholsteuereinnahmen gemindert, sondern durch die Krankenkassen- und Rentenversicherungsbeiträgen der Gesamtbevölkerung getragen wird. (Vgl. Schneider 2009, S. 111f.) Trost schildert, dass die Alkoholindustrie in Deutschland jährlich über eine Milliarde Euro für Werbung ausgibt und die Kosten für präventive Maßnahmen demgegenüber 20 Millionen betragen (vgl. 2002, S. 277).

Bezüglich der ätiologischen sozialwissenschaftlichen Bedingungen auf der Mesoebene können die regionalen Unterschiede hinsichtlich der Trinkmenge und der Wahl des Getränks in Deutschland genannt werden. So zeigt sich in den neuen Bundesländern insgesamt ein höherer Alkoholkonsum als in den alten Bundesländern. Wein und Bier werden im Süden Deutschlands bevorzugt, Schnaps wird stärker im Norden Deutschlands konsumiert. (Vgl. Lindenmeyer 1999, S. 6f.)

Neben dem System Schule mit ihren Milieufaktoren und ihrer Leistungskultur spielt das System der Familie auf der Mikroebene eine bedeutende Rolle bei der Entstehung einer Abhängigkeit. Risiko- und Schutzfaktoren können in dem Erziehungsstil bzw. in dem Beziehungsverhältnis der Eltern zu den Kindern zu finden sein. Risikoreich sind hier der zu sehr zulassende (permissive) und der zu sehr zurückweisende (repressive) Erziehungsstil. Broken-home-Situationen sind als Risikofaktor und eine harmonische Beziehung zwischen den Eltern als Schutzfaktor anzusehen. (Vgl. Schmidt und Schmidt 2003c, S. 31 und vgl. Tretter 2000, S. 13) Auch „... der modellhafte, vorbildliche Umgang mit psychoaktiven Stoffen jeder Art ...“ (Tretter 2000, S. 14) stellt einen Schutzfaktor dar. Imitation des Konsumverhaltens und das Leiden unter dem inkonsistenten Verhalten der konsumierenden Eltern sind dagegen Risikofaktoren für die Kinder (vgl. Tretter 2000, S. 14). Besonders stark wird das Trinkverhalten heranwachsender Jugendlicher von Gleichaltrigen geprägt, denn die Peer Group gibt die drogenbezogenen Normen vor. Je mehr und je häufiger Alkohol im Freundeskreis getrunken wird, desto höher ist der eigene Alkoholkonsum. (Vgl. Dyckmans 2011, S. 21 und vgl. Schmidt und Schmidt 2003c, S. 31)

Zur Abhängigkeitsentstehung im Mikrosystem ist darüber hinaus der prägende Einfluss des sozialen Umfeldes in Form der Co-Abhängigkeit zu nennen (vgl. Tretter 2000, S. 14). Diese Form der Abhängigkeit impliziert Haltungen und Verhaltensweisen von Menschen, die dazu beitragen, dass der Abhängige oder abhängigkeitsgefährdete Mensch dies auch bleiben kann. Die Co-Abhängigen wirken mit ihrem Verhalten als Verstärkungs- und Stabilisierungsfaktoren der Abhängigkeit. Auch Bezugspersonen bei der Arbeit und in der Freizeit, sowie Gruppen und Institutionen können co- abhängiges Verhalten zeigen. (Vgl. Fengler 2000c, S. 91 und vgl. Tretter 2000, S. 14 ) Das Verhalten des Co-Abhängigen hat unterschiedliche Funktionen, wie z.B. den Druck der abhängigkeitsbedingten Anspannungen abzubauen, dem Abhängigen Hilfe zu leisten, die eigene Angst und Hilflosigkeit zu lindern oder das Familienbild nach außen zu bewahren. Aus Scham und Stolz kommt es häufig nicht oder sehr spät zu einer sachlichen und notwendigen Auseinandersetzung mit der Abhängigkeitserkrankung. (Vgl. Fengler 2000c, S. 91) Lindenmeyer betont an dieser Stelle, dass den Partner oder die Familie in der Regel keine Schuld an der Abhängigkeitsentwicklung trifft (vgl. 2010, S. 189).

Insgesamt ist die Forschungslage bei der Betrachtung der Einflussstärke einzelner soziokultureller Faktoren auf die Entstehung einer Abhängigkeit noch äußerst untauglich, betont Tretter (vgl. 2000, S. 15).

2.3.2 Die psychologischen Erklärungsmodelle

Bezugspunkt der psychologischen Theorie der Abhängigkeitsentwicklung ist der Alkoholrausch, verstanden als psychische Zustandsänderung, die auf die Einwirkung des Alkohols folgt. Verhaltensrelevant ist dabei die Positivierung des Erlebens, egal ob es sich um einen besonders angenehmen Zustand oder nur um eine Minderung eines negativen Zustands handelt. Diese Zustandsänderung wird durch die Alkoholzufuhr immer wieder angestrebt. (Vgl. Tretter 2000, S. 15)

Im Folgenden werden vier unterschiedliche psychologische Erklärungsmodelle vorgestellt: das lerntheoretische, das kognitive, das psychoanalytische und das persönlichkeitstheoretische Erklärungsmodell der Alkoholabhängigkeit.

2.3.2.1 Das lerntheoretische Erklärungsmodell

Die Lerntheorie (vgl. Kap. 2.5.4.1) erklärt die Abhängigkeitsentwicklung mit einem „selbstverstärkenden Bedingungsgefüge der Trinkeffekte“ (Tretter 2000, S. 16) und spricht diesbezüglich von einer sich steigernden „Automatik der Abhängigkeitsentwicklung“ (ebd.). Es wird davon ausgegangen, dass sich psychische Störungen ebenso wie sonstige Verhaltensweisen aus allgemeingültigen Prinzipien der Verhaltenssteuerung und Verhaltensänderung ableiten lassen und dass somit das Erleben und Verhalten von Personen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagbar ist (vgl. Jungnitsch 2009, S. 38f.).

Aus lerntheoretischer Sicht folgt das Verhalten des exzessiven Alkoholkonsums den sogenannten Lerngesetzen (vgl. Schmidt und Schmidt 2003c, S. 32). Eines der Gesetze der Lerntheorie beinhaltet das Lernen am Erfolg. Die Rede ist hier von dem Prinzip des operanten Konditionierens. Aufbauend auf den Arbeiten zum Gesetz der Wirkung von Edward Thorndike (1874-1949), wurde die operante Konditionierung mit ihrem Prinzip der positiven und negativen Verstärkung durch den amerikanischen Psychologen Burrhus Frederic Skinner (1904-1990) begründet. Skinner richtete seinen Blick auf die Beziehung zwischen Reaktionen und ihren Konsequenzen. (Vgl. Davison, Neale und Hautzinger 2007, S. 42ff.) Demnach wird ein durch Reize aus der Umwelt verursachtes Verhalten mit positiven Folgen wiederholt und mit negativen Folgen vermieden. Vor allem die Entwicklung des geselligen Gewohnheitstrinkens kann durch dieses Prinzip erklärt werden, denn der Konsument wird durch das regelmäßige Trinken im Freundeskreis konditioniert. Er erfährt durch die angenehme soziale Erfahrung eine positive Verstärkung, die ihn zum erneuten Alkoholkonsum einlädt. (Vgl. Zimbardo und Gerrig 2003, S. 208 und vgl. Tretter 2000, S. 15f.)

Davon zu unterscheiden ist ein weiteres Gesetz des Lernens: das klassische Konditionieren, welches auch Signallernen genannt wird. Diese Lehre der bedingten Reflexe stammt von dem russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow (1849-1936). Er untersuchte unkonditionierte und konditionierte Reiz-Reaktionen bei Hunden. Ursprünglich neutrale Reize lösen nach Konditionierung eine Reaktion, d. h. ein bestimmtes Verhalten, aus. Auf die Ätiologie der Alkoholabhängigkeit bezogen entsteht beispielsweise die Gewohnheit[12], dass der Beginn des Feierabends oder das Fernsehen mit dem Trinken von Alkohol zusammengehören. (Vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 361, vgl. Davison, Neale und Hautzinger 2007, S. 41f. und vgl. Tretter 2000, S. 15f.) Werden diese Gewohnheiten unkontrolliert über eine längere Zeit ausgeübt, kann eine Alkoholabhängigkeit entstehen. Laut Grüsser, Wölfling und Ziegler wird die Bedeutung von Lernmechanismen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von süchtigem Verhalten und Verlangen in den letzten Jahren wieder verstärkt diskutiert (vgl. 2002, S.117).

Weiterhin gehört zur Lerntheorie das Lernen am Modell, welches auch Beobachtungslernen, sozialkognitives Lernen, Nachahmungslernen oder Imitationslernen genannt wird. Diese Lerntheorie ist eng an den kanadischen Psychologen Albert Bandura geknüpft. (Vgl. Jungnitsch 2009, S. 46 und vgl. Bandura 1979, S. 31) Im Sinne dieses Modelllernens erfolgen die ersten Alkoholerfahrungen häufig, wenn Kinder oder Heranwachsende den Alkoholkonsum der Eltern oder des Umfeldes, besonders das der Gleichaltrigen, beobachten und nachahmen. Auch ohne Verstärkerprozesse kann dadurch ggf. abhängiges Verhalten angebahnt werden. (Vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 121, vgl. Davison, Neale und Hautzinger 2007, S. 45 und vgl. Tretter 2000, S. 16) Auch verbale oder schriftliche Aussagen und ebenso Graphiken oder Filme zum Thema Alkohol können als Modell zum Lernen und Imitieren dienen (vgl. Perrez und Zbinden 1996 zit. n. vgl. Jungnitsch 2009, S. 46).

2.3.2.2 Das kognitive Erklärungsmodell

Das kognitive Erklärungsmodell geht davon aus, dass irrationale Überzeugungen für dysfunktionale Verhaltensweisen, wie z.B. Suchtmittelkonsum, verantwortlich sind (vgl. Bischof 2010, S. 163). Zwischen dem zuvor beschriebenen Modelllernen und dem kognitiven Erklärungsmodell besteht eine Überschneidung bezüglich der Präsenz kognitiver Variablen, denn während eines Vorgangs des Modelllernens finden in der betreffenden Person ebenso kognitive Prozesse statt, wie z.B. die Fähigkeit, sich einige Zeit nach der Beobachtung eines Verhaltens an das Gesehene zu erinnern (vgl. Davison, Neale und Hautzinger 2007, S. 46).

Das kognitive Erklärungsmodell der Alkoholabhängigkeit hebt, über die Präsenz der kognitiven Prozesse hinaus, die Bedeutung dieser hervor und betont die Rolle von Wahrnehmung, Erwartung, automatisierten Denkabläufen, Bewertungsprozessen und intentionalem Handeln bei der Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit (vgl. Kap. 2.5.4.1) (vgl. Davison, Neale und Hautzinger

2007, S. 47ff. und vgl. Tretter 2000, S. 16). Die experimentalpsychologischen Untersuchungen der Bedeutung von kognitiven Faktoren auf das Gesamterleben ergaben, dass physiologische und psychologische Faktoren zur erlebten Alkoholwirkung gleichermaßen beitragen (vgl. Tretter 2000, S. 16).

Nach den Modellen der kognitiven Psychologie steigt die Wahrscheinlichkeit für die Alkoholabhängigkeit:

mit dem Grad der wahrgenommenen Streßbelastung (!) in einer Situation (Risikosituation): „Der Zustand ist unerträglich."

mit dem Grad der wahrgenommenen persönlichen Unfähigkeit zur Kontrolle der Situation im Sinne von Selbstunwirksamkeitserwartungen: „Ich kann nichts machen."

mit dem Mangel an adäquaten Bewältigungsstrategien: „Es hilft nichts."

mit den Wirksamkeitserwartungen des Alkoholtrinkens als alternative Bewältigungsstrategie:

„Trinken tut gut." mit der Verfügbarkeit des Alkohols und den Trinkzwängen: „Da gibt es was zu trinken. " (Schneider 1982 zit. n. Tretter 2000, S. 17)

2.3.2.3 Das psychoanalytische Erklärungsmodell

Das psychoanalytische Erklärungsmodell basiert auf der Psychoanalyse[13] (vgl. Kap. 2.5.4.2), die von dem österreichischen Arzt und Tiefenpsychologen Sigmund Freud (1856-1939) entwickelt wurde (vgl. Rost 2000c, S. 463). Dieses Erklärungsmodell ist dem lerntheoretischen und dem kognitiven Modell gegenübergestellt (vgl. Tretter 2000, S. 18). Die Abhängigkeit wird in psychoanalytischen Erklärungsansätzen als Symptom einer zugrunde liegenden Persönlichkeitsstörung benannt. Demnach erfüllt der Alkohol den Zweck der Selbstmedikation. (Vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 117)

Aspekte einer psychoanalytischen Theorie zur Ätiologie einer Alkoholabhängigkeit beziehen sich

1. auf die Triebdynamik: Das Alkoholverlangen wird als Ausdruck der Fixierung bzw. der Regression auf orale Wünsche gesehen. In der frühen Kindheit ist es möglicherweise aufgrund von Enttäuschungserlebnissen zu einer oralen Fixierung in der psychosexuellen Entwicklung gekommen, die im Erwachsenenalter das Erleben von Frustrationen durch das Trinken von Alkohol erträglicher macht (Regression). (Vgl. Schmidt und Schmidt 2003c, S. 32 und vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 117)

2. auf die Beziehungen: Störungen in der frühkindlichen psychosozialen Entwicklung der Person führen auf der einen Seite zu in Gut und Böse gespaltenen Objektrepräsentanzen (Erfahrungen mit der Umwelt/ Bilder von der Umwelt) und Selbstrepräsentanzen (Erfahrungen mit sich selbst/ Selbstbild) und auf der anderen Seite zu einer Verschmelzung von Objekt und Selbst mit dem Ergebnis mangelnder Autonomie und persistierender Abhängigkeit. Auch Phantasie-Wirklichkeits-Beziehungen können entwicklungsbedingt mangelhaft sein (Anspruchsdenken, überhöhte Erwartungen). Aufgrund dieser Konfiguration des Selbstbildes und des Umweltbildes sind Selbstwertregulationskrisen (narzisstische Krisen) häufig. Diese drücken sich in Beziehungsstörungen mit der exzessiven Suche nach Anerkennung oder einer Abgrenzung gegenüber der Umwelt aus. (Vgl. Tretter 2000, S. 18) Alkohol ist „... vor allem bei narzisstisch gestörten Personen mit Selbstwertproblemen“ (Schmidt und Schmidt 2003c, S. 32) geeignet, die Leere durch die vermissten „Gefühle von Macht, Größe und Bedeutung“ (ebd.) zu kompensieren.

3. auf (strukturelle) ich-psychologische Defizite: Verkürzt man die Ideengeschichte der Psychoanalyse auf besonders markante Begriffe, dann spielt sich seelisches Geschehen im Wesentlichen im z.T. unbewussten Kräftefeld zwischen den psychischen Instanzen Es, Ich und Über-Ich ab. Mit dem psychoanalytischen Blick auf die Entstehung einer Alkoholabhängigkeit ist der Alkohol ein Hilfsmittel für das Ich, die (verdrängten) Bedürfnisse des Es gegenüber dem Über-Ich durchzusetzen. Ein destruktiv strenges Über-Ich führt jedoch bei anhaltendem Alkoholkonsum zu unerträglichen Schamgefühlen, die die Verleugnung des Alkoholkonsums bewirken. Darüber hinaus erzeugt die Alkoholwirkung wiederum eine angenehme Auflösung und Inaktivierung des Über-Ichs. Das Ich kann den Impulsen des Es nachgeben. Dem Bedürfnis nach Berauschung wird daher zunehmend stattgegeben und der Kreis ist geschlossen. (Vgl. Tretter 2000, S. 18f.)

2.3.2.4 Das persönlichkeitstheoretische Erklärungsmodell

Die bisher beschriebenen psychologischen Erklärungsmodelle sind als Funktionsmodelle zu bezeichnen, während das persönlichkeitstheoretische Modell ein Strukturmodell ist. Das Konstrukt Persönlichkeit bedeutet hier, dass es charakterliche situationsübergreifende Verhaltens- und Erlebensmerkmale gibt, die eher angeboren als erlernt sind. (Vgl. Tretter 2000, S. 20)

Wenn der Rausch gegenüber der Nüchternheit ein besonders attraktiver Zustand ist, dann wird er immer wieder angestrebt und eine psychische Abhängigkeit kann sich bei entsprechender Vulnerabilität anbahnen. Diese spezifische Verwundbarkeit gegenüber Alkohol zeigt sich in Form von besonders ausgeprägter „Neugierde, Belohnungsabhängigkeit und Schadensvermeidung“ (Cloninger, Sigvardsson und Bohmann 1988 zit. n. Tretter 2000, S. 21).

Nissen erklärt, dass wir es bereits vor dem Auftreten einer Abhängigkeit nach Meinung vieler Autoren mit einem psychisch kranken Menschen zu tun haben. Die primären Ursachen der Abhängigkeit liegen demnach in der individuellen Persönlichkeitsstruktur und nicht in der pharmakologischen Wirkung des Alkohols begründet (vgl. Nissen 1994, S. 10). In den klassischen psychiatrischen Beschreibungen werden Alkoholiker als willens- und charakterschwache Personen beschrieben, die hyperthym, dysthym, ängstlich, hysterisch, erregbar, weichlich oder haltlos sind (vgl. Tretter 2000, S. 21). Diese Kategorien scheinen überholt zu sein, denn eine Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen der Persönlichkeit alkoholabhängiger Menschen haben ergeben, dass es eine „... spezielle und zwangsweise in die Alkoholabhängigkeit führende sog. Suchtstruktur ...“ (Schmidt und Schmidt 2003c, S. 32) nicht gibt, sondern dass sowohl unter Abhängigen als auch unter Nichtabhängigen das gesamte Spektrum unterschiedlicher Menschen und Typen zu finden ist (vgl. Lindenmeyer 2010, S. 76f.).

Das Konstrukt Persönlichkeit oder Temperament leitet über zu dem Bereich der Neurobiologie, denn möglicherweise beruht die Bereitschaft, z.B. krankhaft Alkohol zu trinken, auf einer angeborenen physischen und/oder psychischen Unfähigkeit, sich zu entspannen oder sich zu belohnen (vgl. Tretter 2000, S. 22).

2.3.3 Das (neuro-)biologische Erklärungsmodell

Zunächst beruht das (neuro-)biologische Erklärungsmodell auf der einfachen Tatsache, dass chemische Stoffe den Rausch und die Abhängigkeit erzeugen. Die neurochemischen Verbindungen lösen starke Befindensänderungen aus. Wenngleich auch Placebo-Effekte bei verschiedenen Drogen, so auch bei Alkohol, bekannt sind, ist dennoch im Regelfall von unmittelbaren Veränderungen der Aktivität der Neurotransmitter (Noradrenalin, Dopamin, GABA, Glutamat u.a.) auszugehen, erklärt Tretter. (Vgl. 2000, S. 22)

Dieses ätiologische Modell stützt sich auf Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien, die darauf hinweisen, dass, neben den bedeutsamen Umweltfaktoren, genetische Faktoren einen Anteil von 4060 Prozent der Varianz für die Alkoholabhängigkeitsentwicklung ausmachen (vgl. Kendler u.a. 1995 und vgl. Hyman 1999 zit. n. vgl. Schumann 2002, S. 290).

Schmidt und Schmidt fassen einige Daten zusammen (vgl. 2003c, S. 32f.):

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Angehöriger einer Familie mit alkoholabhängigen Familienmitgliedern selbst Alkoholprobleme entwickelt ist 3-4fach erhöht.

Das Erkrankungsrisiko eines eineiigen Zwillings ist 10 mal so hoch, wenn der andere Zwilling alkoholkrank ist.

Wegadoptierte Kinder alkoholabhängiger Eltern behalten, selbst bei gesunden Adoptiveltern, ein erhöhtes Risiko in die Alkoholabhängigkeit zu geraten.

Nicht ein Gen, sondern multiple genetische Faktoren erklären die familiären Häufungsmuster am besten.

Spezifische Genvariationen, die das Erkrankungsrisiko beeinflussen sind noch nicht herausgefunden worden. Die einzig sicher identifizierten risikomodulierenden Gene ADH (Alkoholdehydrogenase) und ALDH (Aldehyddehydrogenase) kontrollieren den Alkoholstoffwechsel.

(Vgl. Schmidt und Schmidt 2003c, S. 32f.)

Schumann erklärt ebenso, dass die Alkoholabhängigkeit eine polygene Erkrankung ist, „deren Phänotypen durch verschiedene, miteinander interagierende Gene beeinflusst werden“ (2002, S. 290).[14]

Kritisch kommentiert Lindenmeyer die biologischen Aspekte, indem er erklärt, dass sich die „... manchmal in den Medien sensationell verbreiteten Forschungsergebnisse über eine angebliche Erblichkeit von Alkoholismus ...“ (2010, S. 77) in der Regel lediglich auf die tatsächlich angeborenen Unterschiede bezüglich der Alkoholverträglichkeit bzw. der Alkoholabbaukapazität der Leber beziehen (vgl. ebd.). Auf die intensive Darbietung der wissenschaftlichen Diskussionen der Vertreter dieses Modells wird an dieser Stelle verzichtet. Im Folgenden wird der Beachtung der

ätiologischen Vernetztheit auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene Vortritt gegeben, denn die Vielzahl der dargestellten Beschreibungs- und Erklärungsmodelle der Alkoholabhängigkeit deuten darauf hin, dass Antworten auf das Alkoholproblem nicht von einer einzelnen wissenschaftlichen Disziplin zu erwarten sind (vgl. Lachmann 2004, S. 144 und vgl. Tretter 2000, S. 29).

2.3.4 Das biopsychosoziale Erklärungsmodell

Für die Praxis ist es nützlich von einem integrativen Ursachenmodell auszugehen und die Alkoholabhängigkeitserkrankung als multifaktoriell bedingt anzusehen (vgl. Trost 2002, S. 310, vgl. Tretter 2000, S. 25 und vgl. Tasseit 1999, S. 58). Die Aspekte der unterschiedlichen ätiologischen Modelle (vgl. Kap. 2.3.1-2.3.3) werden im Folgenden zusammengeführt. „Der Abhängigkeit liegt in der Regel ein Ursachenbündel zugrunde, das sich aus körperlichen, psychischen und sozialen Elementen zusammensetzt“ (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 18).

Ein einfaches biopsychosoziales Modell zur Beschreibung der „multikonditionalen Genese“ (Wienberg 1992, S. 15) von Abhängigkeitserkrankungen wurde im Jahre 1975 von dem deutschen Psychiater und Suchtforscher Wilhelm Feuerlein vorgeschlagen. Es beinhaltet drei miteinander verflochtene Bedingungsfaktoren einer Alkoholabhängigkeit. (Vgl. Wienberg 1992, S. 15 und vgl. Feuerlein 1979, S. 63f.)

Die Bedingungsfaktoren können durch ein Dreiecksschema veranschaulicht werden:

Abb. 1: Droge, Individuum, Sozialfeld (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 21)

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Der erste Faktor, der eine Abhängigkeitsentstehung fördern kann, ist die spezifische Wirkung und die Verfügbarkeit der Substanz Alkohol (Droge) mit seinem Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 22-68 und vgl. Trost 2002, S. 311).

Der zweite Bedingungsfaktor beinhaltet die individuellen Merkmale der trinkenden Person (Individuum). Auf der physiologischen Ebene wird hier die Art und Weise der Alkoholverstoffwechselung (Alkoholmetabolismus) betrachtet (vgl. Kap. 2.3.3) und aus psychologischer Sicht werden erlernte Mechanismen zur Angst- und Spannungsreduktion, psychische Belastungen durch kritische Lebenssituationen und Phasenübergänge sowie die Persönlichkeitsstruktur einbezogen (vgl. Kap. 2.3.2). (Vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 69-87 und vgl. Trost 2002, S. 310)

Das Sozialfeld bzw. die sozialen Bedingungen der Umgebung (Makro-, Meso- und Mikroebene), bilden den dritten Faktor, der eine Abhängigkeitsentwicklung fördern kann (vgl. Kap. 2.3.1). Es wird nicht nur nach den Bedingungen der Primärsozialisation, wie eine unberechenbare Erziehung, Gewalterfahrungen oder eine Modellwirkung abhängigkeitskranker Eltern gefragt, sondern auch danach, wie sich das familiäre Klima heute gestaltet. Die kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen, in denen der Betroffene lebt, stehen im Fokus. Dabei werden nicht nur die beruflichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten des Betroffenen beleuchtet, sondern auch die Einstellungen des direkten Umfeldes, z.B. die der Freunde und Kollegen, und die gesellschaftliche Haltung zum Alkoholkonsum. Auch die Haltung und Wirkung der Massenmedien sind an dieser Stelle von Bedeutung. (Vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 88-113 und vgl. Trost 2002, S. 311) So vielschichtig wie kaum eine andere Krankheitsgruppe sind die Abhängigkeitskrankheiten mit der sozialen Umwelt verbunden (vgl. Lachmann 2004, S. 144). Folglich besteht für Alonso-Fernandez kein Zweifel, dass „... die günstige, außerordentlich liberale Einstellung der Gesellschaft zum Alkoholismus ein sehr mächtiger Faktor in der Verbreitung dieser Krankheit ist“ (1994, S. 66). Selbst bei bereits problematischem Trinkverhalten verharmlost und verniedlicht unsere gestörte Trinkkultur den Alkoholkonsum. „Das wird durch die liebevolle Wortwahl deutlich, mit der die Sauferei der Schluckspechte und Schnapsdrosseln umschrieben wird“ (Schneider 2009, S. 131).

Die Gewichtung der drei beschriebenen Faktoren kann von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein. Bei dem Einen steht die genetische Veranlagung im Vordergrund, bei dem Anderen ist die Abhängigkeit hauptsächlich psychisch begründbar und bei dem Dritten spielen die sozialen Umstände die entscheidende Rolle für die Entstehung einer Alkoholabhängigkeit. (Vgl. Tretter und Müller 2001b, S. 61) Folgt man Tretter, dann beruht das „Drei-Faktoren-Modell“ (2000, S. 26) auf zahlreichen statistisch belegten empirischen Forschungsergebnissen, doch die genaue Art der Wechselwirkungen dieser drei Faktoren ist bislang noch unzureichend geklärt. Weiterhin ist die Blickrichtung solcher Ursachenzuschreibungen von bestimmten zeitgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Sichtweisen abhängig. (Vgl. Veltrup und Batra 2006, S. 254 und vgl. Trost 2002, S. 310) Unabhängig davon, welche Größen den drei Faktoren beigemessen werden, ist dieses einfache biopsychosoziale Modell als Orientierungsrahmen in der individuellen Betreuung und Behandlung der Abhängigkeitsgefährdeten oder bereits Abhängigkeitskranken dienlich und die Kenntnis über die drei unterschiedlichen Aspekte in der Praxis von großer Bedeutung (vgl. Tretter 2000, S. 26 und vgl. Feuerlein 2000c, S. 19).

Auf der Basis dieser Faktoren können drei Teufelskreise (somatisch, intrapsychisch, psychosozial) entstehen, die dem Betroffenen zum Einen als Bewältigungsstrategie der Alkoholabhängigkeit dienen und zum Anderen die Alkoholabhängigkeit aufrecht erhalten lassen (vgl. Tretter 2000, S. 26 und vgl. Feuerlein 2000c, S. 19).

Abb. 2: Teufelskreis der Alkoholabhängigkeit (vgl. Küfner 1981 zit. n. vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 21)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Um anhand dieser Teufelskreise Fragen der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Abhängigkeit zu beantworten, ist eine „dynamische(n) Perspektive auf verschiedenen Ebenen“ (Soyka und Küfner 2008, S. 20) vonnöten. Auf der körperlichen und neurobiologischen Ebene (somatisch) begründet sich der erste Teufelskreis über Toleranzentwicklung, Sensitivierungsprozesse, Entzugserscheinungen und körperliche Erkrankungen (vgl. Kap. 2.4.3). Durch Spannungserleichterung und Schwächung alkoholunabhängiger Problemlösestrategien entsteht der zweite Circulus vitiosus und zwar auf der intrapsychischen Ebene (vgl. Kap. 2.4.1). Soziale Konflikte und Probleme sorgen auf der psychosozialen Ebene für wiederholten Alkoholkonsum und somit für den dritten Teufelskreis (vgl. Kap. 2.4.2). (Vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 20f.)

Der Alkohol als Problemlöser verschafft dem Betroffenen nur kurzfristig eine Erleichterung und eine Art Pseudolösung. Langfristig verstärken sich dagegen die Probleme und Konflikte. (Vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 20f.)

Der intrapsychische Teufelskreis wird von Tretter und Müller (vgl. 2001b, S. 64) durch ein Zitat aus dem Buch „Der kleine Prinz“ von Saint-Exupery veranschaulicht:

Der kleine Prinz fragt, auf einem Planeten angekommen, einen Trinker, warum er trinkt. Der Trinker antwortet: „... damit ich vergesse“. Der Prinz fragt, was er denn vergessen will: „... dass ich mich schäme“ antwortet der Trinker. Nun will der Prinz wissen, warum er sich schämt - „... weil ich trinke“ antwortet der Trinker! (Tretter und Müller 2001b, S. 64)

Das von der WHO entwickelte biopsychosoziale Modell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)[15], das die Komponenten der Gesundheit fokussiert, nennt zwei Kontextfaktoren (Umwelt und Person), die jeweils positiven oder hemmenden Einfluss auf die Gesundheit einer Person haben können (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 9f.).

Abb. 3: Das biopsychosoziale Modell der Komponenten der Gesundheit (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 9)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Umweltfaktoren liegen außerhalb des Individuums und beziehen sich auf die materielle, soziale und einstellungsbezogene Lebenswelt des betroffenen Menschen. Die personenbezogenen Faktoren beziehen sich auf das Individuum und betreffen dessen Alter, Geschlecht, Bildung, Beruf, Erfahrung, Persönlichkeit, andere Gesundheitsprobleme, Lebensstil und Gewohnheiten. (Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 9f. und vgl. Rentsch und Bucher 2006, S. 24)

Der hemmende Einfluss der Kontextfaktoren auf die Gesundheit wird als Barriere oder Risikofaktor bezeichnet. Bezogen auf die Alkoholabhängigkeit gehen diese Risikofaktoren mit einem hohen Grad an Abhängigkeitsproblemen einher. Der positive Einfluss lässt sich als Förder- oder Schutzfaktor betiteln. Dieser ist mit einem niedrigen Grad an Abhängigkeitsproblemen verbunden und dämpft die Effekte der Risikofaktoren. (Vgl. Tretter und Müller 2001b, S. 36) Das Abhängigkeitsrisiko ist demnach „... die Summe von Risikofaktoren minus der Summe der Schutzfaktoren“ (Tretter und Müller 2001b, S. 36). Tretter und Müller beschreiben, dass manche Menschen, die viel Alkohol trinken, nicht abhängig werden, andere jedoch schon sehr früh entgleisen und sprechen damit ebenso die pathogenen und salutogenen Wirkfaktoren an (vgl. 2001b, S. 36 und vgl. Lachmann 2004, S. 144).

Nach dem biopsychosozialen Modell der ICF (vgl. Abb. 3) ist eine Person funktional gesund, wenn vor ihrem gesamten Lebenshintergrund, und dieser bezieht sich auf die Kontextfaktoren,

1. ihre körperlichen und psychischen Funktionen und Körperstrukturen allgemein anerkannten Normen entsprechen (Konzept der Körperfunktionen und -strukturen),
2. sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird (Konzept der Aktivitäten) und
3. sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung der Körperfunktionen bzw. -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen/ Partizipation).

(Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 9)

Liegt ein Gesundheitsproblem wie das der Alkoholabhängigkeit vor, besteht eine negative Wechselwirkung zwischen dieser Krankheit und den Kontextfaktoren. Diese Wechselwirkung schränkt die Körperfunktionen und -strukturen, die Aktivitäten und die Teilhabe am Leben ein. (Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 8) Die daraus resultierenden Beeinträchtigungen werden im System der ICF als Behinderung (vgl. Kap. 2.5) angesehen (vgl. Jungnitsch 2009, S. 206). Behinderung umfasst nicht nur die vorliegende Krankheit, sondern „... ist das Ergebnis eines komplexen Geflechts von Bedingungen, die in der Person selbst liegen oder vom gesellschaftlichen Umfeld in unterschiedlichen Lebensbereichen und Lebenssituationen geschaffen werden“ (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2010, S. 9).

Ein auf die Ätiologie der Alkoholabhängigkeit bezogenes Problem ist, dass die drohende Alkoholabhängigkeit dem Betroffenen und seiner Umwelt häufig lange Zeit unbewusst und damit verborgen bleibt. Klare Grenzen der Abhängigkeitsentwicklung sind in der deutschen Permissivkultur (vgl.

Kap. 2.3.1) nicht erkennbar. Solange selbst das exzessive Trinken in geselligen Situationen geschieht, fällt der problematische Konsum nicht auf. (Vgl. Lindenmeyer 2010, S. 20) Lindenmeyer spricht an dieser Stelle von „soziale(r) Maskierung“ (2010, S. 20). Erst wenn der Betroffene regelmäßig bereits morgens oder verstärkt allein trinkt und die Folgen des Konsums offensichtlicher werden, wird sein Trinkverhalten von seiner Umwelt als ungewöhnlich eingestuft (vgl. Lindenmeyer 2010, S. 20).

Tretter und Müller wenden ein, dass es bei der individuellen Betrachtung von Abhängigkeitskranken in der therapeutischen Praxis schwer fällt, genaue Ursachen für die Erkrankung anzugeben. Es besteht häufig eine korrelative Beziehung zwischen Ursache und Wirkung dieser multifaktoriellen Störung, so dass nur Langzeitstudien einigermaßen sichere Auskunft geben können, was Gründe und was Folgen der Abhängigkeit sind und was unabhängig davon auftritt (vgl. Tretter und Müller 2001b, S. 36).

2.4 Folgeschäden der Alkoholabhängigkeit

Der hohe Alkoholverbrauch der Gesamtbevölkerung (vgl. Kap. 2.2) zieht zahlreiche alkoholbezogene Probleme in der Gesellschaft nach sich. Entwickelt sich beim Einzelnen eine Abhängigkeit, prägt eine Vielfalt von interagierenden psychischen, sozialen und körperlichen Folgeschäden das Leben des Betroffenen und das seines Umfeldes. (Vgl. Gaßmann 2010, S. 5 und vgl. Lindenmeyer 1999, S. 2). Im Folgenden wird näher beleuchtet, in welchem Ausmaß bei alkoholkranken Menschen die Aspekte der Teilhabe, der Aktivitäten und der Körperfunktionen und -strukturen (vgl. Kap. 2.3.4) betroffen sind.

2.4.1 Psychische Folgeschäden

Viele Abhängigkeitskranke weisen abweichende Persönlichkeitsmerkmale von Normalprofilen auf, doch diese sind nicht einheitlich, erklärt Tretter (vgl. 2000, S. 21). Eine klassische Beschreibung der Persönlichkeitsmerkmale geschieht häufig durch Kategorien wie „Extraversion bzw. Introversion

oder Erregbarkeit bzw. emotionale Stabilität“ (Tretter 2000, S. 21). Die perimorbide Persönlichkeit eines Abhängigkeitskranken ist gekennzeichnet „...durch eine erhöhte Depressivität, durch ein geringes Selbstwertgefühl, eine geringere Frustrationstoleranz und erhöhte Psychopathiewerte im Sinne stärkerer sozialer Devianz sowohl in Einstellungen als auch in Verhaltensweisen“ (Barnes 1980, Küfner 1981a, Wanke 1987 und Sieber 1993 zit. n. Soyka und Küfner 2008, S. 235). Ungeklärt bleibt dabei, ob diese psychischen Zustände ausschließlich Folgeerscheinungen der Alkoholabhängigkeit sind oder ob sie bereits vor der Entwicklung der Abhängigkeit bestehen (vgl. Kap. 2.3.2.4 und 2.3.4) (vgl. Tretter 2000, S. 21).

Alonso-Fernandez beschreibt die Persönlichkeitsstruktur eines alkoholabhängigen Menschen mit diesen Worten:

Das Verhältnis des Alkoholikers zur Zeit ist dadurch charakterisiert, daß (!) die Vergangenheit ihm als ein düsterer Abgrund erscheint und er die Zukunft als durch Resignation und Hoffnungslosigkeit versperrt erlebt; zwischen diesen Perspektiven vegetiert er passiv in der Gegenwart. Menschen mit einer derartigen Persönlichkeitsstruktur erleben in der Begegnung mit dem Alkohol eine scheinbar neue Identität. (Alonso-Fernandez 1994, S. 64)

Durch die Persönlichkeitsveränderungen werden die Coping-Fähigkeiten zur Bewältigung psychosozialer Aufgaben beeinflusst. In einer Untersuchung aus dem Jahre 1985 zeigt sich, dass starke Trinker bei Problemlösungen und Stressbewältigungen seltener ihre Gefühle ausdrücken und seltener soziale Beziehungen zur Lösung von Problemen beanspruchen (vgl. Stone, Lennox und Neale 1985 zit. n. vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 235). Im Sinne der ICF können durch die Alkoholabhängigkeit folgende Aspekte der psychischen Körperfunktionen betroffen sein: das Denken, das Gedächtnis, die emotionale Stabilität, das Selbstwertgefühl, die Wahrnehmung, die Urteilsfähigkeit und die Selbsteinschätzung. Weiterhin können aufgrund dieser Wesensveränderungen die Aktivitäten des täglichen Lebens wie Selbstversorgung, Körper- und Kleiderpflege beeinträchtigt werden und auch die Nutzung medizinischer Angebote wird möglicherweise vernachlässigt. (Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 19)

Das Leistungsverhalten des alkoholabhängigen Menschen, z.B. am Arbeitsplatz, wird durch die alkoholbedingten Störungen der psychomotorischen Funktionsfähigkeit (Sprechen und Bewegungskoordination), des visuellen Systems und der kognitiven Funktionen stark beeinträchtigt. So kann es zu Konzentrationsschwierigkeiten, Reaktionsverlangsamung, schlechterer Sehleistung und feinmotorischer Ungeschicklichkeiten kommen. Der Alkoholabhängige büßt Verlässlichkeit ein und macht durch zunehmende Nervosität immer mehr Fehler bei seinen Tätigkeiten. (Vgl. Lindenmeyer 2010, S. 131 und vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 233f.)

Aggressives Verhalten (körperliche Gewalt und verbale Aggressionen) entsteht unter Alkoholeinfluss vor allem in Konfliktsituationen (vgl. Graham u.a. 1996 zit. n. vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 236). Der Alkohol wird als fördernde Bedingung für aggressives Verhalten angesehen, denn die Hemmschwelle für Risikoverhaltensweisen sinkt und bereits vorhandene Aggressionen können freigesetzt werden (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 236). Situative Faktoren wie Provokationen, kognitive Faktoren wie Erwartungen bezüglich der Steigerung des Machtgefühls durch den Alkoholkonsum, sowie Persönlichkeitsfaktoren und soziokulturelle Einflüsse stellen weitere Aspekte der alkoholbedingten Aggressionsauslöser dar (vgl. Klein 1996 und Martin 1992 zit. n. vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 236).

Auch das Sexualverhalten wird häufig durch Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit beeinflusst. Es kann zu sexueller Gewalt und gesundheitlich riskantem Sexualverhalten kommen. Bei der Mehrheit aller Suchtkranken kommt es im Laufe der Abhängigkeitsentwicklung zu sexuellen Problemen wie Impotenz und Libidoverlust, wofür fast ausschließlich psychische und nicht körperliche Ursachen verantwortlich sind. (Vgl. Lindenmeyer 2010, S. 140, 144 und vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 239)

2.4.2 Soziale Folgeschäden

Durch die beschriebenen psychischen Folgeschäden werden Freundschaften und das Freizeitverhalten stark beeinflusst und belastet, was wiederum bedeutende soziale Folgen wie Einsamkeit und Eintönigkeit im Alltag nach sich ziehen kann. Auch hier sind einige Bereiche der Aktivitäten des ICF beeinträchtigt: Durch Probleme in der Kommunikation stellen sich dem Betroffenen Hürden bei der Aufnahme und Pflege sozialer Kontakte in den Weg oder er traut sich diese interpersonellen Aktivitäten ggf. gar nicht mehr zu. Somit wird die Teilhabe an sozialen Beziehungen und an Erholung und Kultur gestört. (Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 19 und vgl. Bosshard, Ebert und Lazarus 2001, S. 297)

Die Familie und den Partner[16] betreffen die sozialen Folgeschäden der Abhängigkeit im gleichen Ausmaß wie den Betroffenen selbst. In Deutschland liegt die Anzahl dieser Betroffenen zwischen 2 und 5 Millionen. (Vgl. Schmidt und Schmidt 2003b, S. 17 und vgl. Feuerlein 2000c, S. 20) Partner und Familienmitglieder des Abhängigen übernehmen im Laufe der Zeit häufig die Verantwortung für die Familie. Sie entwickeln das sogenannte Co-Verhalten und geraten in die Co-Abhängigkeit (vgl. Kap. 2.3.1). Die Kinder und Jugendlichen[17] sind in dreifacher Weise von der Abhängigkeitserkrankung ihrer Eltern betroffen:

1. Da auch das ungeborene Leben schon bei geringen Mengen Alkohol möglicherweise Schaden nimmt, kann es bei einem Embryo und Fötus im Mutterleib einer Abhängigen zu einem Missbildungssyndrom (Alkoholembryopathie) kommen (vgl. Lindenmeyer 2010, S. 67 und vgl. Trost 2002, S. 312f.). In Deutschland werden jährlich 10.000 Kinder mit Beeinträchtigungen, davon ca. 2.000 Kinder mit dem Vollbild des fetalen Alkoholsyndroms geboren (vgl. Roth 2011, S. 28).

2. Mindestens 2 Millionen Kinder leben durch die psychische Dauerbelastung aufgrund der stofflichen Abhängigkeit eines Elternteils mit einem stark erhöhten Risiko, psychisch auffällig zu werden (vgl. Trost 2002, S. 313f.). Enttäuschungen und Misstrauen prägen diese sozialen Beziehungen. Da die betroffenen Kinder in einem Klima chronischer Verunsicherung, Angst und Überforderung aufwachsen, weil ihr abhängiger Elternteil nicht konstant als verlässliche Vertrauensperson gelten kann, kann ein Sorgerechtsstreit vor dem Gericht bis zum Sorgerechtsentzug die Folge der Alkoholabhängigkeit sein. (Vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 242)

3. Das Risiko, selbst abhängig zu werden, ist bei Kindern und Jugendlichen von abhängigkeitserkrankten Eltern sechsfach erhöht (vgl. Trost 2002, S. 314).

Der Abhängige muss nach anfänglicher „nörgelnder Kritik“ (Soyka und Küfner 2008, S. 240f.) seiner Familie im Laufe seiner Abhängigkeitsentwicklung mit schwerwiegenden Ehekonflikten und einer emotionalen Abwendung der Familienmitglieder rechnen. Finanzielle Probleme bilden häufig zusätzliches Konfliktpotenzial, wobei das Auseinanderbrechen der Familie wiederum auch als Ursache des Fortschreitens der Alkoholabhängigkeit gesehen werden kann (vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 241). Die Scheidung der Ehe, so stellen Soyka und Küfner weiter fest, zieht in der Regel nur „... den Schlussstrich unter eine jahrelang bestehende eheliche Desintegration“ (2008, S. 241). Der psychosoziale Teufelskreis (vgl. Kap. 2.3.4) ist in Bewegung.

In der Arbeitswelt (vgl. Kap. 2.4.1) kommt es bei chronischem Alkoholkonsum zu nachlassender Arbeitsleistung, vielen Krankheitstagen, Arbeitsunfällen, Frühberentungen und Arbeitsunfähigkeiten, wobei es laut Lindenmeyer nicht von Bedeutung ist, ob der Betroffene unmittelbar am Arbeitsplatz trinkt oder nicht (vgl. 2010, S. 131 und vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 245). Oft vollzieht sich die berufliche Desintegration etappenweise. Eingetretene Arbeitslosigkeit[18] kann dann wiederum Mitursache für eine weiter fortschreitende Alkoholabhängigkeit sein. (Vgl. Feuerlein 2000c, S. 20)

Die daraus resultierende Konsequenz sind finanzielle Engpässe, die eine Veränderung der Wohnsituation zur Folge haben können. Im schlimmsten Fall endet der Betroffene in der Obdachlosigkeit. Ein dann ggf. nur noch auf die Beschaffung des Alkohols ausgerichteter Lebensstil wirkt sich negativ auf das äußere Erscheinungsbild und das Auftreten aus. Ernährung und Körperpflege werden vernachlässigt. (Vgl. Mundle u.a. 2006, S. 27 und vgl. Bosshard, Ebert und Lazarus 2001, S. 297)

Mit den Termini des ICF ausgedrückt können durch die Abhängigkeitserkrankung Aktivitäten im Zusammenhang mit Schule, Ausbildung und Arbeit beeinträchtigt sein, ebenso wie die Teilhabe an Ausbildung, entlohnter oder unbezahlter Arbeit, an Wohnen und Unterkunft und am wirtschaftlichen Leben (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 19).

Eine weitere soziale Folge einer Alkoholabhängigkeit kann den Kraftfahrzeugführerschein betreffen. Die Verkehrstüchtigkeit nimmt bereits bei 0,3 Promille Blutalkohol ab. Das Wahrnehmungsfeld wird eingeschränkt und das Reaktionsvermögen lässt nach. (Vgl. Lindenmeyer 2010, S. 134) „Es kommt zu einer Unterschätzung der Wirkung des Alkohols auf die eigene Leistungsfähigkeit, zu einer größeren Risikobereitschaft, mangelnder Sorgfalt und einer Schwächung des Verantwortungsgefühls“ (Soyka und Küfner 2008, S. 246). Ab 0,5 Promille ist die Unfallgefahr doppelt so hoch wie im nüchternen Zustand. Wegen Trunkenheit am Steuer kommt es jährlich etwa bei 120.000 Bundesbürgern zum Führerscheinentzug. (Vgl. Lindenmeyer 2010, S. 134) Obwohl bei rund 33.000 Verkehrsunfällen mit Personenschaden (das entspricht 9 Prozent der Verkehrsunfälle mit Personenschaden) Alkohol im Spiel ist und etwa 1.500 Personen jährlich bei Verkehrsunfällen mit Alkoholeinfluss getötet werden (vgl. Schmidt und Schmidt 2003b, S. 17), gilt das Fahren mit Alkohol im Blut trotz strafrechtlicher Verfolgung als „Kavaliersdelikt“ (Stimmer 2000c, S. 567).

Neben den bereits beschriebenen sozialen Folgeschäden ist auch die Delinquenz unter alkoholabhängigen Menschen deutlich erhöht (vgl. Ujeyl und Haasen 2004, S. 28). „Alkohol steht von allen psychoaktiven Substanzen am häufigsten im Zusammenhang mit kriminellen Delikten“ (Soyka und Küfner 2008, S. 249). Pro Jahr werden etwa 238.000 Straftaten unter Alkoholeinfluss (das entspricht etwa 7 Prozent aller Straftaten) begangen. Es handelt sich hierbei hauptsächlich um provozierte Erregungs- und Enthemmungsdelikte, wie Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt, Beleidigung, Sachbeschädigung, Raub, Sexualdelikte, Vergewaltigung und Mord. (Vgl. Soyka und Küfner 2008, S. 249 und vgl. Schmidt und Schmidt 2003b, S. 17) Der Betroffene muss im schlimmsten Fall eine Haftstrafe verbüßen. Mitursache des delinquenten Verhaltens kann die in Kapitel 2.4.1 beschriebene alkoholbedingte Persönlichkeitsveränderung sein, wenn z.B. die Wahrnehmung, die Urteilsfähigkeit und die Selbsteinschätzung gestört sind. Gewalttätigkeiten unter Alkoholeinfluss spielen sich häufig im sozialen Nahbereich ab und fallen deshalb oft unter die unentdeckten Straftaten. Bei sozial desintegrierten Alkoholabhängigen kommt es neben Ordnungswidrigkeiten, wie z.B. Ruhestörung, vielfach zu Bagatelldelikten, wie z.B. Bettelei, Ladendiebstahl, Hausfriedensbruch. (Vgl. Boogaart 2000c, S. 601 und vgl. Feuerlein 2000c, S. 21)

2.4.3 Physische Folgeschäden

Nach der ICF können die Körperstrukturen wie der Stoffwechsel, die Organe und die Gliedmaßen durch die Abhängigkeitserkrankung beeinträchtigt sein (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 19). Es gibt es kaum ein Organ, das nicht in Folge einer Alkoholabhängigkeit geschädigt werden kann (vgl. Abb. 4) (vgl. Ujeyl und Haasen 2004, S. 27, vgl. Teyssen 2002, S. 212 und vgl. Tretter 2001, S. 575).

Abb. 4: Schädigung durch Alkoholmissbrauch (Trost, 2002, S. 292)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bei ca. 10 Prozent aller alkoholabhängigen Menschen kommt es vor allem bei einem plötzlichen Absetzen des Alkohols nach zwei bis sechs Tagen zu dramatischen Fehlschaltungen im Gehirn. Diese besonders schwere Entzugserscheinung als organisch bedingte Psychose geht mit lebhaften Halluzinationen und starker Unruhe einher und wird Delirium genannt. (Vgl. Lindenmeyer 2010, S. 58f.) Bei dieser psychiatrischen Folgeerscheinung können ebenfalls Wahn- und Angstsymptome, Personenverkennungen oder Beziehungsideen auftreten (vgl. Mundle u.a. 2006, S. 33 und vgl.

Schmidt und Schmidt 2003d, S. 58). Die schwerste Form der Gehirnschädigung durch Alkohol nennt man Korsakow-Syndrom[19]. Durch das Absterben entsprechender Gehirnregionen erleidet der Betroffene einen weitgehenden Gedächtnis- und Orientierungsverlust (Demenz), der in der Regel durch Abstinenz nicht mehr heilbar ist. (Vgl. Lindenmeyer 2010, S. 60)

Ein Glas Wein am Abend ist gut für das Herz! - Dieses ist eine weitverbreitete Meinung, die durch die Medien kolportiert wird. Teyssen betont, dass es unverantwortlich ist, wenn nur die positiven Effekte eines moderaten Alkoholkonsums auf das Herz angepriesen werden und die bei derselben Dosis bestehenden Risiken für die Entwicklung einer Krebserkrankung und auch z.B. das gesteigerte Morbiditätsrisiko für eine chronische Bauchspeicheldrüsenentzündung verschwiegen werden (vgl. Teyssen 2002, S. 222). Denn es ist ein Irrtum, dass es nur bei einer manifesten Abhängigkeit zu schweren gesundheitlichen Folgen kommen kann (vgl. Schmidt und Schmidt 2003b, S. 14). „Auch hoher gewohnheitsmäßiger Konsum birgt große Risiken und senkt die Lebenserwartung deutlich“ (ebd.).

Viele alkoholabhängige Menschen realisieren zwar bereitwillig ihre Probleme, erkennen sie aber eher als Ursache und nicht als Folge des übermäßigen Alkoholkonsums an (vgl. Mundle u.a. 2006,S. 26). Von Multimorbidität ist die Rede, wenn neben der Abhängigkeitserkrankung zusätzlich mehrere körperliche und/oder psychische Beeinträchtigungen, als Folge der Abhängigkeit oder unabhängig davon, bestehen (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2006, S. 18). Je weiter die Alkoholabhängigkeit fortschreitet, desto gravierender werden die sich gegenseitig verstärkenden psychischen, sozialen und physischen Schäden und desto größer ist das Ausmaß der betroffenen Aspekte bezogen auf die Teilhabe, die Aktivitäten und die Körperfunktionen und -strukturen im Sinne der ICF. Um die daraus resultierenden oder drohenden Behinderungen, ungünstige Krankheitsverläufe und weitere Krankheitsfolgen positiv zu beeinflussen, ist eine Behandlung der Alkoholabhängigkeit notwendig. (Vgl. Jungnitsch 2009, S. 209 und vgl. Schmidt und Schmidt 2003d, S. 52)

[...]


[1] Betonungen oder hervorzuhebende Begrifflichkeiten werden im Verlauf dieser Arbeit kursiv geschrieben.

[2] Wegen leichterer Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit ausschließlich die männliche Form verwandt, wobei sowohl männliche als auch weibliche Personen gemeint sind.

[3] In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe alkoholabhängiger Mensch, Patient, Ratsuchender, Klient, Konsument, Betroffener u.a. synonym verwandt.

[4] Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Derzeit gilt die 10. Revision (ICD-10). (Vgl. Stimmer 2000c, S. 337) Die Alkoholabhängigkeit ist im ICD-10 im Kapitel V der Kategorie Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (Codegruppe F10-F19) zugeordnet (vgl. Jungnitsch 2009, S. 69 und vgl. Dilling u.a 2006, S. 71ff.). Die ICD-10 ist abrufbar unter: www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2011/index.htm

[5] Das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) ist ein Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (American Psychiatric Association), die diese das erste Mal 1952 in den USA herausgegeben hat. Derzeit gilt die 4. Auflage (DSM-IV). (Vgl. Saß u.a. 2003, S. IX) Das DSM-IV ist abrufbar unter: http://allpsych.com/disorders/dsm.html

[6] Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization) ist eine internationale 1964 gegründeteSonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf. Sie ist die Koordinationsbehörde der Vereinten Nationen für das internationale öffentliche Gesundheitswesen. (Vgl. Stimmer 2000c, S. 641) Weitere Informationen zur WHO sind abrufbar unter: www.who.int

[7] Im DSM-5 wird nicht mehr die römische, sondern die arabische Ziffer verwendet. Diese Tatsache soll als Symbol für grundlegende Änderungen verstanden werden. (Vgl. Rumpf und Kiefer 2011, S. 45)

[8] Die British Medical Association ist ein Britischer Ärzteverband. Weitere Informationen zur BMA sind abrufbar unter: www.bma.org.uk

[9] Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. wurde 1947, damals unter der Bezeichnung Hauptarbeitsgemeinschaft zur Abwehr der Suchtgefahren (HAG), gegründet. 2002 erfolgte die Umbenennung. (Vgl. Stimmer 2000c, S. 104f.) Weitere Informationen zur DHS sind abrufbar unter: www.dhs.de

[10] Nähere Informationen zur Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen e.V (GRPG) sind abrufbar unter: www.grpg.de

[11] Nähere Informationen zur Drogenbeauftragten der Bundesregierung sind abrufbar unter: www.drogenbeauftragte.de

[12] Die Bildung von Gewohnheiten (habits) ist nicht zu verwechseln mit der Gewöhnung (Habituation), von der die Rede ist, wenn es aus pharmakologischer und aus psychologischer Perspektive zu einer „spezifische(n)Reaktionsminderung nach fortgesetzter Reizwiederholung“ (Soyka und Küfner 2008, S. 7) kommt (vgl. Kap. 2.1.2).

[13] Nähere Informationen zur Psychoanalyse sind abrufbar unter: www.psychoanalyse-aktuell.de

[14] Vertiefende Informationen dieser beschriebenen Zusammenhänge sind in Soyka und Küfner (vgl. 2008, S. 114ff.) zu finden und der aktuelle Stand der Genforschung bezüglich der Alkoholabhängigkeit ist abrufbar unter: www.ngfn- alkohol.de

[15] Das International Classification of Functioning, Disability and Health ergänzt die ICD (vgl. Kap. 2.1.2). Sie erfasst den Menschen als biopsychosoziales Wesen und ist ressourcen- und defizitorientiert. Im Jahre 2001 wurde sie durch die WHO verabschiedet. Zuvor hieß sie ICIDH, die in der ersten Fassung im Jahre 1980 publiziert wurde. (Vgl. Rentsch und Bucher 2006, S. 17) Die ICF ist abrufbar unter: www.dimdi.de/dynamic/de/klassi/downloadcenter/icf/endfassung

[16] Gemeinhardt und Farnbacher beleuchten einige Aspekte der Sucht in der Familie intensiver (vgl. 2004, S. 71-82). Klein geht ausführlich auf die Rolle des Partners alkoholabhängiger Menschen ein (vgl. 2001, S. 203-215).

[17] Klein beschreibt die Rolle der Kinder alkoholabhängiger Menschen (vgl. 2001, S. 215-229).

[18] Henkel und Zemlin (vgl. 2008) stellen ausführlich den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Sucht dar.

[19] Das Syndrom ist nach dem russischen Psychiater Sergej Korsakow benannt, der diesen Zustand erstmals im Jahre 1887 beschrieb (vgl. Peters 1997, S. 295).

Ende der Leseprobe aus 163 Seiten

Details

Titel
Alkoholabhängigkeit. Community Reinforcement Approach als Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit
Hochschule
Fachhochschule Kiel
Veranstaltung
Sozialpädagogik / Sozialarbeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
163
Katalognummer
V183715
ISBN (eBook)
9783656082330
ISBN (Buch)
9783656082507
Dateigröße
1042 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Alkoholabhängigkeit, CRA, Soziale Arbeit, Suchthilfe, Verhaltenstherapie, Alkohol, Community, Reinforcement, Approach, Sucht, Abhängigkeit, Lebensweltorientierung, Empowerment, Case Management, Beratung, Counseler, Counseling, Klinische Sozialarbeit
Arbeit zitieren
Dörthe Badenschier (Autor:in), 2011, Alkoholabhängigkeit. Community Reinforcement Approach als Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/183715

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