Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I Einleitendes Vorwort
II Kulturtheoretische Überlegungen von und anhand von Freud
a) Kultur als menschliche Überlebenstaktik
b) Funktionen der Kultur
c) Moral als Grundlage der Kultur?
d) Der Tausch: flüchtiges Glück gegen langfristige Sicherheit
e) Merkmale des Hochstandes einer Kultur
III Der sublimierte Trieb
a) Todes- vs. Lebenstrieb
b) Moral als notwendige Erfindung der Kultur
c) Von der Tabuisierung zur Sublimierung
IV Kulturkritische Überlegungen von und anhand von Freud
a) Das Unbehagen in der Kultur
b) Legitimation der Kultur
c) Eigene Überlegungen zu Geist, Kultur und Natur
V Abschließendes Wort
Literaturverzeichnis
I Einleitendes Vorwort
Ziel dieser Arbeit soll es sein, die Argumentation der Kulturtheorie Freuds und damit auch die Grundlagen seiner Kulturkritik nachvollziehbar zu machen. Angesichts der Fülle an wissenschaftlichen Überlegungen Freuds selber und derer die an seine anknüpfen, kann ich nicht den Anspruch an diese Arbeit stellen, weltbewegend Neues aufzuzeigen. Mein Anspruch kann nur sein, die Gedanken Freuds, die mich interessieren, und die wichtig für die Entwicklung seiner Kulturtheorie sind, aufzugreifen, und anhand derer eigene Überlegungen anzustellen. Es ist ein besonderes Merkmal unserer heutigen Kultur, dass alles in irgendeiner Form schon mal dagewesen ist. Doch neu ist das, was für einen selber neu ist. Freud selbst macht in seiner kulturtheoretischen Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ aus dem Jahre 1930 deutlich: „Ich habe bei keiner Arbeit so stark die Empfindung gehabt wie diesmal, daß ich allgemein Bekanntes darstelle, Papier und Tinte, in weiterer Folge Setzerarbeit und Druckerschwärze aufbiete, um eigentlich selbstverständliche Dinge zu erzählen.“[1] Und trotzdem werden selbst 80 Jahre nach dem Erscheinen dieser Schrift, dem einen oder anderen die in ihr enthaltenen Gedanken zu unserer Kultur neu sein. Die eigentliche Selbstverständlichkeit haftet nämlich nicht dem Wesen der Kultur an, sondern der Art und Weise, wie der Mensch ihr gegenübersteht: Als sei sie selbstverständlich. Das macht es dem Einzelnen insofern einfach, als dass es keines Versuches seinerseits bedarf, sie sich verständlich zu machen. Doch wer diesen Versuch wagt, und mit Freud in die Untiefen kulturtheoretischer Überlegungen eindringt, der wird erkennen, dass die selbstverständlichen Dinge, von denen Freud spricht, unserer alltäglichen Auffassung von Kultur fern liegen. Nichts ist gefährlicher für die Kultur, als dass sie für selbstverständlich genommen wird, denn das macht sie über jede Kritik erhaben. Und wer sollte sie dann noch vor Fehlern schützen?
II Kulturtheoretische Überlegungen von und anhand von Freud
a) Kultur als menschliche Überlebenstaktik
Der Begriff der „Kultur“ umfasst nach Freud „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen […], in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt“.[2] Zunächst stellt sich die Frage, warum die menschliche Lebensweise von der tierischen entfernt ist und ob es auch anders sein könnte. Mag diese Frage trivial erscheinen und ihre Beantwortung gewissermaßen auf der Hand liegen, scheint mir die Beschäftigung mit ihr doch sinnvoll, um sich der Freudschen Kulturauffassung zu nähern. Die Notwendigkeit für den Menschen, sein Leben nicht gemäß der Art und Weise zu bewerkstelligen, wie es das Tier tut, liegt begründet in der Beschaffenheit seiner Wahrnehmung. Durch sein gegenwarts- und objektungebundenes, abstraktes Denkvermögen sieht er sich vor Anforderungen gestellt, denen er nicht, wie das Tier, instinktiv, mehr oder weniger automatisiert, begegnen kann. Das Tier ist vollkommen eingebettet in den natürlichen bzw. naturgegebenen Kreislauf. Es folgt einer Art Programm, das sein Überleben und das Fortbestehen des gesamten Kreislaufes ordnet und sichert. Der Mensch ist nicht Teil dieses Programmes. Im Gegensatz zu den meisten Tieren ist er noch lange nach seiner Geburt nicht in der Lage, sein Überleben selbständig zu sichern. Und auch sonst besitzt er kaum motorische oder sensorische Fähigkeiten, die ihm in der freien Wildbahn, etwa bei der Jagd, einen entscheidenden Vorteil verschaffen könnten. Er trat zunächst auf als „schwaches Tierwesen“[3], doch sein Geist verschafft ihm besagten entscheidenden Vorteil und stellt zugleich die Kompensation vorhandener, motorischer und sensorischer Mängel dar.
b) Funktionen der Kultur
Der Mensch begreift die Natur als ihm gegenübergestellt. Er muss die Mittel seines Überlebens Kraft seines Geistes unter Einbeziehung des Vergangenen und des zu Erwartenden selbst wählen und die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens selbst herstellen. Nach Freud dient die menschliche Kultur eben diesen zwei Zwecken: „dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.“[4]
Als kulturelle Errungenschaften lassen sich also zunächst die kennzeichnen, die den Zweck verfolgen, dem Menschen die Natur nutzbar zu machen und ihn vor den Naturgewalten zu schützen.[5] An erster Stelle dieser Errungenschaften ist hier das Werkzeug zu nennen. Werkzeuge dienen immer dem einen Zweck, etwas Gegebenes so weit zu modifizieren, dass es hinterher dem Menschen nutzt. So stellt die Kultur ein einziges großes Werkzeug dar, mit Hilfe dessen die Natur bis zur Nutzbarkeit modifiziert wird. Der Nutzen, der aus ihr gezogen wird, ist die Selbsterhaltung der menschlichen Rasse und - mit fortschreitender Technisierung- der steigende Komfort, mit dem uns die Selbsterhaltung zugleich so bequem als möglich gemacht werden soll. Die „Triebfeder aller menschlichen Tätigkeiten [ist] das Streben nach den beiden zusammenfließenden Zielen, Nutzen und Lustgewinn“[6].
Die zweite Funktion von Kultur ist die Regelung menschlicher Beziehungen. Der erste kulturelle Schritt zur Erfüllung dieses Zweckes war nach Freud die „Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft.“[7] Es lohnt sich an dieser Stelle, den Ausdruck „Regelungen menschlicher Beziehungen“ näher zu betrachten. Zunächst lässt sich ja die unanfechtbare Behauptung aufstellen, dass die menschlichen Beziehungen auch im vorvertraglichen Zustand, das heißt vor der Entmachtung des Einzelnen, geregelt waren, mit dem Unterschied, dass jeder seine Regeln für den Umgang mit anderen Einzelindividuen selbst für sich aufgestellt hat. Inwiefern er diese Regeln aufrecht erhalten, das heißt gegenüber anderen Individuen behaupten bzw. durchsetzen konnte, das hing wiederum von seiner physischen Verfasstheit ab. Der Begriff der Regelung im hier verwendeten Sinne ist also durch etwas anderes gekennzeichnet, nämlich durch das, wodurch er auch unserem Alltagsverständnis nach gekennzeichnet ist: Regeln gelten für alle.
c) Moral als Grundlage der Kultur?
Die individuelle Freiheit „war am größten vor jeder Kultur“[8]. So stellt sich die Frage, aus welchem Antrieb heraus das freie Individuum des Naturzustandes einer Einschränkung seiner Freiheit zustimmte. Hierzu soll an dieser Stelle eine Überlegung angestellt werden. Es geht dabei, in aller Trivialität, grundsätzlich um die Frage, zu der auch Freud Stellung nimmt, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist. Erkannten die Einzelindividuen das jedem von ihnen innewohnende Gute? Bestand eine individuelle Vorstellung von Moral, deren Schnittmenge in den Grundwerten des gemeinschaftlichen Regelwerks manifestiert werden sollte? Es darf bezweifelt werden, dass das freie Individuum des vorkulturellen Zustandes eine Vorstellung von Moral besaß. Jedoch, nach Schopenhauers nachvollziehbarer Definition, ist die Grundlage jeder moralischen Handlung die menschliche Fähigkeit des Mitleidens.[9] Diese Fähigkeit ist nicht erst durch Kultivierung entstanden, sie ist nicht erlernt, sondern Teil der menschlichen Natur.[10] Es ist also zumindest denkbar, dass der vorkulturelle Mensch ein auf Mitleiden beruhendes Verhalten im Umgang mit einzelnen Artgenossen pflegte und dieses Verhalten vorzugsweise für alle verpflichtend gewusst hätte. Denn logischerweise ist es dem eigenen Da- und Wohlsein[11], nach dem jede egoistisch motivierte Handlung strebt, geradezu abträglich, eine mitleidende Einstellung zu vertreten, wenn von kaum jemand anderem Mitleid erwartet werden kann. Hier offenbart sich ein Widerspruch. Wenn der Daseinsdrang des Menschen immer egoistisch motiviert ist, steht er im Kontrast zur Moralhandlung, die, nach Schopenhauer, frei von jedwedem persönlichen Nutzen ist. So ist es denn auch schwer zu glauben, dass der erste kulturelle Schritt der Menschheit aus moralischer Überzeugung, aus dem Streben nach hehren Werten, hervorgegangen sein soll. Die Moral als das kulturstiftende Element, ist auszuschließen. Es ist andersherum zu betrachten: die Kultur ist ein moralstiftendes Element. Der Mensch muss zur Moral erzogen werden, und dass dies überhaupt möglich wird, ist seiner Fähigkeit zum Mitleiden zu verdanken. Diese Überlegung wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch bedeutsam werden.
[...]
[1] Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur, und andere kulturtheoretische Schriften“. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, 1994, S.80/81
[2] Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, S.55
[3] Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, S.57
[4] Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, S.56
[5] Vgl. Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, S.56/57
[6] Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, S.60
[7] Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, S.61
[8] Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, S.61
[9] Vgl. Arthur Schopenhauer, „Über die Freiheit des menschlichen Willens/Über die Grundlage der Moral“. Kleinere Schriften II. Diogenes-Verlag, Zürich, 1977, S.248
[10] Vgl. Schopenhauer, „Über die Grundlage der Moral“, S.249
[11] Vgl. Schopenhauer, „Über die Grundlage der Moral“, S.235