Leseprobe
Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“, aus dem Jahr 1810, handelt von einem Rosshändler, dessen Streben nach Gerechtigkeit und Prinzipientreue auf ein scheinbar nichtiges Unrecht, eine Vielzahl schrecklicher und tragischer Ereignisse folgen lässt. Michael Kohlhaas ist ein angesehener und wohlhabender Rosshändler, dem eines Tages ein unumstrittenes Unrecht auf der Tronkenburg von Seiten des Junkers Wenzel von Tronka widerfährt. Kohlhaas, unerschütterlich in seinem Streben und Glauben an das Rechtssystem, das ihm sein Heimatland garantieren sollte, wird jedoch bitterlich von Selbigem enttäuscht, als die Klage, deren Gegenstand mit unter zwei von dem Junker zugrunde gerichtete Rappen sind, an allen für Kohlhaas zugänglichen Rechtsinstanzen niedergeschlagen wird. Der Grund hierfür sind die verwandtschaftlichen Beziehungen, die dem Junker zu seinem unverdienten Recht verhelfen. Beim Versuch, die Klage dem Kurfürsten zu übermitteln, kommt auf tragische Weise sogar Kohlhaas‘ geliebte Ehefrau zu TodeǤ Auf dieses erschütternde Ereignis folgt Kohlhaas‘ erste Wandlung hinsichtlich seines Handelns, das er von nun an mit dem Fehderecht rechtfertigt, als auch von seinem Wesen, das ihn in seiner Kompromisslosigkeit zu ungeheuren Taten veranlässt. Kohlhaas sieht sich selbst bald als Racheengel, bzw. als Engel des Gerichts, der vom Himmel herabfährt (vgl. S. 33, Z.13). Seine Jagd auf den Junker beschert ihm einen Zulauf von Anhängern in Mengen, mit denen zusammen Kohlhaas kein Mittel ungerechtfertigt sieht, sein Recht einzufordern. Trotz seiner dreimaligen Brandschatzung Wittenbergs und Leipzigs, bei deren zahlreiche unschuldige Bürger ihr Leben lassen, scheint das Volk, dem die Handlungsweise der Obrigkeit ebenso zu missfallen scheinen, auf seiner Seite zu stehen. In Wittenberg, wo dem Junker Schutz geboten wird, muss dieser sogar um sein Leben fürchten, als ein aufgeheizter Mob seine Auslieferung fordertǤ Kohlhaas‘ Anhängerschaft zählt bald schon hunderte Mann und beginnt, beflügelt durch zahlreiche militärische Erfolge, der Obrigkeit bis hin zum Kurfürsten selbst Angst vor einer Revolution einzuflößen. Schließlich schaltet sich Martin Luther, Kohlhaas‘ einzig verbliebende irdische Autorität, ein. Kohlhaas, nach dem Gespräch mit Luther versehen mit der Aussicht auf Amnestie und gerechtem Fortgang seines Rechtsgesuchs, bekommt diese auch gewährt, da er in einer Sitzung, der der Kurfürst selbst vorsteht, als ein zu hohes Risiko für die Obrigkeit anerkannt wird. Die Dinge scheinen gut für Kohlhaas zu verlaufen, seine Anhängerschaft ist aufgelöst und sein Prozess, an dessen Erfolg sich von seiner Warte aus schwer zweifeln lässt, verläuft ebenfalls nach Kohlhaas‘ VorstellungenǤ Weiter werden Nachforschungen von Seiten der Beschuldigten aus dem Hause Tronka nach dem Verbleib der beiden Rappen eingeholt, woraufhin diese zu Kohlhaas‘ Ansicht auf den Marktplatz von Dresden geführt werden. Im Handlungsaufbau stellt diese Szene die Krisis dar, auf das vermeintlich sicher gedachte, positive Ausgehen des Rechtsgesuchs folgen Ereignisse, die bis hin zu Kohlhaas‘ Hinrichtung führenǤ Denn als die Rappen zur Ansicht zuerst dem Vetter des angeklagten Junkers, dem Kämmerer Kunz vorgestellt werden, heizt sich die Stimmung im Volk gegen diesen mehr und mehr auf. Kunz, ohnehin gedemütigt und aufgebracht durch die Aussicht auf die Schmach, die auf seine angesehene Familie zu fallen droht, lässt sich vom Volk, bzw. vom Abdecker, der die Pferde herbeischafft, noch weiter provozierenǤ Bei Kohlhaas‘ Eintreffen identifiziert dieser die Rappen lediglich durch einen flüchtigen Blick, was ungewöhnlich erscheint, da der Wenzel von Tronka vorhergehend die Rappen als Verwechslung bezeichnete und deren Beschaffung ebenfalls in zweifelhafter Form ablief. Dem Kämmerer hingegen ist es nur Recht, die Situation zügig abzuschließen, sodass dieser schließlich den Abdecker bezahlt. Als nun jedoch in der vorgelegten Szene der Kämmerer einen Knecht beauftragt, die Rappen zur geforderten Dickfütterung und Wiederherstellung in seine Ställe zu bringen, wird der Kämmerer von diesem und dem Meister Himboldt aufs tiefste düpiert. Diese Erniedrigung lässt die Situation gewaltsam eskalieren wobei Kunz dabei schwer verletzt wird. Die Stimmung im Volk richtet sich nachfolgend zunehmend gegen Kohlhaas. Aufgrund der Angst vor Intrigen und des Bruchs der Amnestie unternimmt dieser einen Fluchtversuch, der jedoch scheitert, und zu seinem Todesurteil führt. Im Fortgang der Novelle ändert sich schließlich noch die Gerichtsbarkeit des Landes, unter das Kohlhaas fällt, was ihn jedoch nicht vor dem Tode auf dem Schafott bewahrtǤ Zu guter Letzt wird Kohlhaas‘ Rechtsgesuch jedoch stattgegeben und all seinen Forderungen nachgekommen. Dem Kurfürsten von Sachsen jedoch kostet Kohlhaas‘ Erfolg über ihn die Gesundheit und den Seelenfrieden.
Wie es zu dieser Krisis auf dem Marktplatz kommt, lässt sich an den einzelnen Protagonisten, dem Meister Himboldt und dessen Knecht als Vertreter des Volkes und des Kämmerers Kunz, seinerseits Vertreter des Adels, und deren Handlungsweisen klar aufzeigen. Kohlhaas spielt in dieser Szene eine eher passive Rolle. Er taucht auf Bitte des Kämmerers kurz auf, um die Rappen als die Seinigen anzuerkennen. Er scheint des Disputs müde und erkennt die Rappen aus großer Distanz und ohne genauere Musterung dieser als sein Eigen an (vgl. S. 67, Z. 38; S. 68, Z. 1f.) Daraufhin wirft Kunz dem Abdecker seine Bezahlung entgegen und befiehlt einem Knecht, die Pferde fortzuführen. Dieser wird jedoch von seinem Vetter, dem Meister Himboldt grob davon abgehalten. Der Kämmerer „der über diesen Vorfall sprachlos dastand“ (SǤ 68, ZǤ 25), will daraufhin „vor Wut schäumend“ (SǤ 68, ZǤ 28) den Meister verhaften lassenǤ Dem Meister jedoch gelingt es durch geschickte Rhetorik (vgl. S. 69, Z. 3 ff.), die an Belehrung grenzt, den Kämmerer auszuspielen und seine Handlung als zu voreilig zu brandmarken. Trotz der geladenen Stimmung, der Wut und Emotionalität des Kämmerers und der Anmaßung, die sich der Mann aus bürgerlichem und damit niedrigerem Standes bedient, geht Kunz auf die Aufforderung ein, und befragt den Knecht, ob dies sein Wille sei. Demnach muss sich Kunz ein weiteres Mal die Schmach gefallen lassen, sich nicht seiner Willkür, die ihm durch das geltende, auf das Gottesgnadentum zurückzuführende Machtsystem durchaus zusteht, bedienen zu können, ohne einen Aufstand des Volkes zu riskieren. Welch ein Groll muss in des Kämmerers Brust wüten: Eine Niederlage in der Kohlhaasschen Sache steht nun unmittelbar bevor, es liegt an ihm seinen jämmerlichen Vetter zu verteidigen (vgl. S. 64, Z. 21ff.), und vor der versammelten Menge, die „höhnisch auf ihn einblickte“ (SǤ 66, ZǤ 7), spricht nun auch der Abdecker mit ihm, als wäre er ein gewöhnlicher Handeltreibender (vgl. S. 65, Z. 27ff). Der Knecht, dessen Aversionen gegen Kunz seine Angst vor diesem in der Obhut der Bürger übersteigt (er mischt sich „schüchternǤǤǤ unter die Bürger“ vglǤ SǤ 69, ZǤ 16f) erwidert nun tatsächlich gegenüber einem Kämmerer, eines Vertreter des Adels, dass ihm diese Aufgabe „nicht zumutbar“ sei (vglǤ SǤ 69 ZǤ 18). Dieser Trotz, dieses anmaßende Verhalten, das zuvor auch Luther an Kohlhaas missfiel (Vgl. S. 50, Z. 17), lässt den Kämmerer schlussendlich seine Fassung verlierenǤ Kunz greift den Knecht „von hinten“, also von unehrenhafter und überlegener Position an, reißt ihm den Hut vom Kopf, der „mit seinem Hauszeichen geschmückt war“ (SǤ 69, ZǤ 19) und tritt diesen auf dem Boden zusammen. Durch diese entehrende Aktion, denn ein Hauszeichen ist im Volk von großer Bedeutung, zieht Kunz den Groll der Bürger nun restlos auf sich. Auf den Ausruf Meister Himboldts: „schmeißt den Mordwüterich doch gleich zu Boden“ folgend, bedient sich Kleist nun eines ungewohnt kurzen und prägnanten Satzbaus. Die Szene, in der Himboldt Kunz angreift, wird dem Leser durch diese schnell aufeinander folgenden Sätze bildlich vor Augen geführt. Durch die eines Klimax ähnliche Abfolge „warf dem Kämmerer von hinten nieder, riss ihm Mantel, Kragen und Helm ab, wand ihm das Schwert aus der HandǤǤǤ“ (SǤ 69, Z. 26ff.) erzeugt Kleist eine Spannung, die die Dramatik der Szene, nämlich dass ein Bürger, dem die Folgen bzw. die Strafe die sein Handeln mit sich bringen wohl bekannt sind, sich gegen die Obrigkeit wendet und von seinem Widerstandsrecht Gebrauch macht, verdeutlicht. Im Kontrast zu Himboldts Mut erwähnt der Erzähler gleich darauf wie der Junker Wenzel den Rittern zuruft, sie mögen seinem Vetter zu Hilfe eilen (Vgl. S. 69, Z. 30f.). Von Eigeninitiative jedoch keine Spur, was verständlich ist im Hinblick auf die Gefahr, die von der Menge ausgeht, jedoch zur damaligen Zeit als unehrenhaft und feige hätte ausgelegt werden können. Der Kämmerer, der sich beim Sturz am Kopf verletzt hat, ist nun „der ganzen Wut der Menge preisgegeben“ (SǤ 69, ZǤ 35fǤ)Ǥ Das Volk wendet sich demnach geschlossen gegen die herrschende Obrigkeit und übernimmt eine aktive Rolle. Das Eingreifen eines berittenen Trupps beendet jedoch zeitnah den Tumult, rettet den schwer verwundeten Kunz und führt ihn nach HauseǤ Der „Anstifter“ Meister Himboldt wird hingegen umgehend ins Gefängnis gebracht. Der Erzähler fasst das Vorgefallene nun mit dem Satz: „einen so heillosen Ausgang nahm der wohl gemeinte und redliche Versuch, dem Rosshändler [...] Genugtuung zu verschaffen“ (SǤ 70, ZǤ 8ffǤ) zusammen und stellt sich selbst so deutlich auf die Seite des Adels bzw. wird dem Anspruch eines Chronisten, eine neutrale Position innezuhalten, nicht mehr gerecht. Kleist bedient sich eines „unzuverlässigen Erzählers“, der eigǤ redlich und neutral auftreten sollte. Es besteht demnach eine Diskrepanz zwischen der Erwartungshaltung an den vermeintlich neutralen Erzähler, und schließlich dessen Auftretens. Denn „redlich“ und „wohlgemeint“ ist der Versuch des Kämmerers und seiner Verwandten in keinster WeiseǤ Eher aus Angst vor der „gefährlichen Stimmung im Volk“ (vglǤ SǤ 57, ZǤ 36f.) und aus dem Vorsatz, nicht noch mehr Schande über den Namen Tronka kommen zu lassen handeln die Protagonisten einstweilen so, wie sie es tun. Im weiteren Verlauf werden die Rappen vernachlässigt und unbeaufsichtigt stehen gelassen (vgl. S. 70, Z. 15f.) und verkörpern so in ihrer Funktion als Dingsymbol der Novelle den Rückschlag des kohlhaasischen Rechtsgesuches. Eine Lösung des Rechtsfalles scheint nahe, wie auch die Genesung der Rappen, doch durch die Krisis, die sich fatal auf den Fortgang des Prozesses auswirkt, ist ebenfalls das Schicksal der Rappen wieder ähnlich ungewiss wie zu BeginnǤ Dieser Vorfall „so wenig ihn der Rosshändler auch verschuldete“ (SǤ 70, ZǤ 22) verschlechtert nun jedoch die Stimmung des Volkes eher zugunsten der Obrigkeit und gegen Kohlhaas. Dieses Paradoxon lässt sich damit erklären, dass die Absichten des Volkes eher auf eine Sicherstellung der eigenen Unversehrtheit und des ungestörten Friedens konzentriert sind, als auf eine gerechte individuelle Rechtsprechung. Schon als
[...]