Bindungsverhalten und Biografiearbeit in Pflegefamilien im Kontext der Kindeswohlgefährdung


Bachelorarbeit, 2010

78 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

1 PROBLEMFELD KINDESWOHLGEFÄHRDUNG
1.1 ERSCHEINUNGSBILDER DER KINDESWOHLGEFÄHRDUNG
1.1.1 BEGRIFF DER KINDESWOHLGEFÄHRDUNG
1.1.2 PSYCHOSOZIALE PROBLEME - NACH STUDIEN VON PROF. DR. KLAUS HARTMANN
1.2 URSACHEN DER KINDESWOHLGEFÄHRDUNG
1.3 FOLGEN VON KINDESWOHLGEFÄHRDUNG

2 BINDUNGSVERHALTEN IN PFLEGEFAMILIEN
2.1 BINDUNGSVERHALTEN
2.1.1 BINDUNGSENTWICKLUNG
2.1.2 BINDUNGSMUSTER UND BINDUNGSQUALITÄTEN
2.1.3 BINDUNGSREPRÄSENTATIONEN
2.1.4 BINDUNGSREPRÄSENTANZEN ERWACHSENER
2.2 BINDUNGSAUFBAU IN DER PFLEGEFAMILIE
2.3 KOOPERATION ZWISCHEN JUGENDAMT UND PFLEGEFAMILIE
2.4 BINDUNGSSTÖRUNGEN
2.4.1 BINDUNGSQUALITÄT UND BINDUNGSSTÖRUNG
2.4.2 UMGANG MIT BINDUNGSSTÖRUNGEN

3 BIOGRAFIEARBEIT
3.1 DEFINITION UND ERLÄUTERUNG
3.2 HISTORISCHER HINTERGRUND
3.2.1 PSYCHOANALYSE - SIGMUND FREUD
3.2.2 ARBEIT MIT FAMILIEN - IVAN BOSZORMENYI-NAGY
3.2.3 FAMILIENTHERAPIE - MONICA MCGOLDRICK
3.3 MERKMALE DER BIOGRAFIEARBEIT
3.4 PSYCHOLOGISCHE THEORIE
3.5 WIRKUNG DER BIOGRAFIEARBEIT
3.5.1 IDENTITÄTSFRAGEN
3.5.2 INHALTE UND DAUER DER BIOGRAFIEARBEIT
3.5.3 HALTUNG DES ERWACHSENEN
3.6 METHODEN DER BIOGRAFIEARBEIT

4 FALLBEISPIEL
4.1 VORGESCHICHTE
4.2 BIOGRAFIEARBEIT
4.2.1 BIOGRAFIEARBEIT MIT U.
4.2.2 GENOGRAMMARBEIT MIT DER KINDESMUTTER
4.2.3 GENOGRAMMAUSWERTUNG UND ERKENNBARE MUSTER
4.2.4 ERSTELLUNG EINES LEBENSBUCHES MIT U.
4.2.5 AUSWERTUNG UND ZUSAMMENFASSUNG DER BIOGRAFIEARBEIT

5 ZUSAMMENFASSUNG

LITERATURVERZEICHNIS

ANLAGEN
ANLAGE A Die fremde Situation
ANLAGE B Der Fall Uwe
ANLAGE C Charakteristische Merkmal nach Hartmann
ANLAGE D Planung der Biografiearbeit
ANLAGE E Das Lebensbuch
ANLAGE F Das narrative Interview
ANLAGE G Familiendaten
ANLAGE H Genogramm

Einleitung

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ Dr. Jörg Maywald

Kinder - die Hoffnungsträger jeder Gesellschaft - werden auch in Deutschland mehr und mehr benachteiligt. Obwohl das deutsche Sozialsystem mit an der Spitze in Europa steht, gibt es Straßenkinder, zunehmende Kinderarmut, Vernachlässigung und Misshandlung.

Ich möchte meine Arbeit den, in ihrem Wohlergehen gefährdeten Kindern, der Entstehung ihrer Situation und der öffentlichen Jugendhilfe in Form von Pflegestellen als eine Möglichkeit, gefährdeten Verhältnissen entgegenzuwirken, widmen.

In meiner alltäglichen Arbeit mit sozial benachteiligten und von Kindeswohlgefährdung betroffenen oder bedrohten Kindern wird mir immer wieder deutlich, welche große Bedeutung die Auseinandersetzung mit ihrer Biografie für deren seelische Gesundung hat. Deshalb möchte ich auf die Biografiearbeit als einer Form sozialpädagogischer Arbeit hier insbesondere mit Pflegekindern, am Rande aber auch mit Pflegeeltern und Herkunftsfamilien eingehen. Abschließend möchte ich das theoretisch Dargelegte an einem Fallbeispiel verdeutlichen.

Pflegefamilien sind Paare oder Familien, die in der Regel keine pädagogische Ausbildung haben und sich auf Grund ihrer persönlichen Erfahrungen, ihrer Weltanschauung oder ihrer Lebenseinstellung dazu entscheiden, ein „fremdes“ Kind in ihre Familie aufzunehmen. Die Bereitschaft dazu kann nicht hoch genug gewürdigt werden, bedenkt man, dass das Kind 24 Stunden täglich, jeden Tag ohne Pause am intimsten Familienleben teilnimmt.

Derzeit leben in der Landeshauptstadt Dresden 127 Kinder in solchen Pflegefamilien. Bei etwa 20 % dieser Kinder stehen die leiblichen Eltern wegen schwerer Krankheit, vergleichbaren Situationen oder gar Tod nicht mehr zur Verfügung. Die verbleibenden 80 % können nicht in ihrer Herkunftsfamilie leben, weil dort zur Zeit ihr Kindeswohl nicht sichergestellt werden kann.1

Pflegekinder bringen individuelle, sehr unterschiedliche Problemlagen mit in die Pflegefamilie. Die in der Arbeit noch genauer beschriebene Ich-Identität oder auch das Lebenskonzept dieser Kinder, welches bereits in der Kindheit konstruiert wird, ist meist von verschiedenen „Fehlschlüssen“ der Vergangenheit geprägt und passt so nicht in das System der neuen Familie. Die Identität der Kinder ist oft geprägt von starken „Wiederverlassenwerdensängsten“ und von der Angst erneut Beziehungen einzugehen. Die meist daraus entstehende Schutzhaltung (keine neue Beziehung eingehen als Schutz vor dem wieder Verlassen- und Enttäuschtwerdens) ist eine Art Bewältigungsstrategie der bisherigen Lebensgeschichte. Ihre seelischen Verletzungen bringen die Kinder meist in scheinbar unverständlichen Verhaltensweisen zum Ausdruck.

Pflegefamilien sollen insbesondere zur Aufnahme und Betreuung jüngerer Kinder (0 - 6 Jahre) zur Verfügung stehen. Hintergrund ist, dass man ausgehend von der Bindungstheorie beabsichtigt, diesen Kindern feste Bezugspersonen anzubieten um Bindungsmöglichkeiten zu schaffen. Gerade in diesem Alter äußert sich alles bisher Erlebte im Verhalten und kann noch nicht kognitiv aufgearbeitet werden Für Pflegeeltern ist es sehr schwer, soviel Verständnis, Geduld und Zuversicht aufzubringen, um mit so „problembehafteten“ Kindern zusammen zu leben und eine Beziehung aufzubauen. Hier ist die Biografiearbeit ein guter Ansatz, um die richtige Richtung zu finden und erstes Vertrauen aufzubauen. Zuerst handelt es sich hier natürlich um Biografiearbeit in der die Pflegefamilie in Teile der Geschichte des Kindes eintaucht und lernt, diese wertungsneutral zur Kenntnis zu nehmen.

Ist das Kind alt genug, wird es entsprechende Fragen nach vergangenen Ereignissen aus seiner Lebensgeschichte stellen. „Weist Du noch, als ich mit dem Holzroller den Sandberg hinunter gefahren bin und meine Zähne ganz sehr geblutet haben ...?“ Normalerweise würden die Eltern nun die Frage aufgreifen und entsprechend antworten: „Ja, wir waren alle sehr erschrocken und Mutti ist gleich, so schmutzig wie Du warst, mit dir zum Zahnarzt gerannt ...“ Durch diese Gespräche können frühe Erinnerungen verbalisiert, konkretisiert und in die eigene Biografie aufgenommen werden.

Pflegekinder haben eine solche Möglichkeit nicht. Aus diesem Grund kommt es nicht selten zu Fehlinterpretationen von bruchstückhaft vorhandenen Erinnerungen. Die eigene Biografie wird „zurechtinterpretiert“ was viel zu positiv oder auch viel zu negativ für das Kind sein kann. Häufig werden Herkunftseltern „positiv verklärt“ und die eigene Person des Kindes als für alle Geschehnisse schuldig dargestellt. Entsprechend ist das Verhalten des Kindes in der Pflegefamilie. Die oftmals bisher nur negativ und feindlich erlebte Umwelt wird natürlich auch auf die Pflegefamilie übertragen, was eine unsagbar schwierige Ausgangssituation für diese darstellt.

Da die Pflegefamilie wie bereits gesagt, ohne pädagogische Ausbildung ist und in einem Vorbereitungskurs eher „umgangspädagogische“ Kenntnisse vermittelt bekommt, kann man nicht erwarten, dass sie ohne jede professionelle Hilfe in der Lage sein wird, Biografiearbeit mit positiven Ergebnissen zu leisten. Oftmals schlägt der Umgang mit den Bruchstücken der Biografie des Kindes, die den Pflegeeltern bekannt wurden, ins Negative, das heißt, zum Nachteil des Kindes, um. In der guten Absicht, dem Pflegekind die Sicherheit in der Pflegefamilie zu verdeutlichen, werden Situationen aus der Biografie des Kindes (unbeabsichtigt) geringschätzig dargestellt. Die Herkunftsfamilie und damit unbeabsichtigt auch das Pflegekind werden, zumindest im Gefühl des Kindes, herabgewürdigt. Damit wird für das Kind ein Kreislauf fortgesetzt, den es ohne Hilfe nicht durchbrechen kann. Daraus folgt, dass Pflegeltern unbedingt professionelle Unterstützung haben müssen, um Biografiearbeit leisten zu können. Wie diese Unterstützung aussehen könnte möchte ich in dieser Arbeit darstellen.

Im ersten Teil der Arbeit werde ich den Begriff der Kindeswohlgefährdung unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten um Gründe herauszustellen, warum Kinder aus ihren Herkunftsfamilien in Pflegestellen gelangen.

Der zweite Teil widmet sich den Bindungstheorien speziell bezogen auf Pflegekinder. Ich werde die Frage bearbeiten, welcher Zusammenhang zwischen Kindeswohlgefährdung und Bindungstheorie besteht.

Der dritte Teil der Arbeit beschreibt die Geschichte, die Ziele und Methoden der Biografiearbeit. Welche Bedeutung hat die Biografiearbeit für das Leben eines Menschen und welche spezielle Bedeutung hat Biografiearbeit für Kinder, die nicht in ihrer Herkunftsfamilien leben? Welche Spezifik ergibt sich daraus?

Im letzten Teil werde ich das Beschriebene an einem Fallbeispiel darstellen und Vorschläge für die weitere praktische Arbeit auf dem Gebiet der Biografiearbeit in Pflege- und Herkunftsfamilien machen.

Der Übersichtlichkeits- und besseren Lesbarkeitshalber habe ich verallgemeinernd in der männlichen Form geschrieben, möchte damit aber selbstverständlich auch alle betreffenden weiblichen Personen nicht ausschließen.

1 Problemfeld Kindeswohlgefährdung

1.1 Erscheinungsbilder der Kindeswohlgefährdung

1.1.1 Begriff der Kindeswohlgefährdung

Von einer Kindeswohlgefährdung spricht man bei Vernachlässigung, bei physischer (körperlicher), bei psychischer (seelischer) und/oder sexueller Misshandlung eines Kindes oder Jugendlichen. Körperliche Misshandlung umfasst alle gewaltsamen Handlungen, die dem Kind körperliche Verletzungen und Schäden zufügen. Sie kann in vielen verschiedenen Formen ausgeübt werden.

Unter seelischer Misshandlung sind alle Äußerungen oder Verhaltensweisen zusammengefasst, die das Kind wiederholt oder andauernd verängstigen, es herabsetzen oder überfordern und ihm das Gefühl eigener Wertlosigkeit vermitteln. Dazu zählen zum Beispiel Ablehnung, Verweigerung emotionaler Zuwendung, Isolierung und/oder Erpressung. Neben dem ablehnenden, zurückweisenden, abwertenden Verhalten kann auch die Überbehütung oder symbiotische Fesselung des Kindes - beispielsweise durch psychisch kranke Eltern - zu einer seelischen Misshandlung führen.

Der Begriff „Kindeswohlgefährdung“ stammt aus dem BGB (Kindschaftsrecht) und ist da unter verschiedenen Paragraphen zu finden.2 Der § 1666 Abs. 1 BGB ist der wichtigste Paragraph der sozialen Konstruktion Kindeswohlgefährdung.

Der Begriff der Kindeswohlgefährdung wurde in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes wie folgt definiert: „... eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“3 Daraus ergeben sich Kriterien die gleichzeitig erfüllt sein müssen, um eine Gefährdung des Wohl des Kindes festlegen zu können. Es muss eine gegenwärtige Gefahr vorhanden sein, eine erhebliche Schädigung sowie eine sichere Vorhersage.

Im Grundgesetz ist der Begriff „Kindeswohl“ nicht enthalten. Dennoch sind Kinder Grundrechtsträger. Das heißt sie sind Personen mit eigener Menschenwürde4, mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit5, mit dem Recht der Entfaltung ihrer Persönlichkeit6 und die den Schutz ihres Eigentums und Vermögens genießt7. Somit stellen die Grundrechte den wichtigsten Bezugspunkt für die Definition des Kindeswohls dar.

Ein Kind brauch laut Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG „Pflege und Erziehung“, bekommt es dies nicht, dann schadet das eventuell dem Kind oder es kann seine Persönlichkeit nicht sicher entwickeln und frei entfalten. Demzufolge umfasst der Schutz hier nicht nur den jetzigen Zustand des Kindes, sondern auch dessen weitere, zukünftige Entwicklung. Laut Grundgesetz beinhaltet der Begriff des „Kindeswohls“ somit Schutz aber auch Förderung.8

Im Grundgesetz Artikel 6 Abs. 3 heißt es: „Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“9

Mit Kindeswohl, im Sinne des Gesetzes wird also ein Rechtsgut aus dem Familienrecht bezeichnet, welches das gesamte Wohlergehen eines Kindes oder Jugendlichen als auch seine gesunden Entwicklung umfasst.

Der Staat darf nur in begründeten Ausnahmefällen in das Erziehungsrecht der Eltern eingreifen. Die Gefährdung des Kindeswohls dient der Rechtsprechung als Maßstab für einen Eingriff in das Erziehungsrecht der Sorgeberechtigten. Diese Gefährdung als unbestimmter Rechtsbegriff bedarf der Auslegung durch die Rechtsprechung.

- Die Vorschriften im BGB benennen vier Tatbestandsmerkmale:
- die missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge
- die Vernachlässigung des Kindes
- das unverschuldete Elternversagen
- das Verhalten eines Dritten

Führt eines oder mehrere dieser Tatbestandsmerkmale zu einer Kindeswohlgefährdung sind die Eltern in der Pflicht diese Gefahr abzuwenden, zum Beispiel durch die Inanspruchnahme der Hilfen zur Erziehung laut SGB VIII. Sind sie dazu nicht gewillt oder nicht fähig muss das Familiengericht die erforderlichen Maßnahmen lt. § 1666 BGB zur Abwendung der Gefahr treffen. Dort wird dem Familiengericht die Handlungsgewalt zugesprochen in Fällen, in denen „...das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden...“.10

Das Familiengericht kann dazu in verschiedenen Arten in das Elternrecht eingreifen. Diese können von Auflagen über die Ersetzung elterlicher Erklärung bis zum Entzug der elterlichen Sorge reichen.

Im 8. Sozialgesetzbuch (SGB VIII), dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) findet man den Begriff altersgemäß differenziert als „Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen“. Er findet in § 8a SGB VIII Anwendung. Dieser Paragraph regelt den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. Die Herausnahme aus der Herkunftsfamilie ist in § 42 SGB VIII - Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen - festgeschrieben.

Die §§ 27 ff. SGB VIII regeln Möglichkeiten der Hilfe zur Erziehung mit dem Ziel der Abwendung der Kindeswohlgefährdung. § 33 SGB VIII zum Beispiel sieht die Leistung der Vollzeitpflege in Pflegefamilien vor.

1.1.2 Psychosoziale Probleme - nach Studien von Prof. Dr. Klaus Hartmann

Prof. Dr. Klaus Hartmann führte seit den siebziger Jahren zum Thema „Dissoziales Verhalten bei Jugendlichen“ eine Längsschnittstudie durch, in welcher die Aufmerksamkeit besonders auf die „Verwahrlosung“ als Teilbestand der Kindeswohlgefährdung und als Grund zur Herausnahme der Kinder aus der Herkunftsfamilie gerichtet wurde. Er erstellte eine „Befundkarte“ für die Beurteilung von Verwahrlosungsentwicklungen und deren statistischer Analyse.

Im Ergebnis blieben für die deutsche Untersuchung 32 Merkmale bestehen, welche als Anlage dieser Arbeit aufgeführt sind.11

Anhand dieser Merkmalsskala kann laut Hartmann überprüft werden, ob es sich bei einzelnen Probanden um eine Verwahrlosungsentwicklung handelt und in welcher Weise sie sich äußert. Dadurch soll es möglich werden, Handlungsstrategien gegen eine Verschärfung der Verwahrlosungstendenzen zu entwickeln.

Als erstes Syndrom findet Hartmann das „Instabilitätssyndrom“ (Typ: „Kümmerer). Es ist von geringerer Sozialgefährlichkeit, involviert überwiegend eine autoplastische Verwahrlosung. Zu diesem Syndrom zählen zum Beispiel die Merkmale: Depressivität, Mangelhafte Entmutigungstoleranz, Mangelhafte Kontaktbindung und Rastlosigkeit.

Als zweites Verwahrlosungssyndrom wird das „Asozialitätssyndrom“ (Typ: Versager) beschrieben. Es ist von mittlerer Sozialgefährlichkeit, involviert überwiegend eine passive Verwahrlosung. Zu diesem Syndrom zählen zum Beispiel die Merkmale: mangelhafte Arbeitsbindung, Schwänzen der Arbeit, Schwänzen der Schule, Bummeln und Alkoholmissbrauch.

Ein drittes Verwahrlosungssyndrom nach Hartmann ist das „Kriminalitätssyndrom“ (Typ: Störer). Es ist von erheblicher Sozialgefährlichkeit, involviert überwiegend eine aggressive Verwahrlosung. Zu diesem Syndrom zählen Merkmale wie: Bedrohung und Misshandlung von Personen, Beschädigung und Zerstörung von Objekten, Verkehrsdelikte, Delinquenz vor dem vollendeten 14. Lebensjahr.12

Diese drei Einteilungen können jedoch nur eine Orientierungshilfe zum Finden adäquater Behandlungsmöglichkeiten für die jeweiligen Probanden sein. Überschneidungen einzelner Merkmale sind immer möglich.

Für den Ursprung der Entwicklung von Verwahrlosungserscheinungen kann es verschiedene, bei Hartmann nachzulesende, Ursachen geben. Der Ansatz für derartige Tendenzen wird jedoch bereits in der frühen Kindheit gelegt. Die Gesamtheit der sich in frühester Kindheit entwickelnden Symptome wird laut Hartmann später als Verwahrlosung diagnostiziert.

Bereits im Säuglingsalter ist es für ein Kind von erheblicher Bedeutung, wie die Mutter sich ihm zuwendet. Untersuchungen, die bereits am Beginn des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurden, belegen dies eindrücklich.

Für eine gesunde seelische und körperliche Entwicklung des Kindes sind neben Nahrung und Pflege auch persönliche, einzigartige Beziehungen notwendig. Körperkontakt wie Streicheln, Liebkosen und liebevoller Zuspruch sind wichtige Faktoren für die gesunde Entwicklung des Gefühlslebens. Ohne diese sensorischen Reize fehlt die Stimulation für diese Entwicklung. Das Schreien des Kindes ist in diesem Alter seine einzige Möglichkeit, der Mutter sein Bedürfnis nach Nähe auszudrücken. Wendet sie sich in derartigen Situationen nicht dem Kind zu, um herauszufinden was los ist, kann dies zu ersten Verlassenheitsängsten und Frustrationen nach Mutterkontakt führen. Die ständige Wiederholung derartiger Situationen wird dann zwangsläufig die Verfestigung erster Merkmale der Verwahrlosung wie mangelhafte Kontaktbindung und misstrauisches Verhalten zur Folge haben.

Der Entzug der Mutter, nicht - oder negativ beantwortete Bedürfnisäußerungen des Kindes durch die Mutter, nicht Beachtung der Trennungsangst des Kindes und ähnliches können bereits im Alter unter drei Jahren zu Fehlentwicklungen beim Kind führen.

Ab Beginn des dritten Lebensjahres werden die Reaktionen des Kindes auf Trennung und „Liebesentzug“ milder ausfallen, sofern es Gelegenheit hatte, in der vorangegangenen Zeit stabile Kontakte zu erleben. In verwahrlosenden Verhältnissen wurde eben diese Gelegenheit für das Kind verpasst. Oben genannte Verhaltensmerkmale setzen sich weiter fort und führen letztlich schon in diesem Alter zu Verhaltensstörungen, die nur schwer wieder zu korrigieren sind.

Ein verwahrlostes Kind hat in seiner Entwicklung bis zum Schuleintritt bereits so viel an Frustrationen und Ablehnung durch die Mutter bzw. die Eltern erfahren, dass es den Schritt der sozialen Anpassung in der Schule nicht mehr schaffen kann.

Die mangelhafte gefühlsmäßige Beziehung zu den Eltern setzt sich nun im Umgang mit anderen Personen fort und hemmt das Kind in seiner eigenen Entwicklung. Das Durchhaltevermögen zur Bewältigung neuer Aufgaben sinkt, die mangelhafte Entmutigungstoleranz lässt es vor neuen Aufgaben zurückschrecken. Nicht selten müssen mehrere Klassenstufen wiederholt werden.13

Prinzipiell kann wohl gesagt werden, dass die Prognose für verwahrloste Kinder schlecht aussieht. Wie Hartmanns Langzeitstudie „Lebenswege nach Heimerziehung“ ergeben hat, werden die meisten Verwahrlosten als Erwachsene erhebliche Schwierigkeiten in vielen Lebensbereichen haben.14

Drogenmissbrauch und Kriminalität, häufig wechselnde oder keine Arbeitsverhältnisse und mangelhafte Bindungsfähigkeit, Depressionen und viele andere Probleme begleiten den größten Teil dieser Menschen.

Bei der Betrachtung der Forschungen zur Verwahrlosung, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass diese Kinder und Jugendliche nur die Chance auf eine günstigere Prognose bekommen, wenn frühzeitig präventive Maßnahmen einsetzen.

Neben Möglichkeiten der professionellen Beratung und Begleitung in der Herkunftsfamilie kann das auch die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie sein.

In den Forschungen über sekundärpräventive Arbeit mit sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien wurden fünf Merkmalssyndrome zusammen gestellt, wobei bei drei dieser Syndrome positive Entwicklungstrends festgestellt werden konnten:

„I. soziale Anpassung nach außen:

Tendenz zum Stehlen, Probleme mit Nachbarn, Probleme mit Institutionen und formellen Gruppen, Schwierigkeiten akzeptiert zu werden, destruktives Verhalten, dissoziale Kontakte, Probleme mit Gleichaltrigen, Verhaltensstörungen, Probleme im Verein

II. Zugang zu eigenen Gefühlen:

motorische Unruhe, Schwierigkeiten beim Ausdruck von Gefühlen, unsorgfältig mit sich selbst, Schwierigkeiten im Austausch von Zärtlichkeit, Probleme mit der Geschlechtsrolle, mangelhaftes Einfühlungsvermögen, Distanzlosigkeit

III. Familiäre Identität in der Pflegefamilie:

Probleme mit der Rolle als Pflegekind, Probleme mit Beruflichkeit des Erziehungsverhältnisses, Probleme mit der Bezahlung der Erziehungsarbeit, problematisches Verhältnis zu Verwandten der Pflegefamilie, problematisches Verhältnis zur Ursprungsfamilie“15

Zwei Merkmalssyndrome blieben im negativen Entwicklungsbereich:

„IV. Bindungsprobleme:

Tendenz zu Misstrauen, Probleme mit dauerhaften Beziehungen, Probleme mit Partnerschaftsbeziehungen, Probleme mit den Pflegeeltern, taktisches Lügen mangelhafte Konfliktfähigkeit

V. Impulsivität und Labilität:

Problemfeld Kindeswohlgefährdung

Gefühlsschwankungen, mangelhafte Frustrationstoleranz, Unordnung,

unwirtschaftlicher Umgang mit Geld, Suchttendenzen, Tendenz zu Ängsten, Tendenz zu psychosomatischen Reaktionen“16

Im Vergleich mit Hartmanns Langzeitstudie, bei der alle Probanden bis ins Jugendalter verwahrlosenden Verhältnissen ausgesetzt waren, die sich dann auch im Erwachsenenalter massiv auswirkten, lassen die Ergebnisse der Forschung der Eberhards doch eine wesentlich günstigere Prognose zu. Ein wichtiger Grund für diesen Erfolg ist sicher die Stabilität der Beziehungen.

Zusammenfassend kann wohl für verwahrlosungsgefährdete oder - geschädigte Kinder und Jugendliche festgestellt werden, dass deren Prognosen umso günstiger ausfallen, je eher stabile, präventive Interventionsformen gefunden werden und je eher emotionale Zuwendung angeboten wird.

1.2 Ursachen der Kindeswohlgefährdung

Biologische Faktoren als Ursache für Kindeswohlgefährdung in der Familie können in unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden. So gibt es Untersuchungen zum Einfluss von Hirnschäden, Entwicklungsstörungen, Chromosomenanomalien, Geschlecht, Lebensalter, Konstitution und Vererbung. Klar gestellt werden sollte, dass keine dieser Kategorien allein genommen eine prognostische Bedeutung für Kindeswohlgefährdung in der Familie hat. Andererseits sollte aber jede der genannten Kategorien Berücksichtigung finden, wenn es um die Eingrenzung von Ursachen für diese geht.

Um die psychologischen Faktoren als Ursache für eine Kindeswohlgefährdung und Verwahrlosung in der Familie in der untersuchten Fachliteratur zu unterscheiden, können drei Richtungen angeführt werden: den Einfluss von Konflikten, Führungsmängeln und Fürsorgemängeln.

Auch bezüglich soziologischer Theorien lassen sich drei wesentliche Einflussbereiche unterscheiden. Diese sind die Einflüsse durch ungünstige Vorbilder, ungünstige Verhältnisse und durch Etikettierung (Labeling Approach).

Eine Studie zur Kindeswohlgefährdung aus dem Jahr 2000 brachte das Ergebnis, dass 25% aller Fälle17 Kleinkinder im Alter zwischen 0 und 3 Jahren betraf. Bis zum Jugendalter ist lt. Studie ein stetiger Rückgang der Gefährdung zu verzeichnen. Kleinkinder sind so gesehen stärker gefährdet, da sie allgemein körperlich verletzbarer und abhängig von elterlicher Fürsorge sind.18

Dieser bezeichnete Trend findet sich vor allem bei der Form der Vernachlässigung. Sieht man sich Kindeswohlgefährdung in Form von sexuellem Missbrauch an, so ist hier die Altersgruppe vom Grundschulalter bis zur mittleren Kindheit am stärksten betroffen.19 Die Formen der körperlichen und seelischen Misshandlung treten vorwiegend im Kindergarten- und frühen Jugendalter auf.

Bei der Untersuchung der verschiedenen Formen der Kindeswohlgefährdung hinsichtlich des Geschlechts sind die Unterschiede bei der Form des sexuellen Missbrauchs am offensichtlichsten. Hier ist in einer Statistik des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) in München 2001 die Zahl der Mädchen doppelt so hoch wie die der Jungen.20

Hinsichtlich der physischen Misshandlungen ist eine etwas höhere Zahl an Jungen zu verzeichnen. Bei den Formen der psychischen Misshandlung und der Vernachlässigung sind kaum zu verzeichnende Unterschiede zu erkennen.21

Verschiedene Faktoren während der Schwangerschaft, der Geburt und im Wochenbett können die weitere Entwicklung eines Kindes gefährden. Solche Faktoren können zum Beispiel Alkoholkonsum, Rauchen, unzureichende Sauerstoffversorgung oder eine Frühgeburt sein.22

Da diese Kinder meist ein erhöhtes Maß an Fürsorge benötigen, wurde in verschiedenen Untersuchungen ein Zusammenhang von erhöhten Erziehungsanforderungen und wenig familiärer Ressourcen und häufigerer Kindeswohlgefährdung geprüft. Es traten gehäuft physische Misshandlungen in der frühen Kindheit auf. Sullivan und Knutson wiesen 2000 in ihrer Studie nach, dass Kinder mit körperlichen, sensorischen, sprachlichen und geistigen Behinderungen häufiger als Kinder ohne diese Defizite von Kindeswohlgefährdung bedroht sind. „Die ebenfalls erhöhten Raten an sexuellem Missbrauch deuten darauf hin, dass bei der Entstehung von Gefährdungen nicht nur eine Überforderung der Eltern eine Rolle spielt, sondern auch andere Faktoren (z.B. ein wahrgenommener geringer Wert behinderter Kinder, verminderte Furcht vor Entdeckung) mit ausschlaggebend sind.“23

Regulationsstörungen, wie andauerndes Schreien oder Probleme bei der Nahrungsaufnahme und Verhaltensstörungen, wie unruhiges, aggressives oder nicht kooperatives Verhalten, können Eltern in besonderem Maße belasten. „Bei vielen Eltern werden dadurch Gefühle von Hilflosigkeit, Überforderung, Angst und Ärger ausgelöst, die sich in manchen Fällen zu Misshandlungen oder einem Rückzug vom Kind steigern.“24

Nur bei einer prozentual sehr geringen Zahl von Eltern, welche das Wohl ihres Kindes gefährden, ist eine psychische Erkrankung nachweisbar.25 Andersherum gesehen, ist das Risiko einer Kindeswohlgefährdung durch Eltern mit einer solchen Erkrankung erhöht. Nachweislich kann eine psychische Erkrankung auch Ursache einer Gefährdung sein.

Oft berichten gefährdende Eltern, in der eigenen Kindheit selbst Opfer von Gewalt und Missbrauch geworden zu sein.26 Solche Erfahrungen, oft verbunden mit Bindungsabbrüchen stellen tatsächlich einen Risikofaktor in Hinsicht auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung dar. Solche inneren ungünstigen Beziehungsbilder beeinflussen die Wahrnehmung des eigenen Kindes und die Reaktionen des Elternteils enorm.

Laut Claudia Reinhold und Heinz Kindler im Handbuch Kindeswohlgefährdung unterscheiden sich Eltern die gefährden in Gedanken und Einstellung, in Bezug auf Erziehung und Wahrnehmung des Kindes, deutlich von Eltern die nicht gefährden.

Münder fand bei seinen Studien bezüglich der Untersuchungen der Verfahren nach § 1666 BGB einen Anteil von 60 % der Familien, welche ausschließlich mit lohnersetzenden Transfereinkommen auskommen müssen. Des weiteren lebten unter 30 % der betroffenen Kinder mit beiden leiblichen Elternteilen in einem Haushalt.27

Andersherum gesehen, kann man diese Faktoren nur bedingt als Risikofaktoren der Kindeswohlgefährdung sehen, da die überwiegende Zahl an Kindern, welche unter den genannten Umständen leben, in keinster Weise von einer Form der Kindeswohlgefährdung betroffen sind.

Anhaltende Konflikte in der Partnerschaft stellen eine Belastung dar, die Erziehungsfähigkeit in den Hintergrund rücken lassen kann. Im Handbuch Kindeswohlgefährdung ist zu lesen: „Eine besondere Belastungswirkung scheint dabei von wiederholter Partnerschaftsgewalt auszugehen, die sich vor allem im Hinblick auf die Misshandlung von Kindern in mehreren Längsschnittuntersuchungen als einer der bedeutsamsten Risikofaktoren im Bereich der sozialen bzw. familiären Faktoren erwiesen hat.“28 Dies kommt zustande, da Personen, die gegenüber dem Partner Gewalt anwenden meist auch eine eingeschränkte Erziehungsfähigkeit besitzen und der Partner durch die erlebte Gewalt seiner Fürsorgepflicht nicht nachkommen kann, oder durch den psychischen Stress aggressiv gegenüber dem Kind werden kann.29

Es konnte festgestellt werden, dass sich Familien, in denen es zur Kindeswohlgefährdung gekommen ist, durch ein geringes Maß an Selbstorganisation und ein stärkeres Ausleben von negativen Gefühlen von anderen Familien unterscheiden. Zudem ist ein geringerer innerfamilierer Zusammenhalt, mehr ungelöste Konflikte innerhalb der Familie, kaum Ausdruck von Gefühlen gegenüber den Familienangehörigen und wenig klare Grenzen zwischen der Elternund Kindebene nachgewiesen wurden.30

„Soziale Benachteiligung bedeutet mangelnde Teilhabe an gesellschaftlichen Möglichkeiten und Vollzügen. Das wichtigste Kennzeichen sozialer Benachteiligung ist Armut und bedeutet damit Unterversorgung in zentralen Bereichen.“31

In bestimmten Zusammenhängen kommt Armut besonders oft vor. Solche Faktoren sind zum Beispiel allein Erziehende, Kinderreichtum, Migration und Arbeitslosigkeit. Nach der AWO-ISS-Studie32 sind Kinder alleinerziehender oder aus besonders kinderreichen Familien häufiger von Armut betroffen. Die Berufstätigkeit eines Elternteils reduziert dieses Armutsrisiko schon erheblich.

Armut kann ein erhebliches Entwicklungsrisiko darstellen und zu Entwicklungsdefiziten, Unterversorgung und sozialer Ausgrenzung führen. Bei kleineren Kindern ist das Risiko einer Vernachlässigung besonders groß. 90 Prozent der Kleinkinder die Vernachlässigung erfahren mussten stammen aus armen Familien und auch Gewalt gegen Kinder kommt in von Armut betroffenen Familien gehäuft vor.33

Laut Robert-Koch-Institut ist nachgewiesen, dass es in von Armut- und sozialer Benachteiligung betroffener Familien auch eine schlechtere Gesundheitsfürsorge sowie ein häufigeres Auftreten von Behinderungen (doppelt so häufig!) gibt. Auch Vorsorgeuntersuchungen für die Kinder werden nicht in Anspruch genommen.

„Am besten belegt ist ab dem Kindergartenalter der Zusammenhang von sozialer Benachteiligung und gehemmter intellektueller Entwicklung, der bezogen auf Deutschland auch in der PISA-Studie bestätigt wurde. Besonders deutlich sind die Befunde, wenn die Unterversorgung zentrale Lebensbereiche betrifft und schwerwiegend ist, wenn sie in den frühen Lebensjahren besteht, länger andauert und wenn zusätzliche Risikofaktoren vorhanden sind.“34

1.3 Folgen von Kindeswohlgefährdung

„Vernachlässigung kann zum Tod eines Kindes führen.“35 - Besonders bei sehr jungen Kindern kann dies durch Verhungern und/oder Verdursten sehr schnell eintreten.

Bei der Vernachlässigung als Form der Kindeswohlgefährdung kommt es in etwa genauso oft zu schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie bei der physischen Misshandlung. Eine amerikanischen Studie ergab, dass es bei Erwachsenen, welche in Ihrer Kindheit Vernachlässigung erfahren haben zweimal so oft zu internistischer Erkrankungen, dreimal so oft zu neurologischen Störungen und zehnmal so oft zu Allergien als bei der Kontrollgruppe kam. Desweiteren fielen Störungen im körperlichen Wachstum und Rückstände in der motorischen Entwicklung auf.36

Als häufigste Verletzungen durch physische Misshandlungen treten Hämatome und Kratzer auf, bei medizinisch behandlungsbedürftigen Verletzungen handelt es sich meist um Platzwunden, Knochenbrüche und Verbrennungen. Die meisten Todesfälle treten durch Schütteltraumata und inneren Blutungen auf.

Laut UNICEF kommt es jährlich in Deutschland zu ca. 50 Fällen, in welchen es im Zusammenhang mit physischer Misshandlung von Kindern zum Tode kommt und dies ist nur die Zahl der bekannt werdenden Fälle.37

Besonders das Schütteltraumata, aber auch andere Misshandlungen, können zu dauerhaften Behinderungen und zu Erkrankungen wie Schmerzerkrankungen, Allergien oder Kreislauferkrankungen führen.

„Sowohl in ihren Schulnoten als auch in standardisierten Tests ihrer kognitiven Fähigkeiten zeigen vernachlässigte Kinder als Gruppe deutlich unterdurchschnittliche Leistung.“38

Vernachlässigungen im sehr frühen Lebensalter zeigen sich in Form von deutlichen Entwicklungsrückständen im Kleinkind bis Kindergartenalter. Die Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten findet man bei allen Arten der Kindeswohlgefährdung. So kann sich auch eine fehlende Erziehung über ein gestörtes Sozialverhalten auf die schulische Entwicklung niederschlagen.

Weitere Zusammenhänge zwischen Vernachlässigung und schulischen Leistungen bestehen zum Beispiel bei oft fehlender Lernbereitschaft, Interessen und Selbstvertrauen, großer Wissenslücken, Demotivation, schlechte Lernbedingungen, häufige familiäre Veränderungen usw..

In ihrem Wohle gefährdete Kinder sind in ihrer sozialen und emotionalen Entwicklung beeinträchtigt. Studien diesbezüglich beziehen sich besonders auf den Aufbau von Bindungen in der frühen Kindheit, der Integration in Gleichaltrigengruppen und den Aufbau von Freundschaften und Partnerschaften.

Bezogen auf die Mutter-Kind-Bindung in der Ursprungsfamilie weisen die Studien überwiegend keine sicheren Bindungsbeziehungen nach. Für die meisten dieser Kinder zeigt sich sogar die Form der desorganisierten Bindung (Furcht, Verwirrung in Kontakt mit Bindungsperson).39 Dadurch sind diese Kinder in Ihrer emotionalen Sicherheit sehr eingeschränkt.

[...]


1 Statistik der Landeshauptstadt Dresden (Jugendinfoserver)

2 siehe u.a. §1632 Abs. 4, §1666 Abs. 1 und 2, §1666a Abs. 2, §1682, §1684 Abs. 4 Satz 2, §1696 Abs. 2, §1761 Abs. 2 BGB

3 BGH FamRZ

4 Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG

5 Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG

6 Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG

7 Art. 14 Abs. 1 GG

8 vgl. Langenfeld/Wiesner 2004, S. 50 ff.

9 Art. 6 Abs. 3 GG

10 §1666 Abs. 1 BGB

11 siehe Anlage C

12 vgl. Hartmann 1977, S.125 f.

13 siehe hierzu „Fall Uwe“ in Anlage B

14 ebd.

15 Eberhard, G. und K, 2000, S.46

16 Eberhard, G. und K, 2000, S.46

17 Münder 2003

18 vgl. Kindler et al. 2006, S. 17-1

19 Sozialreferat der Landeshauptstadt München 2002

20 ebd., S. 14

21 vgl. Kindler et al. 2006, S. 17-3

22 ebd.

23 vgl. Kindler et al. 2006, S. 17-4

24 ebd., S. 17-4

25 vgl. Münder et al. 2000

26 ebd.

27 ebd.

28 Kindler et al. 2006, S. 19-2

29 Coohey 2004

30 Kindler et al. 2006, S. 19-3

31 ebd., S. 21-1

32 Gemeinsame Studie der Arbeiterwohlfahrt und des Institutes für Sozialarbeit und Sozialpädagogik

33 Hofacker 2000

34 Kindler et al. 2006, S. 21-2

35 ebd., S. 24-3

36 vgl. Goodwin/Stein 2004

37 vgl. UNICEF 2003

38 Kindler et al. 2006, S. 24-4

39 siehe Teil 2 dieser Arbeit

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Bindungsverhalten und Biografiearbeit in Pflegefamilien im Kontext der Kindeswohlgefährdung
Hochschule
Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit Dresden (FH)
Veranstaltung
Sozialpädagogik / Sozialarbeit
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
78
Katalognummer
V183866
ISBN (eBook)
9783656084730
ISBN (Buch)
9783656084860
Dateigröße
906 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Arbeit mit Auszeichnung.
Schlagworte
bindungsverhalten, biografiearbeit, pflegefamilien, kontext, kindeswohlgefährdung
Arbeit zitieren
Denise Csizmadia (Autor:in), 2010, Bindungsverhalten und Biografiearbeit in Pflegefamilien im Kontext der Kindeswohlgefährdung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/183866

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