Der Beitritt Ungarns zur EU


Hausarbeit, 2000

67 Seiten, Note: gut (2,0)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Fragestellung
1.1 Entwicklung der zentralen Fragestellung

2. Überblick über die Entstehung des heutigen Ungarns
2.1 Ungarn, das 1000jährige Mitglied der europäischen Familie
2.2 Der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa 1989 – 1991
2.3 Ungarns Wandel seit 1989

3 Der Wille Ungarns zur Hinwendung nach Westeuropa

4 Auftretende Integrationsprobleme Ungarns im Zuge der Osterweiterung
4.1 Die Voraussetzungen für einen Beitritt zur EU
4.1.1 Das Beitrittsverfahren
4.2 Generelle Probleme des politischen Systems Ungarns
4.3 Die ungarischen Rechtsvorschriften und deren Anpassung an das EU-Recht
4.4 Institutionelle Reformen in Ungarn
4.5 Ungarns außenpolitische Orientierung und Konflikte
4.6 Die wirtschaftliche Entwicklung sowie auftretende Defizite Ungarns
4.7 Gesellschaftliche Differenzen

5. Zukunft und Perspektiven einer ungarischen EU-Mitgliedschaft

6. Bibliographie

7. Anhang: Stellungnahmen der Kommission

1. Einleitung: Fragestellung

1.1 Entwicklung der zentralen Fragestellung

„Heute ist Europa umzuformen, wie es der Wiener Kongreß 1814/15

oder wie es die Pariser Friedenskonferenz 1919 zu tun hatte.

Die derzeitige Umordnung soll aber besser als die beiden anderen sein:

Sie soll aber wirklich demokratisch sein und

die Interessen jedes einzelnen befriedigen und respektieren.

Dies hat ungestört zu funktionieren und lange Zeit stabil zu bleiben.“

(Zitat: Geza Jeszenszky 1992)

Dieses Zitat des ehemaligen ungarischen Außenministers faßt in kurzen Worten einen schwierigen und langfristigen Prozeß zusammen, an dessen Ende nicht weniger als die Transformation Europas, die Demokratisierung und die dauerhafte Europäisierung der ehemals sozialistischen Saaten, ein dauerhafter, positiver politischer Dialog, die Respektierung des Nationalstaats, die Funktionalität einer gesamteuropäischen Ordnung durch Kooperation sowie die sicherheitspolitische Stabilität dieses Gesamteuropas stehen soll.

Die Aufteilung der vorliegenden Arbeit beginnt mit einem kurzen geschichtlichen Überblick Ungarns und geht anschließend auf die für den Transformationsprozeß wichtigen Politikbereiche ein. Falls dies für die Erläuterung der dargestellten Sachverhalte nötig war, wurde auch auf das für den Beitritt zur EU entscheidende Verfahren und deren Voraussetzungen eingegangen. Im Anhang der vorliegenden Arbeit werden die verschiedenen Stellungnahmen der Kommission zu unterschiedlichen Bereichen des Landes Ungarns aufgeführt. Sie verdeutlichen nochmals die Denk-, Handels- und Bewertungsweise der Kommission und ermöglichen, eine noch detailliertere Meinungsbildung aus der Sicht der Institution zum Beitritt Ungarns und deren jetzigen Entwicklungsstand.

Die in dieser Arbeit behandelnden Themen intendieren keine Vollständigkeit im Sinne eines komplett aufgezeigten Transformationsprozesse in all seinen Einzelheiten. Ziel dieser Arbeit ist eine Analyse jener Teilbereiche der Transformation, die zur Lösung der an späterer Stelle auftretenden Fragestellung wichtig sind.

Ungarn ist für den Transformationsprozeß ein sehr gutes Beispiel, da dieser ostmitteleuropäischer Staat bereits 1989 einen längeren Reformprozeß durchlaufen hatte, der teilweise marktwirtschaftliche Elemente in die sozialistische Staats- und Gesellschaftsorganisation eingeführt hatte. Nach einen raschen Institutionenwandel wurde Ungarn als erster, politisch weitgehend transformierter Reformstaat in den Europarat aufgenommen.

Langezeit galt Ungarn hinsichtlich der Transformationsleistungen als führend unter den ostmitteleuropäischen Ländern. Bereits in der 1960er Jahren schloß die EG mehrere technische Abkommen mit Ungarn ab, die in folge der sowjetischen Ablehnung des westeuropäischen Staatenbündnisses jedoch nach zehn Jahren nicht verlängert wurde. Nach der gemeinsamen Erklärung von EG und RGW 1988 war es wiederum Ungarn, das als erstes Mitglied der osteuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den Genuß eines Kooperationsabkommens mit der EG kam. Gerade diese frühe Aufnahme politischer und wirtschaftlicher Beziehungen mit der Europäischen Gemeinschaft zeigt das große Interesse Ungarns an einer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlich-kulturellen „Rückkehr nach Mitteleuropa“. Diese Offenheit für die Prinzipien, Normen und Regeln der bislang westeuropäischen Gemeinschaft ermöglicht eine tiefgreifende Analyse der Einflußpotentiale interdependenter Strukturen internationaler Regime sowie der nationale „Wandlungswille“ und deren Umsetzung auf den Rezipienten und Beitrittsanwärter Ungarn.

In Anbetracht der Komplexität der Problemstellung und der Vielzahl der betroffenen Politik,- Wirtschafts,- und Gesellschaftsbereiche – demokratische politische Ordnung, Transformation der Plan- zur Marktwirtschaft, Schaffung von Sicherheit und Stabilität in der Region Ostmitteleuropa und Integration der assoziierten Staaten in die EU – ist eine Reduktion der möglichen implizierten Forschungsfragen vorzunehmen. Als Grundvoraussetzung für alle weiteren Entwicklungen der Region Ostmitteleuropa sowie für die Integration dieser Länder in ein künftiges „Gesamteuropa“, sei es als Bundesstaat oder als Staatenbund im Rahmen der EU oder als Kooperations- und Handelsvereinigung außerhalb der westeuropäischen Staatengemeinschaft, ist die Etablierung und Stabilisierung einer demokratischen, politischen und marktwirtschaftlich orientierten Ordnung innerhalb der ostmitteleuropäischen Gesellschaft anzusehen.

Von vorrangigem inhaltlichen Interesse für die vorliegende Arbeit ist jetzt die Fragestellung:

1). Welche Ergebnisse des Demokratisierungsprozesses können bisher in Ungarn

in den Bereichen politische Institutionen, politische Sozialisation, außenpolitische Entwicklung und politische Kultur konstatiert werden, wo im Phasenverlauf des Prozesses befindet sich Ungarn derzeit und wie stabil ist seine erreichte Systemtransformation bzw. wie wahrscheinlich ist eine baldige EU-Mitgliedschaft.

Wie schon erwähnt, wirft der gesamte Transformationsprozeß erheblich mehr Fragen auf. Diese zu untersuchen würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen; würde aber dennoch ein gutes Thema für eine Examensarbeit oder einer Dissertation sein.

2. Überblick über die Entstehung des heutigen Ungarns

2.1 Ungarn, das 1000-jährige Mitglied der europäischen Familie

Im Jahr 2000 feiert der ungarische Staat sein Millennium - das Land wird 1000 Jahre alt. Die Krönung István/Stephan I. Weihnachten des Jahres 1000 durch Papst Sylvester II markiert den Beginn der ungarischen Staatlichkeit und die Anpassung Ungarns an die europäische christliche Zivilisation[1]. Von dieser Zeit an war Ungarns Schicksal fest mit dem europäischen verbunden. Im Mittelalter konnte Ungarn zu einer europäischen Mittelmacht aufsteigen und erlebte eine Blütezeit, die bis Ende des 15. Jahrhunderts andauerte. Der Verfall des ungarischen Staates ging alsbald einher mit der Eroberung durch die Türken. In der Zeitspanne unter türkischer Herrschaft wurde das Land dreigeteilt. 1686 erlangte Ungarn seine Selbständigkeit wieder als Folge einer Initiative Papst Innocent XI., auf dessen Initiative die sogenannte Heilige Allianz des Habsburger Reiches, Polen und Venedigs zur Vertreibung der Türken zustande kam[2].

In der Folge sah sich Ungarn in seiner Eigenständigkeit nun allerdings zusätzlich zu den Türken auch mit den Habsburgern konfrontiert. Das absolutistische System geriet Ende des 18. Jahrhunderts auch in Ungarn ins Wanken und mußte sich notwendigen inneren Reformen stellen. Das ungarische Bürgertum entwickelte sich. Die Revolution von 1848/49 verlief unblutig. Die errungen Verfassungsrechte mußten aber alsbald wieder verloren gegeben werden, nachdem Ungarn durch das Bündnis von Habsburg und dem russischen Zaren 1849 besiegt und dem österreichischen Zentralstaat eingegliedert wurde. 1867 nach der Niederlage gegen Preußen wurde das Habsburger Reich in die duale Staatengemeinschaft von Österreich und Ungarn umgestaltet unter Kaiser Franz Josef. Der erste Weltkrieg besiegelte das Ende des Imperiums, durch den Vertrag von Versailles wurde der Zerfall des ungarischen Staatsgebietes festgeschrieben[3]. Im 2. Weltkrieg stand Ungarn als Vasall an der Seite Deutschlands und Italiens. Nachdem es nach einer Übereinkunft mit den Westmächten gesucht hatte, wurde es 1944 von Deutschland besetzt.

Noch während des Krieges beschlossen die Großmächte auf der Konferenz von Jalta, daß Ungarn in die sowjetische Interessensphäre gerät. Bis 1989 blieb Ungarn als Warschauer Pakt - Staat unter sowjetischer Hegemonie. 1956 wurde der ungarische Volksaufstand blutig niedergeschlagen. 1989 war es jedoch Ungarn, das als erstes Land das Ende des Kommunismus einleitete und seine Grenzen nach Westen öffnete.

2.2 Der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa 1989-91

,,Das Ausbleiben verbindlicher Verhaltensvorschriften aus dem Kreml, die wirtschaftliche Notlage, der Verlust an Vertrauen in die Staats- und Parteiführung und wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung veranlaßten Kádár in Ungarn und General Jaruzelski in Polen, aus nationalem Verantwortungsbewußtsein eigenständige Auswege aus der Krise zu suchen, die aber keinesfalls das gesamte Herrschaftssystem gefährden sollten,,[4], so fassen es die Autoren des geschichtlichen Nachschlagebandes ,,Schlaglichter der Weltgeschichte,, rückblickend zusammen. Die ökonomische Krise der planwirtschaftlich organisierten Ostblockstaaten war der Hauptauslöser des Zusammenbruchs der kommunistischen Staatenwelt. Ein gradueller Demokratisierungsprozeß setzte bereits Ende der 80er Jahre in Ungarn ein[5]. Diese Entwicklung führte schließlich zur Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich für Ausreisewillige aus der DDR im Spätsommer 1989, was zur Wende in der DDR beitrug. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 war der Niedergang des Kommunismus endgültig besiegelt. Der Warschauer Pakt war bereits zuvor aufgelöst worden, so daß ein machtpolitisches Vakuum in Europa entstand zugunsten des Westens.

2.3 Ungarns Wandel seit 1989

1989 wurde der 1958 hingerichtete Ministerpräsident Imre Nagy offiziell rehabilitiert und feierlich beigesetzt. In der Folgezeit wurde die bestehende Verfassung überarbeitet, das Mehrparteiensystem wurde eingeführt, der offizielle Name des Landes wurde von Volksrepublik Ungarn in Republik Ungarn geändert und die ungarischen Grenzen zu Österreich für Arbeitswillige aus der DDR im Spätsommer 1998 geöffnet, was zur Wende in der DDR beitrug. Im März und April 1990 gewann eine Koalition aus Mitte-rechts-Parteien bei den ersten freien Parlamentswahlen seit 45 Jahren die Mehrheit im Parlament. Der Schriftsteller Árpád Göncz wurde zum Staatsoberhaupt gewählt.

1990 trat Ungarn als erstes mitteleuropäisches Land des Ostblocks dem Europarat bei. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 war der Niedergang des Kommunismus endgültig besiegelt. Der Warschauer Pakt war bereits zuvor aufgelöst worden, so daß ein machtpolitisches Vakuum in Europa entstand zugunsten des Westens.1991 und 1992 unterzeichnete die Regierung Erklärungen über eine Zusammenarbeit mit Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakischen Republik, Rußland sowie der Ukraine. Die Beziehungen zu Rumänien und der Slowakei blieben angespannt, aufgrund der Behandlung der ungarischen Minderheiten in diesen Ländern. Im April 1994 beantragte Ungarn die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Bei den Parlamentswahlen im Mai gewann die Ungarische Sozialistische Partei (früher: Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei) wieder die Mehrheit der Sitze im Parlament. Das Amt des Ministerpräsidenten übernahm Gyula Horn. Im September 1996 wurde mit Rumänien ein bilateraler Grundlagenvertrag abgeschlossen. Ihm zufolge werden die Rechte der Ungarn in Rumänien geregelt. Im November 1997 stimmten die Ungarn im Rahmen einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit für den Beitritt ihres Landes zur NATO, nachdem Vertreter des Landes von den Mitgliedsstaaten des westlichen Verteidigungsbündnisses bereits zu Verhandlungen eingeladen worden waren. Seit Anfang 1998 wird der Beitritt Ungarns zur Europäischen Union vorbereitet.

3. Der Wille Ungarns zur Hinwendung nach Westeuropa

Nach der politischen Wende 1989/90 war für Ungarn sofort klar, daß es in die vorhandenen euro- atlantischen Institutionen eingebunden werden wollte, damit Ungarn so den Wechsel zu Demokratie und Marktwirtschaft schafft. Als oberstes politisches Ziel galt für die bisherigen Regierungen unter Antall und Horn der Eintritt in OSZE, in die Europäische Union, NATO, Westeuropäische Union, Europarat und OECD.[6] In seinem Selbstverständnis ist Ungarn sowohl geschichtlich als auch kulturell ein Teil Europas. Die Anziehungskraft der Europäischen Union hat zusätzlich wirtschaftliche, aber auch sicherheitspolitische Gründe. Man erhofft sich von einer Einbindung in die Europäische Union wirtschaftliche Stabilität und Prosperität für das Land, das außerdem an dem Wohlstand und der Sicherheit der Industriestaaten teilhaben möchte, da man eine erneute Anbindung an Rußland vor allem auf Grund der negativen Erfahrungen als auch auf Grund des desolaten Zustandes der ehemaligen Sowjetunion auszuschließen ist. In Ungarn ist man ebenfalls der Auffassung, daß man an den Entscheidungen, die die Weltpolitik betreffen, nur in einem gemeinsamen Europa mitwirken kann. In diesem Zusammenhang gewinnt das ungarische Millennium zur Jahrtausendwende besonders an Bedeutung, da es symbolträchtig die tausendjährige Zugehörigkeit Ungarns zur europäischen Staatenwelt aufzeigt und somit den ungarischen Wunsch an dem Integrationsprozeß teilzuhaben. Allerdings gibt es in Ungarn auch andere Meinungen. Die Kritiker des Integrationsprozesses tun sich mit einer erneuten Abgabe der Souveränität, wie es im Rahmen der EU der Fall wäre, schwer, da man erst vor wenigen Jahren aus der weitgehenden Fremdherrschaft heraus seine Selbständigkeit wiedergewonnen hat. Auf der Individualebene ergeben sich für den Einzelnen Adaptionsprobleme. Die eigene Identität und die „Sozialisationsbiographie“[7] müssen den neuen Gegebenheiten angepaßt werden. Identitätsschwierigkeiten treten besonders bei Personen auf, die stark in das vorhergehende System integriert waren. 1948 zeigte sich eine solche Problematik bei der Implementierung der sozialistischen politischen Ordnung ebenso wie nach dem Systemwechsel 1990 und der anschließenden Einführung der Demokratie.

Damit man neue politische Werte internalisieren und alte Werte neu überdenken und gegebenenfalls revidieren kann, ist eine menge Zeit und Erfahrung mit dem neuen politischen System von nöten.

Um Untersuchungsergebnisse zu den einzelnen Einstellungen der verschiedenen Gesellschaftsschichten nach 1990 zu liefern, müßte man diese einer genaueren und sehr Umfangreichen Studie unterziehen. Generell kann man aber sagen, daß die Meinung und der sich daraus resultierende Wille nach Altersstufen, gesellschaftliche Einbindung und Informationsquelle unterscheiden läßt. D.h., daß schulische und jugendorganisatorische politische Bildung potentiell lediglich Adoleszente[8] erreicht, wohingegen der allgemeine Transformationsprozeß, die Massenmedien, das Verhalten der politischen Eliten und der Zeitmangel innerhalb der Familien zur Klärung politischer Fragen und Geschehen die gesamte Bevölkerung in Teilen mehr oder weniger beeinflußt. Somit ist jede Altersgruppe lediglich in der Lage, sich einem dem Informationsstand und dem eigenen, allgemeinen Interesse an Politik entsprechendes Bild von dem „Problem: EU – Ungarn“ zu machen (vgl. auch Gaszo 1995).

4. Auftretende Integrationsprobleme Ungarns im Zuge der Osterweiterung

Nach über 40 Jahren Trennung zwischen Ost und West ist eine Integration Ungarns in die Europäische Union mit Problemen behaftet, die aus den unterschiedlichen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in beiden Teilen Europas herzuleiten sind. Eine Integration Ungarns setzt deshalb tiefgreifende Reformen voraus, um die Voraussetzungen, die von der EU verlangt werden, zu erfüllen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs traten die ,,dramatischen Einkommensunterschiede und das extrem soziale und wirtschaftliche Entwicklungsgefälle zwischen Ost und West,,[9] deutlich zu Tage.

Die zentralverwaltungswirtschaftlich organisierte Volkswirtschaft Ungarns konnte nach der Wende nur durch eine massive Abwertung der Währung und hohen Abgaben für Importgüter vor dem Zusammenbruch bewahrt werden. Das politische System Ungarns war trotz erster demokratischer Ansätze 1989 noch ein weitgehend diktatorisches. Ein Drittel der in Europa lebenden Ungarn leben außerhalb des Staatsgebiets. All diese Hindernisse auf dem Weg zur Integration konnten in der Phase der Transformation, die bis 1996 im wesentlichen andauerte, angegangen und weitgehend bewältigt werden. Auf die noch bestehenden Probleme im Hinblick auf die EU-Osterweiterung soll im Folgenden genau eingegangen werden, nachdem zuvor konkretisiert wird, welche Erwartungen die EU an die Beitrittsländer hat.

4.1 Die Voraussetzungen für einen Beitritt zur EU

Bereits 1990 wurden auf der KSZE-Konferenz durch die Pariser Charta für ein neues Europa die Leitmotive eines Systemwechsels in den MOE-Staaten festgelegt: Demokratie, Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit und Marktwirtschaft. Im Maastrichter Vertrag 1992 wurden diese Ziele als Voraussetzungen für einen Beitritt zur europäischen Union formuliert. Weiter konkretisiert wurden sie in den sogenannten Kopenhagener Kriterien (1993) des Europäischen Rates und im Weißbuch zum Binnenmarkt der Europäischen Kommission.

Sie reflektieren die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen einer Mitgliedschaft, ohne jedoch eine detaillierte Checkliste oder eine objektive Meßlatte vorzugeben. Die folgenden Bedingungen muß ein Neumitglied erfüllen:

1. Stabilität der Demokratie und ihrer Institutionen (Rechtsstaat, Mehrparteiensystem, Menschenrechte, Schutz von Minderheiten, Pluralismus etc.).
2. Eine funktionierende Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt standhält.
3. Die Fähigkeit zur Übernahme der Rechten und Pflichten, die sich aus dem rechtlichen Besitzstand der EU ergeben, die sogenannte Übernahme des „ acquis communautaire“.
4. Das Einverständnis mit den Zielen der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion.

Das fünfte Kriterium (5) bezieht sich auf die Fähigkeit der EU zur Aufnahme neuer Mitglieder, ohne an Integrationsdynamik zu verlieren. Das letzt genannte Kriterium reflektiert zweifelsohne das mehrheitliche Interesse der Union, den gemeinschaftlichen Besitzstand zu wahren und eine weitere Vertiefung der Integration als realistische Perspektive aufrechtzuerhalten. Das prinzipielle „Ja“ der EU zur Osterweiterung ist also vielfach konditioniert. Die Heranführungsstrategie zur Vorbereitung der assoziierten Länder auf den Beitritt (verabschiedet im Dezember 1994 auf dem Essener Gipfel) bündelt Unterstützungsmaßnahmen für den Aufhol- und Anpassungsprozeß.

Häufig ist zu hören, daß die Latte für die Osterweiterung von der Europäischen Union besonders hoch gelegt wurde, um damit eine Abschreckungsstrategie zu verfolgen. Jedoch sind mit Ausnahme des Kriteriums, das die Absorptionsfähigkeit der EU betrifft, die auf die mittel- und osteuropäischen Staaten bezogene Beitrittskriterien eindeutig aus dem EU-Vertrag abzuleiten. Denn einschlägig ist nicht nur Artikel 49 EU-V (ex-Art.O EU-V), dessen Kernsatz lautet „Jeder europäische Staat kann beantragen, Mitglied in der Union zu werden“. So wurde 1987 unter Berufung auf das geographische Kriterium der Antrag Marokkos umgehend abgelehnt. Artikel F (neu: Art.6 EU-V) des EU-V verlangt, daß ein Mitglied der EU ein auf demokratischen Grundsätzen beruhendes Regierungssystem aufweist. Der Artikel F wurde in Amsterdam dahingehend ergänzt, daß die Mitgliedsrechte eines EU-Mitglieds, welches schwerwiegend und anhaltend die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit verletzt, ausgesetzt werden können. Aus diesem Grund und Konsequenterweise fordert die EU gemäß dem Amsterdamer Vertrag, daß Antragsteller die genannten Grundsätze achten müssen. Über diesem Punkt hinaus legt Artikel 4 EG-V (ex-Art.3 a (1) EG-V) fest, daß die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft eine Wirtschaftspolitik betreiben, die dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist. Dennoch können Staaten, die sämtliche Voraussetzungen erfüllen, keinen rechtlichen Anspruch auf EU- Mitgliedschaft ableiten. Die Beitrittsentscheidung ist ein Akt des politischen Ermessens, welcher insbesondere dem Rat und den Mitgliedstaaten zukommt.

Zudem verfügen die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 48 EU-V (ex-Art. N EU-V) uneingeschränkt über das Recht zur Vertragsänderung.

Diese können sich auch auf Beitrittsvoraussetzungen erstrecken. Jedoch ist aber nicht zu übersehen, daß sich die Europäische Union mit ihrem Kopenhagener Versprechen, jene assoziierten Länder aufzunehmen, die der EU beitreten wollen und die genannten Kriterien erfüllen, selbst politisch irreversibel auf die Osterweiterung verpflichtet hat.

4.1.1 Das Beitrittsverfahren

Wie kommt man in die Europäische Union? Hier sind nicht nur die konkreten wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Anforderungen zu würdigen. Ebenso außerordentlich kompliziert ist das formelle Beitrittsverfahren und vielschichtiger als es in Artikel 49 EU-V (ex-Art.O EU-V) angedeutet ist. Zu Beginn des Verfahrens steht der Antrag eines beitrittswilligen europäischen Staates an den Rat. Diese einseitige Willenserklärung kann bis zur Hinterlegung der Ratifikationsurkunde durch den Bewerberstaat – wie im Falle Norwegens 1994 – zurückgenommen werden. Die Kommission erörtert in ihrer vorläufigen Stellungnahme für den Rat, die generellen Möglichkeiten und Probleme des beantragten Beitritts. Anschließen beschließt der Rat über die Aufnahme von Verhandlungen im Sinne von Artikel 49 EU-V (ex-Art.O EU-V). Die Verhandlungen führt die Präsidentschaft der EU im Namen der Mitgliedstaaten und mit Unterstützung der Kommission. Erst in der Abschlußphase kommt das in Artikel 49 EU-V beschriebene Verfahren zur Anwendung. Der Rat holt zunächst die endgültige Stellungnahme der Kommission zum Beitritt ein, die ihn allerdings nicht bindet. Der Rat beschließt einstimmig „ob“ einem Beitrittsantrag stattgegeben werden soll. Parallel dazu bestimmen die Mitgliedstaaten in einem Beitrittsvertrag (inklusive der umfangreichen Beitrittsakte) mit den antragstellenden Staat die konkreten Modalitäten, das „Wie“ des Beitritts. Die Übergangsregel, die sich auf die Aufnahmebedingungen beziehen gestatten dem beitretenden Staat lediglich zeitlich begrenzte Abweichungen vom EU-V. Ebenfalls auf Seite der EU sind Anpassungen notwendig. Somit sind bei einem Beitritt Änderungen des EG-V z.B. in bezug auf die Vorschriften über die Organe (Zahl, Zusammensetzung etc.) zwingend.

Während der Verhandlungsphase wird das Europäische Parlament über den Gang der Gespräche informiert. Es muß mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder der Neuaufnahme von Staaten zustimmen.

Anschließend und in Kenntnis des ausgehandelten Beitrittsvertrages entscheidet dann der Rat. Der Beitrittsvertrag ist ein völkerrechtlicher Vertrag, welcher der Ratifikation durch die Vertragsstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften (in der Bundesrepublik Deutschland sowohl Bundestag und Bundesrat) bedarf. Das Beitrittsverfahren ist dann aber erst mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde abgeschlossen. Der beitretende Staat rückt dann mit Inkrafttreten des Beitrittsvertrages in die Rechte und Pflichten eines Mitgliedstaates der Union. Vom Zeitpunkt des Beitritts an wird das gesamte Primär- und Sekundärrecht der EU für das neue Mitglied verbindlich. Dieser „acquis communautaire“, den die Kommission mit jedem einzelnen der zehn MOE-Staaten durchgehen wird, umfaßt ca. 80.000 Seiten, die im Detail im Hinblick auf die Kompatibilität bzw. den Anpassungsbedarf des nationalen Rechts in den MOEL durchgesprochen werden müssen.

Die Europäische Union hatte, um den Harmonisierungsprozeß vorzubereiten, bereits im Mai 1995 das Weißbuch[10] für die Integration der MOE-Länder in den Binnenmarkt den MOE-Staaten an die Hand gegeben. Das Weißbuch nennt 23 Bereiche, die für das Funktionieren des Binnenmarktes – von der Freiheit des Kapitalverkehrs über Transport und Umwelt bis hin zum Verbraucherschutz – unabdingbar sind. Die Bewerber kennen somit bereits die wichtigsten rechtlichen Regelungen, die sie jeweils in ihrer nationalen Gesetzgebung übernehmen müssen. Zusätzlich erläutert das Weißbuch, welche Institutionen für die Umsetzung und die Kontrolle des Vollzugs von EU-Normen vorhanden sein müssen. Daraus läßt sich erkennen, das in den Beitrittsverhandlungen allen Beteiligten vor Augen geführt wird, daß die Europäische Gemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft ist.

Seit der ersten Erweiterung 1973 um Großbritannien, Irland und Dänemark hat sich das Prinzip herausgebildet, daß das Neumitglied den vorhandenen Integrationstand komplett übernehmen muß, also nicht etwa unter Vorbehalten oder nur einem Teil der Gemeinschaft bzw. der Union beitreten darf. Insofern sind die Verhandlungen zwischen der EU und dem Beitrittskandidaten nicht in erster Linie auf die Suche nach Kompromissen abgestellt.

Auch die EU dürfte allerdings Übergangsregelungen in spezifischen Feldern anstreben. Somit ist zu erwarten, daß sie bzw. einige besonders betroffene Staaten (z.B. Deutschland und Österreich) ihr Interesse an einer nur schrittweisen Öffnung der Grenzen für die neuen EU-Bürger geltend machen und so das Prinzip der Freizügigkeit für Personen nicht so gleich im Gegenzug zur Anwendung der Freiheit des Kapital- ,Waren- und Dienstleistungsverkehrs durch die MOEL gewähren werden. Aufgrund dieser Tatsache läßt, nach der Vollendung des Binnenmarktes, die EU nur noch sehr begrenzte Ausnahmemöglichkeiten zu. Es sollen in einem Raum ohne Binnengrenzen, in dem Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen frei bewegen können, keine Inseln entstehen, auf denen die Freiheiten nicht angewendet werden. Weiterhin können Sonderregelungen in diesem Raum nur unter hohem Aufwand kontrolliert werden. Mit dem EU-Beitritt kaum vorstellbar ist, ein fallen der Grenzen für den Agrarhandel.

Für die mittel- und osteuropäischen Staaten liegt die Beitrittsschwelle außerordentlich hoch und in jedem Fall höher als für Spanien und Portugal, welche 1986 vor Vollendung des Binnenmarktes zur EG stießen.

Aus diesem Grund sind historische Erfahrungen mit der Erweiterung für die anstehende Osterweiterung nur begrenzt aussagekräftig. Erfahrungsgemäß beträgt die Dauer der Verhandlungen mindestens 2 Jahre. Ebenso dürfte der Ratifizierungsprozeß 2 Jahre in Anspruch nehmen, so daß die ersten Neumitglieder keinesfalls vor dem Jahre 2003 der EU beitreten werden.

[...]


[1] Vgl. 15., S. 1

[2] Vgl. 15., S. 4

[3] Vgl. 21., S. 6

[4] s. 7., S. 555

[5] Vgl. 19., S. 21-27

[6] Vgl. 20., S. 1

[7] s 18., S. 20

[8] Als Adoleszente werden 12 – 17jährige Jugendliche und als Postadoleszente 18 – 29jährige junge Erwachsene

bezeichnet.

[9] s. 13., S. 267

[10] Weißbuch: In der EU-Terminologie enthält ein Weißbuch amtlich ausgearbeitete, konzeptionelle Vorschläge

zu bestimmten Politikbereichen. Im Gegensatz dazu sind Grünbücher konzeptionelle Ausarbeitungen, die als

Diskussionsvorlage zur Entscheidungsfindung vorgelegt werden.

Ende der Leseprobe aus 67 Seiten

Details

Titel
Der Beitritt Ungarns zur EU
Hochschule
Universität Bremen  (Fachbereich 8: Sozialwissenschaften)
Veranstaltung
Veranstaltung: Die Erweiterung der EU - Das Beispiel Polen
Note
gut (2,0)
Autoren
Jahr
2000
Seiten
67
Katalognummer
V18400
ISBN (eBook)
9783638227599
Dateigröße
824 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Beitritt, Ungarns, Veranstaltung, Erweiterung, Beispiel, Polen
Arbeit zitieren
Nils Becker (Autor:in)Wencke Happ (Autor:in), 2000, Der Beitritt Ungarns zur EU, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18400

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