Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Quellen der Brünhilderzählung
2.1 Die These über die Existenz von zwei Quellen
2.2 Der Werbungsbetrug
2.3 Der Streit der Königinnen
2.4 Versuch einer Gegenüberstellung der Quellen
3. Brünhilds Macht
3.1 Der Wunsch nach Unabhängigkeit vom männlichen Geschlecht
3.2 Brünhilds soziale Stellung
3.3 Die Beziehung Brünhilds zu Sigfrid und Gunther
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Diese Arbeit befaßt sich mit der Darstellung Brünhilds im Nibelungenlied.[1] Gemessen an Textumfang und Funktion kommt der Brünhildgestalt im Nibelungenlied nur bedingt eine wichtige Rolle zu, die knapp skizziert folgendermaßen aussieht: Brünhild tritt als mächtige Herrscherin Isensteins auf, die sich in heroischen Wettkämpfen ihrer Freier erwehrt, durch den Werbungsbetrug Sigfrids und Gunthers aber an den Wormser Hof gelangt und dort durch einen weiteren Betrug ihrer Jungfräulichkeit und ihrer Macht verlustig geht. Schließlich wird durch einen Streit Brünhilds mit Kriemhild, der auf den Betrug zurückgeht, die Ermordung Sigfrids in die Wege geleitet.
Doch diese Schilderung der Rolle Brünhilds ist in ihrer Kürze provokant und läßt vieles übersehen. Zwar enthält die Ausarbeitung dieser Textfigur vielfach nur Andeutungen, zeigt Widersprüche auf und läßt eine Menge von Fragen offen, aber gerade hierdurch wird das Interesse an der Brünhildgestalt geweckt. Man erahnt, daß die Geschichte über Brünhild, vor allem ihre Beziehung zu Sigfrid, ursprünglich eine größere Stofffülle beinhaltet als im Nibelungenlied offensichtlich wird, und beginnt, Motive des Textes zu hinterfragen.
Wie wird Brünhild in den Kampfspielen charakterisiert? Wie stellt sich der Werbungsbetrug dar und welche Auswirkungen hat er? Welcher Art sind die Verbindungen Brünhilds zu Sigfrid und Gunther?
Bei all diesen Fragen scheint der Aspekt der Macht eine bedeutende Rolle zu spielen. Daher wird den Machtverhältnissen ein Schwerpunkt bei der Untersuchung eingeräumt .
Bevor jedoch die Darstellung der Macht Brünhilds behandelt wird, soll einleitend auf die Quellenlage des Nibelungenliedes eingegangen werden, da diese hilfreiche Aufschlüsse über die Textkomposition des Dichters geben kann. Referiert wird die Quellenlage der Brünhilderzählung nach einem Aufsatz von Joachim Bumke.[2]
2. Die Quellen der Brünhilderzählung
2.1 Die These über die Existenz von zwei Quellen
Joachim Bumke vertritt die These, daß für die Gestaltung der Brünhildfigur im Nibelungenlied zwei verschiedene Quellen zugrundelagen, die im Text miteinander verknüpft wurden. Zum einen ein Brünhildlied, das auch für die Thidrekssaga als Vorlage diente, und zum anderen eine Quelle, für die Übereinstimmungen mit der nordischen Tradition der Brünhildfabel charakteristisch sind.[3]
Widersprüche in der Motivverwendung und im Handlungsverlauf des Nibelungenliedes nimmt Bumke als Anhaltspunkte für das Zusammenfügen zweier Quellen durch den Dichter. Aus der Entflechtung dieser Widersprüche rekonstruiert er zwei parallele Handlungsstränge, die über die beiden angenommenen Quellen Aufschluß geben sollen. Zur Entwicklung der beiden Handlungsverläufe werden Vergleiche zwischen dem Nibelungenlied und der Thidrekssaga angestellt. Übereinstimmende Motive sprechen für das Brünhildlied als Quelle, abweichende Motive deuten auf eine zweite Quelle hin. Dabei müssen noch solche Textelemente ausgesondert werden, die einer Eigenleistung des Dichters entspringen, bzw. von diesem zur Verknüpfung der Quellen hinzugefügt wurden.[4]
Die Verwendung zweier unterschiedlicher Quellen läßt sich für die Brünhildgestalt an zwei Motivkomplexen besonders deutlich machen. Dies sind der Werbungsbetrug und der Streit der Königinnen.
2.2 Der Werbungsbetrug
Die Werbung um Brünhild zeichnet sich im Nibelungenlied durch einen doppelten Betrug aus: bei den Wettkämpfen und in der Hochzeitsnacht. Dagegen kennt die Thidrekssaga nur den Betrug beim Beilager.[5] Rührt also die Verdopplung des Betrugs von der Verwendung einer zweiten Quelle her? Um dies zu belegen, müßten im Nibelungenlied zwei schlüssige Handlungsverläufe aufgedeckt werden, die Unstimmigkeiten zueinander aufweisen und in die jeweils ein Betrugsmotiv eingebunden werden kann.[6]
Die Skizzierung eines doppelten Handlungsstrangs beginnt bei der Rolle, die Sigfrid bei der Werbungsfahrt einnimmt. Auf der einen Seite rät Sigfrid von der gefährlichen Unternehmung ab und kann von Gunther nur dadurch „als starker Helfer“[7] gewonnen werden, daß ihm die Hand Kriemhilds als Belohnung versprochen wird (330ff.). Auf der anderen Seite übernimmt Sigfrid später aus eigenem Antrieb die Führung der Werbungsfahrt, da er bestens über Brünhild und die Wege zu ihr Bescheid weiß (378). Schon vorher werden diese Kenntnisse Sigfrids von Hagen zwar angemerkt, aber nicht weiter erläutert (331, 4).
Die Rolle des kundigen Führers entspricht der Thidrekssaga, in der aber keine Kampfspiele vorkommen, sondern Brünhild zur Heirat mit Gunther überredet wird. Sigfrids Funktion als tatkräftiger, wenn auch zunächst unwilliger Helfer erhält dann einen Sinn, wenn die Werbung Brünhilds durch die Wettkämpfe vollzogen wird.[8] Hier scheinen also Ansätze für zwei unterschiedliche Handlungsbahnen gegeben zu sein.
Gemäß ihrer Freiersbedingungen ist Brünhild bereit, denjenigen zu heiraten, der sie in allen drei Wettspielen besiegt. Sigfrid erfüllt mit Hilfe seiner Tarnkappe diese Bedingungen für Gunther, und Brünhild hält daraufhin die Vereinbarung ein und unterwirft sich Gunther mit ihrem ganzen Gefolge (466ff.). Etwas später jedoch macht sie es von der Entscheidung ihrer Verwandten abhängig, ob sie Gunther an den Wormser Hof folgt (475), und läßt nach ihren Leuten schicken. Aus Besorgnis hierüber fährt Sigfrid ins Nibelungenland und holt seine Mannen zur Verstärkung gegen eine drohende Übermacht von Brünhilds Gefolge. Aber überraschenderweise beginnt nach Sigfrids Expedition der Aufbruch nach Worms, ohne daß es eine Versammlung von Brünhilds Angehörigen gegeben hätte. Hier werden Widersprüche deutlich, die Hinweise auf zwei unterschiedliche Handlungen geben.
Ein Beschluß von Brünhilds Verwandtschaft über die Werbung Gunthers erscheint nur dann verständlich, wenn kein Wettkampf ausgetragen wurde, da dieser ja schon über den Erfolg der Werbung entscheidet. Solch ein Handlungsverlauf ist aufgrund der Übereinstimmungen mit der Thidrekssaga der Quelle des Brünhi1dliedes zuzuschreiben. Der öffentliche Wettkampf als Freiersprobe spielt hier keine Rolle. Stattdessen wird Brünhild zur Heirat überredet, und zum Werbungsbetrug, bei dem Sigfrid Brünhild das Magdtum nimmt, kommt es erst in der Brautnacht. In der zweiten Quelle geschieht der Werbungsbetrug beim Wettkampf, wobei dieser allein maßgeblich dafür ist, ob Brünhild in die Heirat einwilligt.[9] Bumke sieht für diese Quelle nicht die Notwendigkeit, daß sie einen Betrug in der Brautnacht enthält. Vielmehr geht er davon aus, daß sie ebenso wie die nordischen Fassungen eine „keusche Brautnacht“ kennt, das heißt in ihr nimmt nicht Sigfrid Brünhild die Jungfräulichkeit, außereheliche Enthaltsamkeit wird eingehalten.[10] Aus der Zusammenfügung beider Quellen entstand dann die groteske Brautnachtszene des Nibelungenliedes, in der Brünhild zwar betrogen, aber von Sigfrid nicht berührt wird.
Die Szene der Hochzeitsnacht unterscheidet sich im Nibelungenlied und in der 'Thidrekssaga außerdem durch das Hilfsmittel, das zum Betrug eingesetzt wird. In der Thidrekssaga geht Sigfrid in Gunthers Kleidern zu Brünhild, bezwingt sie und raubt ihr das Magdtum. Gunther ist gar nicht anwesend, während der Betrug vollzogen wird. Der Dichter des Nibelungenliedes aber läßt Sigfrid wie schon beim Wettkampf die Tarnkappe einsetzen, da sie es möglich macht, daß sowohl Sigfrid als auch Gunther beim Betrug anwesend und an ihm beteiligt sind, also Brünhild von Gunther entjungfert wird, nachdem sie vom unsichtbaren Sigfrid besiegt ist (678-680). Einige Unstimmigkeiten, die sich beim Einsatz der Tarnkappe in der Brautnachtszene ergeben, sprechen dafür, daß die Thidrekssaga mit dem Kleidertausch den ursprünglichen Inhalt des Srünhi1dliedes wiedergibt, während das Motiv der Tarnkappe in diese Szene des Nibelungenliedes nachträglich eingefügt wurde.[11]
Die Verwendung einer Tarnkappe erscheint in dieser Szene insofern gänzlich ungeeignet zu sein, als Brünhild nicht merken darf, daß sie mit einem Unsichtbaren ringt. Somit müßte völlige Dunkelheit in der Schlafkammer herrschen, doch ist in völliger Finsternis eine Tarnung nicht mehr nötig. Zudem wird gesagt, daß Gunther die Lichter nicht ganz löscht, sondern nur hinter den Bettvorhängen verbirgt (665, 1); demzufolge müßte Brünhild noch in der Lage sein, etwas zu erkennen, was für die Version des Kleidertausches spricht. Daß der Dichter trotz der Widersprüche die Tarnkappe dem Kleidertausch vorzog, deutet darauf hin, daß es ihm wichtig war, Gunther und Sigfrid gemeinsam handeln zu lassen, um eine sexuelle Beziehung zwischen Sigfrid und Brünhild ausschließen zu können.[12]
2.3 Der Streit der Königinnen
Den nächsten bedeutenden Motivkomplex bildet der Streit der Königinnen, der die Funktion hat, den Betrug an Brünhild aufzudecken, und Ausgangspunkt für die Ermordung Sigfrids ist.[13] Um die These zweier Quellen aufrechterhalten zu können, müssen die bisher aufgezeigten parallelen Handlungsverläufe hier weiterskizziert werden können.
Der öffentlichen Auseinandersetzung vor dem Münster geht ein Streitgespräch voraus, das Brünhild und Kriemhild offenbar ohne Zuhörerschaft über den Rang und das Ansehen ihrer Männer führen. Hier geht es also um einen Männervergleich[14], so sagt Kriemhild: „… er ist tíwerr danne sî Gunther mîn bruoder“ (824, 2f.).
Da das Gespräch zu keinem Ergebnis führt, wird die Entscheidung auf den Münstergang verschoben (827). Aber mit dem Vorsatz, die Auseinandersetzung vor dem Münster weiterzuführen, verlagert sich auch die Thematik des Streites von einem Männervergleich zu einem Vergleich über den Rang der beiden Frauen. Vor dem Münster ist dann keine Rede mehr von Brünhilds vorheriger Behauptung, Sigfrid sei Gunthers „eigen man“, vielmehr wirft Kriemhild nun Brünhild vor, sie sei Sigfrids „Kebse“ (821, 839). Die Zusammengehörigkeit dieser beiden Streitsituationen ist insofern nicht einsichtig, als die Münsterszene mit dem heftigen Wortwechsel über die Frage, wem der Vortritt gebührt, auf ein spontanes Aufeinandertreffen schließen läßt. Eine vorherige Planung scheint zu dieser „Entscheidungssituation“[15] nicht zu passen.
Wenn der Frauenstreit die Funktion haben soll, den Betrug an Brünhild aufzudecken, so wäre der Männervergleich am ehesten dazu geeignet, das Wettkampfgeschehen aufzuklären, während sich der Frauenvergleich auf die Geschehnisse der Brautnacht bezieht. Doch im Nibelungenlied werden für Brünhild weder der Wettkampfbetrug noch die Vorgänge der Brautnacht offenkundig. Der Männervergleich wird vorzeitig abgebrochen, und den Frauenvergleich beendet eine Behauptung Kriemhilds, die im Nibelungenlied unwahr ist, nämlich der Vorwurf, Brünhild sei eine „Kebse“. Diese Darstellung des Königinnenstreites erfüllt also die Funktion der Betrugsaufklärung nicht, was vermutlich in der Zusammenfügung zweier Quellen begründet ist.
Die Thidrekssaga enthält nur einen spontanen, öffentlichen Streit, der sich auf die Brautnacht bezieht. Andere Fassungen, die der nordischen Tradition folgen, kennen ein Einzelgespräch zwischen Kriemhild und Brünhild, das über eine öffentliche Freiersprobe Aufschluß bringt. Somit sind Anhaltspunkte dafür gegeben, den Männervergleich der zweiten Quelle zuzuordnen, die von den Wettkämpfen berichtet, und das Motiv des öffentlichen Streites dem Brünhildlied zuzuschreiben.[16]
2.4 Versuch einer Gegenüberstellung der Quellen
Die beiden Handlungsverläufe, die von Bumke als Quellen angenommen werden, sollen abschließend noch einmal zusammenhängend dargestellt werden. Dabei ist anzumerken, daß Bumke die Differenzierung der Quellen im Nibelungen1ied bis zum Mord an Sigfrid weiterführt, was jedoch hier keine weitere Beachtung finden soll, da für eine Behandlung der Brünhildgestalt die obig betrachteten Motivkomplexe ausschlaggebend sind.
[...]
[1] Das Nibelungenlied wird hier mittels der in Klammern nachgestellten Angabe der Strophen- bzw. Verszahl und nach folgender Ausgabe zitiert: Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Hg. von Helmut de Boor. 22., revid. und von Roswitha Wisniewski erg. Aufl. Brockhaus: Mannheim 1988.
[2] Joachim Bumke: „Die Quellen der Brünhildfabel im Nibelungenlied“. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Bd. 54, 1960. Carl Winter: Heidelberg 1960. S. 1-38.
[3] Vgl. Joachim Bumke: „Die Quellen der Brünhildfabel im Nibelungenlied“. S. 1-4.
[4] Ebd. S. 4f.
[5] Ebd. S. 6.
[6] Joachim Bumke: „Die Quellen der Brünhildfabel im Nibelungenlied“. S. 10.
[7] Ebd. S. 5.
[8] Ebd. S. 6f.
[9] Joachim Bumke: „Die Quellen der Brünhildfabel im Nibelungenlied“. S. 7.
[10] Ebd. S. 8.
[11] Ebd. S. 9f.
[12] Ebd. S. 10.
[13] Joachim Bumke: „Die Quellen der Brünhildfabel im Nibelungenlied“. S. 11.
[14] Ebd.
[15] Ebd. S. 12.
[16] Joachim Bumke: „Die Quellen der Brünhildfabel im Nibelungenlied“. S. 17f.