Indexikalität und Fregescher Sinn: Eine Untersuchung zu den referentiellen Eigenschaften des Personalpronomen "ich"


Bachelorarbeit, 2012

50 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


InhaltsverzeichnisSeite

1. Einleitung

2. Terminologische Festlegungen
2.1. Grundprinzipien der Fregeschen Terminologie und das, was er „Gedanke“ nennt
2.2. Zur Klassifikation indexikalischer Ausdrücke
2.2.1. Die Ergänzungsbedürftigkeit indexikalischer Gedankenausdrücke bei Frege

3. Sätze mit „ich“ und deren Besonderheiten im Kontext von Frege
3.1. Probleme mit dem Indikator „ich“
3.2. Sinn-Beitrag der sprechenden Person
3.2.1. Kemmerlings Interpretation zum Sinn-Beitrag der ersten Person Singular
3.2.2. Künnes Ausdeutung zum Sinn-Beitrag der ersten Person Singular

4. Indikatoren und Fregescher Sinn in der Semantik von John Perry und Gareth Evans
4.1. Perrys Logik der reinen Indexwörter
4.1.1. Auseinandersetzung mit Freges Prinzipien
4.1.2. Das Dilemma der wesentlichen Indexwörter
4.1.3. Perrys Lösung zur Ich-Bestimmung
4.2. Evans zu indexikalischer Referenz
4.2.1. Skizze der Sprachphilosophie und ErkenntnistheorieEvans´
4.2.2. Selbstbewusstsein und die erste Person Singular
4.2.3. Evans´ Lösung zur Ich-Bestimmung
4.2.3.1. Immunität gegen Irrtum durch Fehlidentifikation körperlicher Selbstzuschreibungen

5. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Gottlob Frege, deutscher Mathematiker, Logiker und Philosoph (1848-1925) gilt, neben Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein, als einer der großen Vordenker der analytischen Philosophie. Fregesgrößte Leistung liegt sicherlich in der Erfindung der modernen Logik, die er unvermittelt und weitestgehend ohne historische Vorbilder 1879 in einem Buch mit dem Titel „Begriffsschrift“dargeboten hat.[1] Die von ihm in diesem Kontext hervorgebrachte „formale Sprache“ folgt der Idee, aus der sog. Normalsprache oder Alltagssprache, mittels logischer Analyse, eine „Idealsprache“ zu entwickeln, die all das ausdrücken kann, was die Normal- oder Alltagssprache ausdrückt, aber präzise und logisch eindeutig. Neben der Entwicklung der formalen Logik geht auch deren erste Anwendung für einen philosophischen Zweck, die Grundlegung der Mathematik, auf Frege zurück.[2] In seinen Schriften Begriffsschrift und Grundgesetze der Arithmetik (1893-1903) erarbeitete Frege somitdie formalen Darstellungsmittel, die in ihrer strikten Trennung von Syntax und Semantik die Grundlagen der modernen Logik bilden. In seinen sprachphilosophischen Aufsätzen legte er mit seiner Unterscheidung von Sinn und Bedeutung (1892) sowie Begriff und Gegenstand(1892) die Grundsteine der modernen analytischen Philosophie.

In dem 1918 erschienen Aufsatz Der Gedanke – eine logische Untersuchung, der gleichzeitig den Ausgangs- und Bezugspunkt meiner Arbeit bildet, widmet sich Gottlob Frege einem weiteren Kernbestandteil seiner Philosophie, nämlich, wie der Titel bereits offenbart, dem „Gedanken“. Während über die Struktur von Freges formaler Logik bei den unterschiedlichen Interpreten weitgehend Einigkeit herrscht, ist dagegen die historische und semantische Eingliederung von Freges philosophischen Schriften eher umstritten. „Es ist kaum möglich, etwa Freges Begriff des Gedanken zu erläutern, ohne in diesen Kontroversen Stellung zu beziehen“[3], so Verena Mayerin der Vorbemerkung ihres Buches über Gottlob Frege. Speziell in der Auseinandersetzung mit indexikalischen Ausdrücken nimmt das Werk Freges einen besonderen Stellenwert ein. Vor allem Der Gedanke, aber auch Über Sinn und Bedeutung entfalten lange nach seinem Tod eine Wirkung, die sich in allgemeinen Rekonstruktionen wie aber auch in konträren Positionen, von beispielsweise John Perry[4], niederschlägt.

In direkter Anlehnung daran werde ich mich mit dem semantischen Verständnis der Fregeschen Theorie des Gedankens, und dabei im Besonderen mit der Verwendung des Indexwortes „ich“ auseinandersetzen. Dabei gilt es zuvorderst zu klären, was Freges Lehre zum Thema des Sinns und des Bezugs eines solchen Indikatorsanbietet, aber auch, was in diesem Zusammenhang eventuell zu Problemen führtund welche Fragen seine Lehre nicht beantworten kann. Im zweiten Teil meiner Arbeit werde ich die Konzeptionen zweier Sprachphilosophen des späteren 20. Jahrhunderts,die sichebenfallsintensiv mit den Theorien der Indexikalität beschäftigten, John Perry und Gareth Evans, dem Fregeschen Ansatz gegenüberstellen und derenPositionen, immer in Rückgriff auf Frege, herausarbeiten.

Einleiten möchte ich meine Arbeit jedoch mit einem kurzen Abriss über die Grundsätze der Fregeschen Lehre. Dies erscheint mir deshalb wesentlich, um sinnvoll nachvollziehenzu können, auf welcher Grundlage Frege seine Theorie zu oben genannter Problemstellung entwickelt.

2 Terminologische Festlegungen

2.1 Grundprinzipien der Fregeschen Theorie und das, was er „Gedanke“nennt

Um zu verstehen, was Frege meint, wenn er von einem „Gedanken“ spricht, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass es sich hier nicht um einen Gedanken im Sinne eines psychologischen Teilvorgangs des Denken handelt.Das Grundprinzip von Freges Sprachphilosophie besagt, dass Sätze, in erster Linie Behauptungssätze, Gedanken ausdrücken.[5] Gedanken sind weder subjektiver Natur, im Gegensatz zu Vorstellungen und Sinneseindrücken,und sie sind auch keine sinnlich wahrnehmbare Dinge oder Gegenstände der Außenwelt.[6] Gedanken zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie dasjenige sind, bei dem überhaupt Wahrheit oder Falschheit in Frage kommt. Demnach besitzen, nach Frege, Gedanken Wahrheitswertfähigkeit.[7] Damit wird aber nicht lediglich die Bedingungsform ausgedrückt, dass wenn etwas wahr oder falsch ist, dies ein Gedanke sein muss, sondern es wird hernach eine hinreichende Bedingung für die Verschiedenheit von Gedanken angedeutet. So giltfür zwei Sätze p und q, wenn p etwas Wahres und q etwas Falsches ausdrückt, so sind die von p und q ausgedrückten Gedanken verschieden.[8]

Für das Haben von Gedanken wählt Frege den Ausdruck „fassen“[9]. Um einen Gedanken fassen zu können, bedarf es einesbesonderen geistigen Vermögens, der Denkkraft. Dies setzt wiederum einen Fassenden (Denkenden) voraus, d.h. das Bewusstsein des Denkenden, das aber nicht Träger der Gedanken ist. Der Gedanke selbst gehört nicht zum Bewusstseinsinhalt des Denkenden, allerdings muss etwas im Bewusstsein des Denkenden auf den Gedanken hinzielen. Der Gedanke ist kein subjektives Tun des Denkens, sondern dessen objektiver Inhalt, der fähig ist, gemeinsames Eigentum von vielen zu sein.[10]

Um diese Auffassung des Gedankens und dessen Wahrheitswertfähigkeit erschöpfend erfassen und in der Analyse anwenden zu können, erscheint es mir hier sinnvoll,einen Rückgriff auf die Fregeschen Termini „Sinn“ und „Bedeutung“ eines Ausdrucks bzw. eines Gedankens,zu machen.

Mit der Bedeutung eines Ausdrucks meint Frege den vom Ausdruck bezeichneten Referenzgegenstand. Zur Erklärung desselben greift er auf das Phänomen der informativen Identitätsaussagen zurück. Hierbei unterscheidet er zwei Arten von Identitätssätzen, nämlich Sätze der Form „a=a“[11] und Sätze der Form

„a=b“[12]. Nach Frege haben beide Sätze einen unterschiedlichen Erkenntnis- und Informationswert. Sätze der Form a="a" kann jeder als wahr erkennen, denn beide Ausdrücke sind identisch. Allerdings besitzen sie keinerlei Erkenntnis- und Informationswert, wohingegen Sätze der Form a="b" wichtige Erweiterungen unserer Erkenntnis beinhalten. Diese Art von Identitätssätzen können wahr oder falsch sein und müssen durch Erfahrung überprüft werden. An dieser Stelle können wir also zusammenfassen, dass zwei Aussagen der Form a="a" und a="b" sich nicht unterscheiden, wenn sich die Bedeutung der Ausdrücke in der Bedeutung, d.h. in den bezeichneten Entitäten,erschöpft.[13]

Im Kontext der informativen Identitätsaussagen besteht für Frege der Anlass, die Tragweite singulärer Terme nicht nur mittels einer Bedeutung (Referenzgegenstand), sondern auch durch einen Sinn zu charakterisieren. Mit dem Sinn bezeichnet Frege die „Art des Gegebenseins“[14] eines sprachlichen Ausdrucks. So haben beispielsweise die Ausdrücke „Morgenstern“ und „Abendstern“ dieselbe Bedeutung, nämlich im Sinne des Referenzgegenstandes Planet Venus, aber sie haben nicht denselben Sinn, da zum einen die Sichtbarkeit des Sterns am Morgen und zum anderen seine Sichtbarkeit am Abend manifestiert wird. Folglich wird mit dem Sinn also die Art oder Weise des Gegebenseins eines sprachlichen Ausdrucks bezeichnet.[15]

Gehen wir hier einen Schritt weiter und fragen nach dem Sinn von Behauptungssätzen bzw. von Gedanken. Wir kennen bis dato den Sinn eines einzelnen sprachlichen Wortes als seine Art des Gegebenseins. Übertragen wir das nun auf ganze Sätze / Gedanken, so lässt sich eben dieses Gegebensein auch darauf anwenden. So ist z.B. die Weise des Gegebenseins und somit der Sinn des Satzes „der Morgenstern ist ein von der Sonne beleuchteter Körper“ verschieden von dem Satz „der Abendstern ist ein von der Sonne beleuchteter Körper“[16]. Beide Behauptungssätze drücken nach Frege Gedanken aus, jedoch verschiedene, da man den einen Satz für wahr und den anderen für falsch halten kann, wenn man nicht weiß, dass es sich in beiden Fällen um die Entität Planet Venus handelt.[17] Somit sind die geäußerten Gedanken unterschiedlich, bedingt durch die Weise ihres Gegebenseins und damit auch in ihrem Sinn.Jedoch haben die Unterschiede im Sinn, bewirkt durch die Substitution der beiden Ausdrücke „Morgenstern“ und „Abendstern“ keinerlei Einfluss auf den tatsächlichen Wahrheitswert der Gedanken, da ein Wort durch ein anderes mit derselben Bedeutung ersetzt wurde. Folglich müssen beide Gedanken als wahr anerkannt werden.

Es scheint bei Frege so zu sein, als ob die wahrheitskonditionale Rolle eines Ausdrucks durch seine kognitive Bestimmung festgelegt wird, da der Sinn die Bezeichnung in Form einer extensionalen Bezugnahme festlegt. Das ist insofern richtig, als Sinne sowohl Einheiten der kognitiven Bedeutsamkeit, Gegenstände des Denkens und Entitäten der sprecherabhängigen Wahrheitswertbestimmung, als auch Träger der Wahrheitswerte sind und die Wahrheitsbedingungen festlegen. Allerdings betont Frege ausdrücklich, dass Gedanken keine psychischen Einheiten wie etwa Vorstellungen sind. Sie sind weder psychisch noch physisch, sondern gehören einem „dritten Reich“ an.[18]

2.2 Zur Klassifikation indexikalischer Ausdrücke

In der Sprachphilosophie wird immer dann von Indexikalität gesprochen, wenn der semantische Wert, d.h. die Bedeutung oder der Referent eines Ausdrucks sich abhängig vom Kontext ändern kann. In Anlehnung an Pierce werden Sätze als indexikalisch charakterisiert, wenn sie Personal-, Possesiv- oder Demonstrativpronomina, wie „ich“, „mein“ und „dies“, Demonstrativ-Determinatoren wie „dieser, „Temporal- oder Lokaladverbien wie „heute“ und „hier“, Temporaladjektive wie „heutig“ und „hiesig“, um nur einige zu nennen, enthalten.[19] Auch David Kaplan hat in seiner Abhandlung Demonstratives, Demonstrativa von Indexwörtern unterschieden. Demonstrativa sind Ausdrücke, die mittels einer hinweisenden Geste referieren, wie z.B. „dies“, jenes“, usw., Indexwörter, wie „ich“, „hier“, „gestern“, „heute“ etc. bedürfen üblicherweise keiner derartigen Geste. Sie werden auch als „reine Indexwörter“ bezeichnet.[20]

So stellt sich die Frage, ob Sätze, die sogenannte reine Indexwörter enthalten im Sinn als vollständig zu betrachten sind, oder gewisser Beifügungen bedürfen und wenn ja, welcher. Derartige Problemstellungen, eigens zur Indexikaltität der ersten Person Singular, gilt es in den folgenden Kapiteln,auf der Basis von Freges Lehre, zu diskutieren.

2.2.1 Die Ergänzungsbedürftigkeit indexikalischer Gedankenausdrücke bei Frege

Frege behauptet, dass mit einem indexikalischen Satz nicht immer derselbe Gedanke ausgedrückt wird, „weil die Worte einer Ergänzung bedürfen, um einen vollständigen Sinn zu ergeben, und […] diese Ergänzung nach den Umständen verschieden sein kann.“[21] Damit sagt er, dass die in der Satz-Äußerung gebrauchten Wörter allein noch nicht den vollständigen Gedanken ausdrücken, der die Wahrheitsbedingungen dessen manifestiert, was der Sprecher mit seiner Äußerung sagt. Frege wird diesbezüglich noch deutlicher, indem er erklärt, dass der bloße Wortlaut nicht der vollständige Ausdruck des Gedanken sei, sondern dass gewisse Umstände der Äußerung noch hinzutreten müssen (bei Sätzen mit „ich“, mit „jetzt“, mit „hier“ etc.), um den Gedankenausdruck so zu komplettieren, dass letztlich ein Gedanke ausgedrückt werde, durch den festgelegt ist, ob das vom Redner bei jener Gelegenheit Gesagte wahr ist oder nicht.[22]

„So überragt der Inhalt eines Satzes nicht selten den in ihm ausgedrückten Gedanken. Aber auch das Umgekehrte kommt oft vor, dass nämlich der bloße Wortlaut, welcher durch die Schrift oder den Phonographen festgehalten werden kann, zum Ausdruck des Gedanken nicht hinreicht.“[23]

Äußerst jemand beispielsweise den Satz:

„Es regnet in Weinheim“,

so drückt der Satzallein, sozusagen aus sich selbst heraus, keinen vollständigen Gedanken bzw. keinen vollständigen Sinn aus. Das, was einen vollständigen Sinn bzw. einen vollständigen Gedanken hervorbringt, ist nicht die Satzäußerung allein, sondern immer die Äußerung kombiniert mit bestimmten Elementen der Äußerungssituation, bestehend aus einem sprachlichen Zeichen und einem Bestandteil der nicht sprachlichen Realität. Wolfgang Künne nennt solche Gedankenausdrücke „hybrid“[24]. Im obigen Beispiel besteht ein solcher hybrider Gedankenausdruck aus der Satzäußerung und der „Zeit des Sprechens“[25].Dazu Frege:

„In allen solchen Fällen ist der bloße Wortlaut, wie er schriftlich festgehalten werden kann, nicht der vollständige Ausdruck des Gedankens, sondern man bedarf zu dessen richtiger Auffassung noch der Kenntnis gewisser des Sprechens begleitender Umstände, die dabei als Mittel des Gedankenausdrucks benutzt werden. Dazu können auch Fingerzeige, Handbewegungen, Blicke gehören.“[26]

Nun, für Frege gibt es also, was die semantischen Gegebenheiten indexikalischer Sätze angeht, nur eine einzige Form der Unvollständigkeit von Gedanken, nämlich die, dass dem sprachlichen Zeichen ein Ausschnitt der nicht sprachlichen Wirklichkeit zugefügt wird. Diese Unvollständigkeit konzipiert Frege, zumindest aus dem Kontext seines Aufsatzes Der Gedanke, ohne jegliches Argument. Was der geäußerte indexikalische Satz selbst, für sich allein genommen, sozusagen aus eigener semantischer Kraft, als Sinn liefert, beantwortet Frege nicht.

So möchte ich folgendes festhalten: Ein indexikalischer Satz, zumindest soweit er bis hierher untersucht wurde, kann nach Frege, dank dem Sinn seiner Wörter, nur einen unvollständigen Gedanken ausdrücken.

Im Rahmen meiner nachfolgenden Überlegungen möchte ich michexemplarisch mit Sätzen befassen, in denen „ich“ als einzige indexikalischeVokabel auftritt. Ausgehend von Frege werde ich alternative Konzeptionen seiner Lehre gegenüberstellen, und in allen Fällen untersuchen, welche Lösungen die jeweiligen Autoren anbieten können, ebenso aber, was dabei problematisch erscheint bzw. welche Fragen unbeantwortet bleiben.

3 Sätze mit „ich“ und deren Besonderheit im Kontext von Frege

„Der gleiche das Wort „ich“ enthaltene Wortlaut wird im Munde verschiedener Menschen verschiedene Gedanken ausdrücken, von denen einige wahr, andere falsch sein können. Das Vorkommen des Wortes „ich“ in einem Satze gibt noch zu einigen Fragen Veranlassung.“[27],

so Freges Formulierung zur Problematik mit dem Indikator der ersten Person Singular.Der Satz

„Ich bin verwundet worden.“[28]

oder ganz allgemein ausgedrückt

(1)„N.N sagt: „Ich bin P“.“[29],

und in direkter Anlehnung an Freges Text

(1*) „Dr. Gustav Lauben sagt: „Ich bin verwundet worden“.“[30]

sei das Beispiel für nachstehende Überlegungen und zwar, indem er von einer Person, N.N. oder Dr. Gustav Lauben, geäußert wurde. Nach Freges These bedarf die Äußerung eines indexikalischen Ausdrucks wie „ich“ einer Ergänzung, um einen vollständigen Sinn, bzw. einen vollständigen Gedanken, zu ergeben.[31] Den Fregeschen Sinn des Wortlautes in obigem Beispielsatzes bezeichnet Frege als etwas „Ungesättigtes“, da es zu einer gedanklichen Vervollständigung, einer durch eine aus dem Kontext von N.N.getätigten Äußerung, eine hinzukommenden Sinnkomponente, die „fertig“, d.h. „gesättigt“[32] ist, bedarf.

Im Falle eines Satzes mit „ich“ als einzigemIndexwort, sieht Frege denjenigen, der den Satz geäußert hat, hier N.N.(1),als dasjenige vor, das den Sinnausdruck zu dem eines Gedanken vollendet. Dieser Sachverhalt wirft die Frage auf, ob auch nur der Produzent der indexikalischen Ich-Äußerung den ausgedrückten Gedanken fassen kann, und somit anderen gar keine Mitteilung machen kann, d.h. Frege stellt zur Diskussion, ob andere als der Sprecher selbst den Gedanken, der bei der Äußerungin der ersten Person Singular ausgedrückt wird überhaupt fassen oder äußern können.[33] Dazu gibt es, so Frege, für jedes denkende Wesen eine bestimmte Art und Weise, auf die nur N.N. an N.N. denken kann und auf die N.N. nur an N.N. denken kann.Diese kognitive Perspektive auf N.N. nennt Wolfgang Künne, in Anlehnung an Frege, „Ego“-Gedanken[34], der immer mit Hilfe von Ich-Sätzen ausgesprochen wird.[35] Solche Ego-Gedanken besitzen jedoch keinerlei Mitteilungscharakter, denn niemand kann mit „ich bin mit mir identisch“[36] eine informative Auskunft geben, d.h. wir treffen hier, nur in einem anderen Gesamtzusammenhang, auf Identitätsaussagen der Form a=a, die unsere Erkenntnis nicht erweiternundebenso keinerlei Informationswert besitzen. Dem zur Folge drückt N.N. einen Gedanken der Form „EgoN.N.“[37] aus, den niemand außer N.N. selbst fassen und artikulieren kann.[38] Man könnte gegenwärtig auch sagen, dass N.N. bzw. Dr. Gustav Lauben, bei dieser Auslegung, ein Selbstgespräch führt. Das hieße für den Ego-Gedanken, dass niemand als der Sprecher selbst, also N.N., den Gedanken fassen und äußern kann.[39] Um aber konkret bei Freges Abfassung Der Gedanke zu bleiben, erscheint diese Variante der Ich-Äußerung für ihn keine entscheidende Relevanz zu haben,denn er geht nicht weiterdarauf ein bzw. er benennt sie nur weitestgehend.

„[…] Und den so bestimmten Gedanken[40] kann nur Dr. Lauben selbst fassen. Nun aber wollte er Anderen eine Mitteilung machen. Einen Gedanken, den nur er allein fassen kann, kann er nicht mitteilen. Wenn er also sagt „ich bin verwundet worden“, muss er das „ich“ in einem Sinn gebrauchen, der Anderen fassbar ist, […].[41]

Indiesem Kontext lenkt Frege seine Überlegungenstringent in die Richtung einer Kommunikationssituation, d.h. es geht ihmwohl um die Form von Gedanken, in der ein „Sender“ einem „Empfänger“ eine Nachricht in der Ich-Form übermittelt, also, im klassischen Sinn, etwasüber sich selbst mitteilt. Eine solche Art der Darlegung wird auch von Künne, im Rahmen seines Interpretationsvorschlags zu Freges Der Gedanke, unterstützt:

„Der Gedanke, den Dr. Lauben mit „Ich bin verwundet worden“ ausdrückt, ist offenkundig nicht von dieser Art[42]: Es geht Frege an unserer Stelle um eine Beschaffenheit, welche die Gedanken, die mit „Ich bin verwundet worden“ und „Ich wiege 150 Pfund“ ausgedrückt werden, mit denen teilen, die man mit „Ich habe Schmerzen“ und „cogito“ ausspricht.[…] Im Allgemeinen wird N.N. auch wenn er „ich“ sagt, kein Selbstgespräch führen, sondern Anderen etwas mitzuteilen versucht.“[43]

Die bereits zu Beginn des KapitelsaufgeworfeneKernfrage, ob andere Sprecher den Gedanken, den jemand in der ersten Person Singular äußert überhaupt fassen können, gilt es jetzt unter veränderter Prämisse,nämlich, dass N.N. bzw. Dr.Gustav Lauben kein Selbstgespräch führen und darum keine Ego-Gedanken ausdrücken,sondern Anderen etwas mitteilen möchten, zu diskutieren. Gemäß dieser Konklusion, so Frege, müssen die Dinge erneut anders betrachtet werden.

Möchte nun N.N. einer zweiten Person A, im Text Dr. Gustav Lauben Leo Peters, in der Form

(2)N.N. sagt zu A: „Ich bin P“. bzw.

(2*) Dr. Gustav Lauben sagt zu Leo Peters: „Ich bin verwundet worden.“

etwas über sich selbst mitteilen, so bedarf es zur gedanklichen Vervollständigung von N.N. oder Dr. Gustav Lauben, einer durch N.N. hinzuzufügenden Sinnkomponente. In diesem Fall drückt N.N. ein sogenanntes „Surrogat des Ego-Gedankens aus, den nur er fassen kann“[44], d,h. N.N. verwendet den Ich-Satz „etwas in dem Sinne von „derjenige, der in diesem Augenblicke zu euch spricht““[45].Im hier skizzierten Fall ist es Dr. Gustav Lauben, der den Satz äußert, und somit trägt er selbst zu dem Gedanken, dass er verwundet wurde, einen Sinn bei, der wiederum den Sinn seiner ausgesprochenen Worte zu jenem Gedanken vervollständigt. Ein lediglich in der Ich-Form geäußerter Satz, wie „Ich bin P.“,hat keinen vollständigen Sinn und drückt damit auch keinen vollständigen Gedanken aus. Tritt jedoch ein Sprecher hinzu und äußert den Satz, gemäß N.N. sagt zu A, dann drückt exakt dieser N.N. einen vollständigen Gedanken aus, und niemand außer N.N., in seiner Funktion als Sprecher, ist für diese „Sinn-Anreicherung“[46] gewichtig. Daraus folgt, dass N.N. dem unvollständigen Sinn des von ihm ausgedrückten Satzes einen Sinn beisteuert, dank dem ein Gedanke bekundet wird.

3.1 Probleme mit dem Indikator „ich“

Freges (Kompakt-)Lösung im dargelegten Kontext lautet also, das „ich“ in dem Sinne zu verwenden, als derjenige (Sprecher, Sender), der in diesem Augenblick zu den anderen Anwesenden spricht:

(I) „„Derjenige der in diesem Augenblicke zu euch spricht, ist P“.“[47]

An dieser Stellepräzisiert Künne Freges Resultat dahingehend, dass er an die Stelle von „derjenige, der in diesem Augenblicke zu euch spricht“,

(II) „Der Produzent dieser Äußerung“[48], setzt, d.h. das Pronomen soll nun „äußerungsreflexiv“ verstanden werden. Künne erweitertsomit, recht elegant,den Spielraum der Ich-Interpretation. Der Unterschied zwischen Frege und Künne liegt darin, dass Frege seine Lösungauf die „höchstens-ein-Bedingung“ für die Kennzeichnung reduziert, d.h.die Ich-Aussage wird auf einen Sprecher, der zu einemZeitpunkt t gerade spricht,ausgelegt, und nur dieserkann zum gegeben Zeitpunkttfür die geforderte Sinn-Anreicherung relevant sein, um daraus einen vollständigen und wahren Gedankenzu konstruieren. Was aber, wenn mehrere Sprecher gleichzeitig zum Zeitpunkt t Aeine Mitteilung machen? Hier verliert Freges Theorie, so Künne,an Boden, da die„höchsten-eins-Bedingung“[49] für die Kennzeichnung nicht mehr erfüllt ist, und (I) drücktim Munde von N.N. selbst dann keinen wahren Gedanken aus, wenn er mit „Ich bin P“ etwas Wahres verkünden würde.Ähnlicher Sachverhalt liegt vor, wenn N.N. beispielsweise halluziniert, d.h. wenn er glaubt, jemand sei anwesend zu dem er spreche. Dann ist jedoch die„mindestens-eins-Bedingung“[50] für die Kennzeichnung nicht erfüllt und (I) drückt auch hier keinen wahren Gedanken aus, auch wenn er mit „Ich bin P“ etwas Wahres sagt, und sein Mitteilungsversuch muss als gescheitert betrachtet werden.[51]

Aber kann A nicht auch eine Äußerung von N.N. dann verstehen, wenn N.N. keinen Mitteilungsversuch macht, d.h. beispielsweise ein Selbstgespräch führt? Damit wäre Frege Prämisse, für das „ich“ „derjenige, der in diesem Augenblicke zu euch spricht“ zu setzen, nicht erfüllt, denn in einem Selbstgespräch existiert genaugenommen keine echte Kommunikationssituation, d.h. kein Dialog, denn es spricht niemand zu mir. KünnesErweiterung, die erste Person Singular äußerungsreflexiv, als „der Produzent dieser Äußerung“, zu verstehen, kann, meines Erachtens, eher die Form des Selbstgesprächs abbilden, da sie nicht zwingend auf einen Empfänger verweist, obwohl auch Künne gewiss einen Adressaten der Mitteilung impliziert. Aber, wie weiter oben im Text bereits bemerkt, geht es Frege nicht um die Abbildung der sogenanntenEgo-Gedanken, die nur der Sprecher selbst fassen und äußern kann, sondern um diejenigen, die ein Sender in der Ich-Form mitteilt. Trotz allem lässt Frege, im Rahmen seiner Abhandlung, wenn er Dr. Gustav Lauben sagen lässt: „Ich bin verwundet worden“[52] und hinzufügt: „Leo Peter hört das“[53], völlig offen, ob die gehörte Äußerung ein Mitteilungsversuch war oder nicht.

Ein zusätzlichesProblem, die Indexikalität betreffend,kann jedoch in beiden Fällen (I) und (II) nicht ausgeräumt werden, denn beide enthalten den Ausdruck „diesem“ bzw. „dieser“, der selbst indexikalisch ist und wiederum durch einen Sinn ergänzt werden müsste. An dieser Stelle hätte beachtet werden müssen, dass verschiedenen Verwendungen von Indexwörtern unterschiedliche Sinne entsprechen. Obwohl Frege, als auch Künne, dieses Problem sicherlich erkannt haben dürften, unterscheiden sie nicht scharf zwischen der allgemeinen Bedeutung des Ausdrucks und dem Verwendungszusammenhang, der erst durch den Referenten eines Indexwortes endgültig festgelegt wird.

3.2 Sinn-Beitrag der sprechenden Person

Sonachsteuert Dr. Gustav Lauben, als Produzent der wohl bekannten Äußerung („Ich bin verwundet worden“), in seiner Rolle als Sprecher, dem unvollständigen Sinn seines Satzes einen Sinn bei, und drückt damit zugleich einen vollständigen Gedanken aus, so Freges dargebotene Lösung. Das eben Gesagte soll in Erinnerung rufen, dass die sprechende Person hier einen Sinn-Beitrag macht, und zwar in der Form, dass der Sprecher selbst einem Bestandteil des durch seine Äußerung ausgedrückten Gedankens zugeordnet ist, den er ausdrückt.

Wie ist das aber nun genau zu verstehen, dass Dr. Gustav Lauben,wenn in der ersten Person Singular gesprochen wird, einen Sinn ausdrückt bzw.selbst als Bestandteil der Äußerung zu betrachten ist? Da es sich beiDr. Gustav Laubengleichwohl um eine Person und nicht um ein anderes sprachliches Zeichen handelt, so ist die Problematik der Suche nach einer indikatorenfreien Kennzeichnung für den Sinn des Indexwortes noch immer offen.Dieserweitaus komplexere Aspekt bezüglich der Indexikalität des Personalpronomenbleibt bei Frege relativ unerforscht, es findet sich in seinem AufsatzDer Gedankekein verwertbarer Ansatzpunkt einer diesbezüglichen Lösung.

Um sich vielleicht doch dem Problem nähern zu können, möchte ich nachfolgend zwei Interpretationsvorschläge, die einen direkten Bezug zu Freges Textdarstellen, betrachten. Der erste Vorschlag bezieht sich auf eine Abhandlung von Andreas Kemmerling[54], in der dieser versucht, einen kontextunabhängigen Sinn für den Ausdrucks „ich“, immer streng in Anlehnung an Freges Semantiken und Termini, zu entwerfen.Der zweite Interpretationsversuch bezieht sich auf Wolfgang Künne[55], den ich bereits mehrfach, im Rahmen meiner bisherigen Ausführungen, zitiert habe. Künne deshalb, weil seine Interpretation sich stringent an Freges Text anlehnt.

[...]


[1] Vgl. Mayer: Gottlob Frege, S. 9

[2] Ebenda, S. 9

[3] Ebenda, S. 11

[4] Vgl. Perry, 1977

[5] Vgl. Frege: Der Gedanke, S. 90

[6] Vgl. Ebenda, S.101f

[7] Ebenda, S. 101

[8] Vgl. Newen: Indexikalische Ausdrücke und Fregescher Sinn: Die Unverträglichkeit in Freges Sprachphilosophie, S. 46

[9] Frege: Der Gedanke, S. 92, S. 108

[10] Vgl. Ebenda, S. 108

[11] Frege: Über Sinn und Bedeutung, S. 23

[12] Ebenda, S. 23

[13] Vgl. Frege: Über Sinn und Bedeutung, S. 23

[14] Ebenda, S. 24

[15] Vgl. Ebenda, S. 24

[16] Ebenda, S. 29

[17] Vgl.Frege: Der Gedanke, S. 90

[18] Vgl. Ebenda, S. 101, S. 108

[19] Vgl. Künne: Die philosophische Logik Gottlob Freges, S. 455

[20] Vgl. Sodati1994:Sodati, Gianfranco, Einleitung zu Perry und Castañeda, in: M. Frank (Hg.): Analytische Theorien des Selbstbewußtseins, S. 396

[21] Künne: Die philosophische Logik Gottlob Freges, S. 455

[22] Vgl. Frege: Der Gedanke, S. 95

[23] Ebenda, S. 95

[24] Künne: Die philosophische Logik Gottlob Freges, S. 456

[25] Frege: Der Gedanke, S. 95

[26] Ebenda, S. 95

[27] Ebenda, S. 95

[28] Ebenda, S. 96.

[29] Künne:Die philosophische Logik Gottlob Freges, S. 475

[30] Frege: Der Gedanke, S. 96

[31] Vgl. Künne: Die philosophische Logik Gottlob Freges, S. 465

[32] Künne spricht,bezugnehmend auf Frege, von „sättigen“, S. 466 und vgl.Frege: Über Begriff und Gegenstand. Darauf zurückgreifend, übernehme ich, im Kontext meiner Arbeit, die Ausdrücke „ungesättigt“ und „gesättigt“ im Fregeschen Sinne.

[33] Vgl.Frege: Der Gedanke, S. 97

[34] Vgl.Künne:Die philosophische Logik Gottlob Freges, S. 475

[35] Vgl.Ebenda, S. 475

[36] Ebenda, S. 476

[37] Ebenda, S.476

[38] Vgl. Ebenda, S. 476

[39] Vgl. Ebenda, S. 476

[40] Bezieht sich auf Frege: Der Gedanke, S. 96. „Ich bin verwundet worden.“

[41] Frege: Der Gedanke, S. 97

[42] Gemeint sind hier Ego-Gedanken

[43] Künne:Die philosophische Logik Gottlob Freges, S. 477

[44] Ebenda, S. 477

[45] Frege: Der Gedanke, S. 97

[46] Kemmerling: Über Künne über Kripke über Künne über Frege, S. 392

[47] Künne:Die philosophische Logik Gottlob Freges, S. 477 und vgl. Frege: Der Gedanke, S. 97

[48] Künne:Die philosophische Logik Gottlob Freges, S. 477

[49] Ebenda, S. 477

[50] Ebenda, S. 477

[51] Vgl. Ebenda, S. 477

[52] Frege: Der Gedanke, S. 96

[53] Ebenda, S. 96

[54] Vgl. Kemmerling: Über Künne über Kripke über Künne über Frege

[55] Vgl. Künne:Die philosophische Logik Gottlob Freges

Ende der Leseprobe aus 50 Seiten

Details

Titel
Indexikalität und Fregescher Sinn: Eine Untersuchung zu den referentiellen Eigenschaften des Personalpronomen "ich"
Hochschule
Technische Universität Darmstadt  (Philosophie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
50
Katalognummer
V184560
ISBN (eBook)
9783656095033
ISBN (Buch)
9783656094791
Dateigröße
591 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Frege, Gedanke, Sinn und Bedeutung, Indexikalität, Personalpronomen, Sinn-Betrag, Kemmerling, Künne, Perry, Evans, Indexikalische Referenz, Indikatoren, indexikalische Ausdrücke, Immunität gegen Irrtum durch Fehlidentifikation, Selbstbewusstsein erste Person Singular, Dilemma der wesentlichen Indexwörter, Ergänzungsbedürftigkeit indexikalischer Ausdrücke, Fregescher Sinn
Arbeit zitieren
Dipl.-Ing. Dipl.-Wirtschaftsing. Karin Ulrich (Autor:in), 2012, Indexikalität und Fregescher Sinn: Eine Untersuchung zu den referentiellen Eigenschaften des Personalpronomen "ich", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/184560

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