Die Angestellten

Über das Entstehen einer Kultur jenseits von Tradition und Utopie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

28 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Neuigkeiten? – zur Einführung

„Aus dem neuesten Deutschland“, so überschrieb Siegfried Kracauer seine Studie über das Leben der Angestellten in der Weimarer Republik. Erstmals 1929 in Fortsetzungen im Feuilleton der Frankfurter Zeitung erschienen und im folgenden Jahr als Buch veröffentlicht, machte Kracauers Schrift sofort von sich Reden.[1] So wurde sie von vielen Kritikern als ein wertvoller Beitrag zur wissenschaftlichen Aufklärung einer bisher weitgehend unerschlossenen gesellschaftlichen Problematik gewürdigt. Dabei zeigten sich selbst ablehnende Rezensenten trotz vehementen Widerspruchs gegen Kracauers Ansichten fasziniert vom empirischen Material der Studie und mußten dem Autor zugestehen, daß er gut beobachtet habe. Offenbar war Kracauer sein im Vorwort der Buchausgabe erklärtes Vorhaben gelungen, „die öffentliche Diskussion aufzurühren.“[2]

Was aber war das eigentlich Neue an der deutschen Angestelltenschicht in den ausgehenden zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts? Und was verlieh Kracauers Analyse in den Augen seiner Zeitgenossen eine solche aktuelle Brisanz? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es der Einordnung des Textes in seine kulturgeschichtlichen Zusammenhänge. Dies soll in der vorliegenden Arbeit versucht werden, wobei ich zunächst den diskursiven Hintergrund skizzieren möchte, vor dem „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“ erscheint.

Die divergierenden Standpunkte in der öffentlichen Diskussion um die Angestellten in der Weimarer Republik gründeten sich auf jeweils unterschiedliche Interpretationen der historisch gewachsenen kulturellen und materiellen Eigenarten der Betroffenen. Daher soll im folgenden (2.) Abschnitt, der einen ersten groben Überblick über diese Diskussion gibt, in einem Exkurs näher auf die sozialgeschichtliche Entwicklung der Angestelltenschicht eingegangen werden. Dieser Exkurs bietet auch Anhaltspunkte für ein Verständnis des anschließend (unter Punkt 3) beschriebenen bürgerlichen Standesbewußtseins, welches für viele Angestellte damals charakteristisch war und von Zeitgenossen vielfach thematisiert wurde. Ob dieses elitäre Selbstverständnis berechtigt sei oder nicht, an der Beantwortung dieser Frage schieden sich die konkurrierenden Gewerkschaftsverbände wie auch die großen politischen Fraktionen. Eine Gegenüberstellung der verschiedenen Ansichten und ihrer Argumentationen (in Kapitel 4) soll ein Bild von jener Auseinandersetzung vermitteln, die Kracauer mit der Veröffentlichung von „Die Angestellten“ zum Brennpunkt seiner diskursiven Intervention machte. So wie es in dieser politischen Auseinandersetzung eigentlich um die Zukunft der Weimarer Republik insgesamt ging, weitete auch Kracauer seine Analyse der Angestelltenschicht zu einer umfassenden Gesellschaftskritik aus. Eine zusammenfassende Darstellung seiner Beobachtungen und Schlußfolgerungen sowie der Implikationen, die sich nach meiner Lesart daraus ergeben, bildet den Hauptteil der vorliegenden Arbeit (Kapitel 5). Dabei mögen die Ausführungen der vorhergehenden Kapitel als eine Folie dienen, vor der die zeitgenössische Brisanz der Kritik Kracauers selbstredend deutlich wird. Abschließend soll in einem kurzen Ausblick (6) der Frage nachgegangen werden, inwieweit einige der von Kracauer aufgezeigten Aspekte für unser Verständnis der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung der Weimarer Republik und auch noch der aktuellen Situation relevant sind. Eine umfassende Antwort auf diese Frage kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden; denn diese versteht sich als eine einführende Untersuchung der Angestellten als eines soziokulturellen Phänomens und Politikums der Weimarer Republik. Somit bietet sie lediglich einen provisorischen Ausgangspunkt für ein weiteres Nachdenken über die Angestelltenproblematik als ein Paradigma der westlichen Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts.

Ein Zankapfel reift

Kracauers Beobachtungsgegenstand war seinerzeit keinesfalls so neu und unbeachtet wie der Titel seiner Publikation und die erste Zwischenüberschrift „Unbekanntes Gebiet“ vermuten lassen: Das etwa seit der Jahrhundertwende stark beschleunigte Anwachsen der Angestelltenzahlen in Deutschland war nicht unbemerkt geblieben und erregte dementsprechend bereits vor Beginn des ersten Weltkriegs die Aufmerksamkeit von Sozialwissenschaftlern und Politikern gleichermaßen.[3] Als prominentestes Beispiel sei an dieser Stelle nur der Soziologe Emil Lederer genannt, dessen Schriften heute zu den Klassikern der Angestelltenforschung gehören. In den zwanziger Jahren fand diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt – sowohl quantitativ (3,5 Millionen Angestellte 1925 mit steigender Tendenz) als auch hinsichtlich der Auseinandersetzung um die soziale Verortung der Angestellten. So war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Kracauers Beitrag die Debatte um die Angestelltenfrage bereits in vollem Gange.

In dieser Diskussion lassen sich im Wesentlichen zwei politische Lager ausmachen, welche im Sinne ihrer jeweiligen Agenda die Angestelltenschicht diskursiv zu vereinnahmen suchten: Den Vertretern der marxistischen Auffassung vom sogenannten Stehkragenproletariat, welches sich letzlich mit dem Industrieproletariat im Klassenkampf verbünden würde, standen die Verfechter der konservativen Theorie vom Neuen Mittelstand gegenüber. Letztere konstatiert eine fundamentale Verschiedenheit von Proletariat und Angestelltenschaft. In der durch den Klassenkampf destabilisierten spätkapitalistischen Gesellschaft schreibt sie den Angestellten eine sozialharmonisierende Rolle zu, welche sie von den historischen Ursprüngen der Angestelltenberufe herleitet.

Exkurs: Sozialgeschichtlicher Abriss[4]

Aus dem Mittelstand rekrutiert, hatte die Mehrheit der Angestellten im 19. Jahrhundert noch Anteil am sozialen Prestige und Lebensstil des gehobenen Bürgertums. Die in den Banken, Kanzleien, Handelskontoren und großen Geschäften beschäftigten Privatbeamten, Schreiber, Buchhalter, Handlungs- und Kaufmannsgehilfen waren zwar existentiell abhängig von ihren Arbeitgebern ebenso wie die Lohnarbeiter. Aber im Gegensatz zu diesen standen die meisten Privatangestellten in direktem Kontakt zum Firmeninhaber und agierten nicht selten als seine Stellverteter. Mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut und zur Diskretion verpflichtet, war ein Angestellter in der Regel weit weniger leicht abkömmlich und ersetzbar für das Unternehmen als ein Arbeiter. Seine absolute Loyalität war für ein profitables Wirtschaften und das Ansehen der Firma unabdingbar und wurde dementsprechend honoriert mit einem Gehalt, welches – „als Ausdruck innerbetrieblicher und gesellschaftlicher Wertschätzung“[5] – monatlich ausgezahlt wurde und ihm wenigstens eine bescheidene bürgerliche Lebensführung ermöglichen sollte.

Einkommen, bürgerliche Herkunft und die damit einhergehende höhere Bildung waren wichtige Faktoren für den höheren sozialen Status der Angestellten über dem des Proletariats, dessen Arbeitsleistungen mit vergleichsweise niedrigen Wochenlöhnen vergütet wurden. Auschlaggebend für das Selbstverständnis der Angestellten war jedoch die gesellschaftliche Bestimmung, die sich aus ihrer mittelständischen Herkunft ergab: Das Angestelltendasein galt im 19. Jahrhundert als ein vorübergehendes, als ein mehr oder weniger lang andauernder Übergang zur wirtschaftlichen Selbständigkeit. Durch Sparsamkeit und harte Arbeit, Erbschaft oder Einheirat in das Unternehmen gelang es tatsächlich einem relativ großen Teil der Angestelltenschicht, dieses Karriereziel zu erreichen. Innerhalb einer familiären Firmenstruktur, über die der Arbeitgeber als Patriarch waltete, galten die Angestellten quasi als Familienmitglieder, nicht selten sogar als adoptierte Zöglinge, die mit Fleiß, Geschick und ein wenig Glück selbst zu Patriarchen heranwachsen würden.

Mit der Konzentration des Kapitals in der Massenproduktion um die Jahrhundertwende und dem damit verbundenen Anstieg der Angestelltenzahlen wurden solche idealtypischen Karrieren zu einer Seltenheit. Im Zuge der zunehmenden Bürokratisierung der Arbeitsorganisation differenzierten und spezialisierten sich die Angestelltenberufe derart, daß der Einzelne den Überblick über die Gesamtheit der Verwaltungsprozesse verlor. Die Mitarbeiter der großen Betriebe wurden in komplexe Hierarchien eingebunden, wobei der überwiegenden Mehrheit der direkte Kontakt zur Unternehmensleitung versagt war. Die strikte Hierarchisierung der Angestellten drückte sich oftmals auch in erheblichen Gehaltsdifferenzen aus – manchmal betrug das Gehalt eines leitenden Angestellten das Dreißigfache des Verdienstes eines in den unteren Rängen Beschäftigten mit dem gleichen Bildungsstand.[6] Neben Fleiß und Geschick bedurfte es für die große Karriere nun auch des ganz großen Glücks - und das hatten nur wenige; für die meisten blieb der soziale Aufstieg ein Wunschtraum.

In der Realität bedeutete der Erste Weltkrieg einen weiteren sozialen Abstieg vor allem für männliche Angestellte. Viele Arbeitgeber nutzten den Kriegsausbruch als willkommenen Anlaß, Tarifverträge zu brechen und gegen geltendes Recht insbesondere älteren und leistungsschwachen Beschäftigten zu kündigen. Zudem eröffnete die während der Kriegsjahre zunehmende Knappheit qualifizierter Arbeitskräfte den Frauen einen breiten Zugang zu Bereichen des Arbeitsmarktes, die bisher ausschließlich Männern vorbehalten waren. Diese Entwicklung ging einher mit betrieblichen Umstrukturierungen, die sich ihrerseits auf die Arbeitsmarktlage in den Zwanziger Jahren auswirken sollten. So wurden beim Aufbau eines Kriegsversorgungsamtes unter Leitung Walter Rathenaus erstmals in Deutschland die tayloristischen Rationalisierungsprinzipien systematisch angewendet:[7] Durch die schematische Zerlegung der komplexen Verwaltungs- und Verteilungsvorgänge in minimale standardisierte Arbeitsschritte konnte eine Vielzahl schnell angelernter Frauen nun jene Aufgaben erledigen, mit denen normalerweise nur qualifizierten Handlungsgehilfen betraut wurden. Dieses Beispiel sollte in der deutschen Industrie Schule machen. Zwar verdrängten die Kriegsheimkehrer während der Nachkriegsdepression einen Großteil der Frauen vorübergehend wieder aus dem Arbeitsleben, doch war der Strukturwechsel für die kommende Konjunkturperiode vorgezeichnet.

Die organisatorische Rationalisierung der Arbeitsprozesse im Rechnungs- und Verwaltungswesen bildete auch die Grundlage für die Einführung technischer Neuerungen: Besonders seit 1924 kamen in den großen Büros verstärkt Lochkarten- und Stenographiermaschinen zum Einsatz. Die Schematisierung und Mechanisierung von ursprünglich mental anspruchsvollen Arbeitsvorgängen machte für viele Angestelltentätigkeiten fachliche Qualifikationen ganz überflüssig. Vor allem die höher qualifizierten älteren Angestellten hatten schlechte Aussichten auf Beschäftigung, weil ihnen gesetzlich ein höheres Gehalt zustand als den Jungen und Ungelernten, die sich zudem im Umgang mit der neuen Technik als anpassungs- und leistungsfähiger erwiesen. Gleichzeitig strömten immer mehr Frauen auf den Stellenmarkt, der ihnen seit den Rationalisierungsmaßnahmen in der Kriegswirtschaft neben den inzwischen schon tradionellen Frauenberufen in der Textverarbeitung (Stenographie und Maschineschreiben) nun auch andere – wenngleich in der Regel stupide und schlecht bezahlte - Erwerbsmöglichkeiten bot. In den Großraumbüros arbeiteten „Höhere Töchter“, deren Familien durch Krieg und Inflation finanziell ruiniert waren, neben aufstiegsorientierten Arbeitertöchtern. So begann sich zuerst innerhalb der weiblichen Angestelltenschaft die Segregation der Arbeitswelten von Proletariat und Kleinbürgertum aufzulösen.

Der Konjunkturabfall 1928 führte zu einer neuen Rationalisierungswelle, die diesmal einen massiven Stellenabbau zur Folge hatte. So stieg die Zahl der arbeitslosen Angestellten von 2,4% im Jahr 1927 bis 1932 auf 13,2% an. Es ist bemerkenswert, daß während der zwanziger Jahre die Arbeitslosenraten bei den Angestellten ausnahmslos unter denen der Lohnarbeiter lagen. Aufgrund der monatlichen Vergütung war die Angestelltenschicht weniger konjunkturanfällig; allerdings profitierte sie im Gegensatz zum Proletariat auch nur wenig vom wirtschaftlichen Aufschwung, der in der zweiten Dekadenhälfte einsetzte. Dies wird in Anbetracht der Einkommensentwicklung besonders deutlich: Während die Arbeiterlöhne in den Jahren 1926-29 um 25% stiegen und damit wieder den Stand von 1913 erreichten, blieben die Gehälter der Angestellten, die während des Krieges und der darauf folgenden Depression große Verluste zu verbuchen hatten, weiterhin merklich unter dem Vorkriegsniveau. Tatsächlich lag nun das Einkommen der meisten Angestellten unter dem der Arbeiter.

Sein, Bewußtsein, schöner Schein

Aus ökonomischer Sicht waren die Angestelltenmassen der Weimarer Republik also vollkommen proletarisiert. Nicht nur war das besitzlose Bürgertum dazu verurteilt, besitzlos zu bleiben. Nach dem Verlust reeller Aufstiegschancen um die Jahrhundertwende hatte es nun auch seine bescheidenen materiellen Privilegien verloren. Zudem erwies sich das Monatsgehalt – nach wie vor herausragendes Statusmerkmal der Angestellten – in Krisenzeiten als nachteilig.[8] Denn nach einer Kündigung blieben Angestellte normalerweise viel länger erwerbslos als Arbeiter, die ja auch kurzfristig eingstellt werden konnten und denen es in Zeiten dauernder Arbeitslosigkeit immerhin noch möglich war, durch Gelegenheitsjobs hin und wieder zu etwas Geld oder Naturalien zu kommen.

Dieser ökonomischen Situation zum Trotz war das Selbstbewußtsein der Angestellten typischerweise von einem Glauben an ihre standesmäßige Erhabenheit über dem Proletariat geprägt. Dieses Bewußtsein, das auf einer ideologischen Privilegierung der „sauberen“ geistigen Tätigkeiten gegenüber „schmutziger“ körperlicher Arbeit gründete, fand seine Bestätigung in den Söhnen und Töchtern aus Arbeiterfamilien, die ihren Eintritt in einen Angestelltenberuf nicht selten als gesellschaftlichen Aufstieg betrachteten. Hingegen bedeutete das Angestelltendasein für die Angehörigen des ehemals besitzenden Mittelstandes, der während der Kriegs- und Inflationsjahre seine wirtschaftliche Selbständigkeit eingebüßt hatte, offenkundig einen Abstieg. Für sie war die Abgrenzung von der Arbeiterklasse eine Frage der Selbstachtung, und sie stützten sich dabei vor allem auf den Bildungsstand. Die höhere Bildung – so bemerkt Christa Jordan – „diente der Illusion, die ökonomische Proletarisierung sei für den Angestellten nicht verbindlich.“[9] Seine ideologische Identifikation mit dem Bürgertum war für ihn auch deshalb so naheliegend, weil er sich mit diesem auf demselben geistig-kulturellen Niveau sah.

Auch Kracauer sieht zwischen Schulbildung und Standesbewußtsein einen engen Zusammenhang und beobachtet, wie dieser in der Wirtschaft instrumentalisiert wird:[10] Das in den Personalverwaltungen gängige Auswahlverfahren, indem es Bewerber mit höheren Schulabschlüssen bevorzugt, verschafft den Betrieben eine Angestelltenschaft mit bürgerlicher Gesinnung. Letztere fördert bei den Arbeitnehmern die Neigung, sich mit dem Arbeitgeber zu identifizieren, und wirkt gleichzeitig vorbeugend gegen ihre Solidarisierung untereinander, welche ja eigentlich im gemeinsamen ökonomischen Interesse sinnvoll wäre. Dabei fällt auf, daß in der Regel der Bildungsgrad der Beschäftigten in keinem sinnvollen Verhältnis zu den geringen geistigen Anforderungen der von ihnen ausgeübten Tätigkeiten steht. So verkommt das Bildungswesen unter dem Diktat der Wirtschaft zu einem “Berechtigungswesen“ mit vorwiegend systemstabilisierender Funktion.

Daß ein bürgerliches Selbstverständnis mit der Arbeitswelt der Angestellten tatsächlich unvereinbar war, ist auf prägnante Weise in einer der beiden Anekdoten veranschaulicht, die Kracauer seiner Studie gleichsam als Prolog voranstellt:

„Eine entlassene Angestellte klagt vor dem Arbeitsgericht auf Weiterbeschäftigung oder Abfindung. Als Vertreter der beklagten Firma ist ein Abteilungsleiter erschienen, der frühere Vorgesetzte der Angestellten. Um die Entlassung zu rechtfertigen, erklärt er unter anderem: ‚Die Angestellte wollte nicht als Angestellte behandelt werden, sondern als Dame.’ – Der Abteilungsleiter ist im Privatleben sechs Jahre jünger als die Angestellte.“[11]

Die letzte Bemerkung über den Altersunterschied suggeriert eine klare Abgrenzung der Privatsphäre vom Arbeitsalltag – als ob zwei verschiedene Wirklichkeiten ganz selbstverständlich nebeneinander existierten. Gleichzeitig zeigt dieses Fallbeispiel die sich daraus ergebende Schwierigkeit der doppelten Identität auf: Die subjektive Identität der Klägerin als Dame steht im Widerspruch zu ihrer objektiven Identifizierung als Angestellte. Ihr Vergehen besteht in dem Anspruch, in der Arbeitswelt als etwas zu gelten, das ihr nach Auffassung des Vorgesetzten bestenfalls im Privatleben zusteht – als bürgerliches Subjekt. Die Diskrepanz zwischen objektiver und subjektiver Identität, zwischen materiellem und ideologischem Sein (d.i. Bewußtsein) wird hier problematisch, weil jede der beiden Wirklichkeiten nach allumfassender Gültigkeit strebt. Mit anderen Worten, während das Sein sich dem Bewußtsein aufdrängt, sucht dieses nach Bestätigung seiner selbst im objektiven Sein. Diesen Tendenzen zu widerstehen, d.h. die subjektive Identität im Widerspruch zur objektiven aufrechtzuerhalten, bedarf es eines besonderen psychischen Aufwandes - der Illusion.

Von der dieses Bedürfnis bedienenden kommerzialisierten Freizeitkultur der Zwanziger Jahre wird später noch die Rede sein. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß die Angestellten nicht nur einen bedeutenden Teil ihres Einkommens für die Konsumption illusionierender Kulturprodukte aufboten; viele nahmen auch erhebliche Mühen auf sich, selbst Illusionen zu produzieren, um das soziale Umfeld von ihrer bürgerlichen Identität zu überzeugen.[12] In dieser Hinsicht erwies sich das bürgerliche Ideal effektiv als eine zusätzliche Belastung für all jene, die sich trotz ihrer oftmals bedrückenden existentiellen Not verpflichtet sahen, ihre imaginäre Zugehörigkeit zum Mittelstand durch einen entsprechenden Lebenstil auszudrücken oder einen solchen wenigsten dem Anschein nach zu inszenieren.[13]

Positionen, Visionen, Organisationen

Der Widerspruch zwischen der materiellen Situation der Angestellten einerseits und ihrer ideologischen Identifikation mit der besitzenden Klasse andererseits wurde, wie bereits angedeutet, von Politikern und Soziologen verschieden gedeutet.[14] So betrachtet Emil Lederer im Jahre 1912 die Angestellten noch als eine heterogene Schicht „zwischen den Klassen“, prognostiziert aber gleichzeitig, „... daß sich das Klassenbewußtsein verallgemeinert, und daß sich, über manche Gegensätzlichkeiten des Gruppeninteresses hinweg, das ökonomische Klasseninteresse als das das Bewußtsein beherrschende durchzusetzen sucht.“[15]

[...]


[1] Vgl. die Einführung von Erich Peter Neumann in: Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Eine Schrift vom Ende der Weimarer Republik (1930). Allensbach 31959, S. XI-XVIII.

[2] Kracauer 1959, S. XX.

[3] Vgl. Heinz-Jürgen Priamus: Angestellte und Demokratie. Die nationalliberale Angestelltenbewegung in der Weimarer Republik. Stuttgart 1979, S. 3f, 11f.

[4] Zu den folgenden Bemerkungen über die sozio-ökonomischen Entwicklung der Angestellten vor und während der Weimarer Republik vgl. Priamus 1979, S. 11-60; Walter Peissl: Das „bessere“ Proletariat. Angestellte im 20. Jahrhundert. Wien 1994, S. 143-169; und Christa Jordan: Zwischen Zerstreuung und Berauschung. Die Angestellten in der Erzählprosa am Ende der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 1988, S. 22-28.

[5] Peissl 1994, S. 143.

[6] Peissl 1994, 148f.

[7] Vgl. Ellen Lorentz: Aufbruch oder Rückschritt? Arbeit, Alltag, und Organisation weiblicher Angestellter in der Kaiserzeit und Weimarer Republik. Bielefeld 1988, S. 80-83.

[8] Vgl. Peissl 1994, S. 167-169.

[9] Jordan 1988, S. 34.

[10] Kracauer 1959, S. 10-12.

[11] Kracauer 1959, S. 1.

[12] Das für die Angestellten typische Konsumverhalten ist in einschlägigen soziologischen Untersuchungen ausführlich diskutiert worden, so z.B. von Peissl 1994, S. 169-176; Priamus 1979, S. 54-60. Beide Autoren stellen übereinstimmend fest, daß in Angestelltenhaushalten im Vergleich zu Arbeiterhaushalten mit gleichem Einkommen sowohl die Ausgaben für sogenannten „Kulturbedarf“ als auch die Repräsentationsaufwendungen, wie z.B. für Wohnungseinrichtung und Kleidung, deutlich höher lagen. Hingegen wird der in den Arbeiterfamilien vergleichsweise hohe Aufwand für Nahrungs- und Genußmittel mit der größeren Personenzahl dieser Haushalte begründet.

[13] Die vielfältigen Belastungen, die vor allem den Frauen in einkommensschwachen Angestelltenfamilien aus dem Anspruch einer standesgemäßen Lebensführung entstehen konnten, beschreibt u.a. Ellen Lorentz 1988, S. 98-101. Sie verweist dabei auf einen Wandel der bürgerlichen Frauenleitbilder, der sich in Reaktion auf die veränderte ökonomische Situation vollzog – das Ideal der müßigen Dame wurde von dem der tüchtigen Hausfrau bzw. der erwerbstätigen Bürgerstochter abgelöst. Während dieser ideelle Wechsel für die gezwungenermaßen arbeitssamen Bürgersfrauen sicherlich eine psychische Erleichterung bedeutete, belegt er doch ihren Arbeitsaufwand, der vornehmlich zur Erfüllung repräsentativer Bedürfnisse nötig war. Diese repräsentativen Bedürfnisse richteteten sich neben gepflegter Kleidung vor allem auch auf eine Wohnung, in der man guten Gewissens Gäste empfangen und bewirten konnte. Dazu gehörten nicht nur eine angemessene Einrichtung und ein gut ausgestatteter Salon, sondern auch die bürgerliche Wohngegend mit entsprechend hohen Mietpreisen. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß die (Außenstehenden meist verheimlichte) Untervermietung von Zimmern in bürgerlichen Wohnvierteln deutlich häufiger vorkam als in Arbeiterwohnungen. (Vgl. Dietrich Mühlberg: „Modernisierungstendenzen in der proletarischen Lebensweise.“ In: Arbeiter und Massenkultur. Berlin 1992. S. 42.)

[14] Eine ausführlichere Darstellung der verschiedenen Standpunkte, die an dieser Stelle nur grob umrissen werden sollen, ist zu finden in Peissl 1994, S. 57-78. Vgl. hierzu auch Jordan 1988, S. 32-42.

[15] Emil Lederer: „Die Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung“, Tübingen 1912; zitiert nach Peissl 1994, S. 57.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Die Angestellten
Untertitel
Über das Entstehen einer Kultur jenseits von Tradition und Utopie
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Kultur der Weimarer Republik (Historische Publizistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
28
Katalognummer
V184710
ISBN (eBook)
9783656096719
ISBN (Buch)
9783656096597
Dateigröße
500 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die vorliegende Arbeit stellt Siegfried Kracauers 1929/30 veröffentlichte Reportage gleichen Titels in ihre sozialgeschichtlichen und diskursiven Zusammenhänge. Sie bietet damit eine einführende Untersuchung der Angestelltenklasse und der von ihr getragenen neuen Massenkultur in der Weimarer Republik.
Schlagworte
Angestellte, Die Angestellten, Kracauer, Weimar, Weimarer Republik, Zwanziger Jahre, Massenkultur, Neue Sachlichkeit, Mittelschicht, Klassenkampf, Kulturkritik, kulturelle Obdachlosigkeit, Deutschland
Arbeit zitieren
Gundula E. Rommel (Autor:in), 2001, Die Angestellten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/184710

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