Helfersyndrom und Soziale Arbeit

Zur Produktivität bzw. Kontraproduktivität des Helfens


Bachelorarbeit, 2011

82 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Entstehung des Hilfsbegriffs
2.1 Helfen - Eine Definition
2.2 Die Bedeutung der Ethik/ Philosophie für helfende Berufe
2.3 Die gesellschaftliche Entwicklung der Hilfe
2.4 Soziale Arbeit - Resultat der Hilfsentwicklung

3. Motivationen des Helfens in der Sozialen Arbeit
3.1 Ein Überblick über die theoretischen Erklärungsansätze
3.1.1 Die humanistisch psychologisch begründete Motivation
3.1.2 Die christlich religiös begründete Motivation
3.1.3 Die evolutionsbiologisch/ sozialpsychologisch begründete Motivation
3.2 Persönliche Motivationen des Helfens
3.3 Empirische Studie: Motive zur Sozialen Arbeit
3.4 Die biographische Rekonstruktion von Studienverläufen nach Schweppe
3.5 Soziale Arbeit als Selbsthilfe
3.6 Resümee I

4. Das Helfersyndrom mit Folge Burnout
4.1 Definition und Ursachen der Entstehung des Helfersyndroms
4.2 Der „hilflose Helfer“ und die „Ware Nächstenliebe“
4.3 Endstation: Burnout

5. Exkurs: Interview zur Berufsmotivation in Bezug auf das Helfersyndrom
5.1 Beschreibung und Durchführung
5.2 Zusammenfassung
5.3 Die interpretative Auswertung des Interviews

6. Wann wird helfen kontraproduktiv?
6.1 Ergebnisse in Bezug auf das Helfersyndrom und Burnout
6.1.1 Aspekte in der Helferpersönlichkeit
6.1.2 Kontraproduktivität als Folge des Burnout-Syndroms
6.2 Weitere Deformationen des Helfens, die zu kontraproduktiver Hilfe führen könne n
6.3 Deformationen durch gesellschaftliche Entwicklungen
6.4 Resümee II

7. Die gelungene Hilfe
7.1 Vermeidung von Burnout und kontraproduktiver Hilfe durch die „richtige“ Motivation
7.1.1 Das Fundament einer „richtigen“ Motivation
7.1.2 Die eigenen Ressourcen des Helfers
7.1.3 Die Unterstützung von außen
7.1.4 Der Lebenskontext des Helfers
7.1.5 Zusammenfassung
7.2 Was macht eine gelungene Helferbeziehung aus?
7.2.1 Die dialogische Haltung als Grundlage der Helferbeziehung
7.2.2 Die Balance zwischen Nähe und Distanz
7.2.3 Die Ratlosigkeit des Helfers als Ressource
7.2.4 Zusammenfassung

8. Fazit und Ausblick

9. Literaturverzeichnis

10. Anhang
I. ) Leitfaden für das Interview
II. ) Interview zur Berufsmotivation

1. Einleitung

„Für viele Sozialarbeiter und Sozialpädagogen steht die Motivation eines „helfenden
Umgangs mit anderen Menschen“im Vordergrund und im Zentrum ihrerBerufswahl
und darin auch die Erwartung einerweniger„entfremdeten“, sinnvollen, an realen Be-
dürfnissen orientierten Berufstätigkeit. “ Regine Gildemeister(Als Helfer überleben, 1983)

Dieses Zitat von Regine Gildemeister beschreibt eindrucksvoll die Problematik, um die es in dieser Arbeit gehen soll. Die Berufstätigkeit einer Sozialarbeiterin/ Sozialpädago­gin bzw. eines Sozialarbeiters/ Sozialpädagogen ist gekennzeichnet durch eine ge­meinsame Grundmotivation: das „Helfen-Wollen“. Ebenso wie Gildemeister in ihrer Aussage beschreibt, handelt es sich um eine an „sinnvollen, an realen Bedürfnissen orientierte Berufstätigkeit“. Ich möchte an dieser Stelle einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass sich die berufsmäßige Orientierung an den Bedürfnissen jedoch nicht ausschließlich auf die Bedürfnisse des Klientels beziehen muss. Im Verlauf meines Studiums habe ich mir oft die Frage gestellt, was Menschen dazu motiviert anderen zu helfen und immer wieder versucht, meine eigene Motivation zu überprüfen. Zum ande­ren ist mir aufgefallen, dass viele Helfer die Soziale Arbeit gebrauchen, um sich selbst helfen zu wollen. Außerdem kommt die Frage nach der Tatsache, wann die Grenzen des Helfens erreicht sind, selten zur Sprache. Denn diese Frage ist häufig verbunden damit, die eigene Kompetenz in Frage zu stellen, so erscheint es mir. Es gibt einige SozialpädagogInnen und Sozialarbeiterinnen, die sich voll und ganz in ihren Job inves­tieren und nach einiger Zeit der Berufstätigkeit an Erschöpfungszuständen, z.B. dem Burnout-Syndrom leiden. Oft fällt es den Helferinnen und Helfern schwer, sich emotio­nal abzugrenzen und ihre Arbeit von Privatem zu trennen. Sie sind ausgebrannt, bevor sie sich die Problematik bewusst gemacht haben.

Um mich dieser Thematik auf der Basis einer möglicherweise vorausgehenden falschen Helfermotivation zu nähern, möchte ich die Theorie des Helfersyndroms von Wolfgang Schmidbauer näher betrachten. Diese psychoanalytische Betrachtungsweise bietet eine gute Grundlage für die folgenden Überlegungen. Meine konkrete Ausgangs­hypothese lautet dabei: „Helfen in der Sozialen Arbeit ist produktiv, wenn der Helfer sich über seine „wahren“ Motive im Klaren ist.“ Ich möchte herausfinden, ob die per­sönliche Motivation des Helfers ausschlaggebend ist für eine gelungene Helferbezie­hung zu seinen Klienten. Konkreter gefragt: Wirkt sich eine falsche Helfermotivation negativ auf die Produktivität der Hilfeleistung aus? Und wann genau wird Helfen kon­traproduktiv? Kann man sich um die Problematiken anderer Menschen kümmern, wenn man die eigenen nie bearbeitet hat? Ist die Hilfe damit zum Scheitern verurteilt oder wie kann sie trotzdem gelingen?

Das Beleuchten der Helferbeziehung in Bezug auf den Helfer[1] in der Sozialen Arbeit, soll dazu dienen, das Helfen aus einer anderen Position zu betrachten, als es in der Regel der Fall ist. Das Studium bezieht sich meines Erachtens zu sehr auf den Sozial­pädagogen als professionellen Helfer. Es werden Methoden und Fachwissen erlernt, wobei nur wenig Raum bleibt, die eigene Persönlichkeit zu überdenken und die eigene Motivation zu überprüfen.

Um zunächst zu erläutern, was sich hinter dem komplexen Begriff des Helfens verbirgt, sollen nach einigen Definitionen, sowohl die gesellschaftliche Entwicklung der Hilfe, als auch die Bedeutung der Ethik für helfende Berufe zum Gegenstand der Betrachtung werden. Anschließend werden Motivationen für Hilfeleistung aus verschiedenen Per­spektiven betrachtet, um zunächst einmal herauszufinden, was Menschen allgemein motivieren kann anderen zu helfen. Im weiteren Verlauf der Arbeit, bezieht sich die Be­trachtung dann ausschließlich aufdie Soziale Arbeit.[2]

Im weiteren Verlauf werde ich mithilfe der Motivation von Studierenden der Sozialen Ar­beit herausarbeiten, inwiefern die vorausgehende Motivation und der Studienverlauf zur Entwicklung einer „gesunden“ Arbeitshaltung beiträgt. Am Beispiel des Helfersyn­droms mit Folge Burnout soll weiterhin dargestellt werden, in welchen Situationen eine falsche Motivation des Helfers sich auf die Produktivität der Hilfeleistung auswirken kann. Neben dem Helfersyndrom werden weitere mögliche Fehlentwicklungen der be­ruflichen Hilfe und auch die Rolle der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet. In ei­nem Exkurs möchte ich anhand eines Kurzinterviews die theoretischen Annahmen auf einer greifbareren Ebene darstellen und überprüfen, ob die theoretischen Annahmen in der Praxis wiederzufinden sind. Abschließend wird unter Zuhilfenahme der vorausge­gangenen Ergebnisse eine gelungene Helferbeziehung dargestellt, die möglicherweise ein Bewusstsein der „wahren“ Motivation des Helfers voraussetzt.

2. Entstehung des Hilfsbegriffs

2.1 Helfen - Eine Definition

Laut dem allgemeinen menschlichen Verständnis schließt das Wort „Helfen“ vier ver­schiedene Oberbegriffe mit ein. Das sind die Bedeutungen „beitragen“, „unterstützen“, „entlasten“ und „nutzen“. Helfen trägt also immer dazu bei, dass eine Einzelperson in ihrer Situation oder mit ihrer Aufgabe nicht allein gelassen wird. Sie erhält Unterstüt­zung, Entlastung, einen Beitrag oder einen Nutzen durch die Fremdeinwirkung einer anderen Person. Ganz egal, ob diese materieller oder personeller Art ist.

Niklas Luhmann definiert in seiner soziologischen Perspektive das Helfen als einen „Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse eines anderen Menschen“.[3] Es gibt in die­sem Fall also eine Person, die Hilfe leistet und eine Person, die Hilfe empfängt. Es ent­steht ein so genannter „Bedarfsausgleich“ zwischen den beiden Interaktionspartnern. Luhmann beschreibt zwei Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit es zu einer Interaktion, einer Hilfeleistung zwischen den beiden Interaktionspartnern kommt. Zum einen beschreibt er, dass „Erwartungen“ niemals absolut sind. Das bedeutet Hilfeleister und Hilfeempfänger müssen sich einig sein über Motive, Situation und Kultur. Weiterhin ist die „Zeitebene“ entscheidend. „Immer ist wechselseitige Hilfe unter Menschen ver­knüpft mit dem Problem des zeitlichen Ausgleichs von Bedürfnissen und Kapazitäten“.[4] Je länger also die zeitliche Differenz von der Entstehung des Bedürfnisses und der Be­dürfnisbefriedigung ist, um so mehr Zeit gilt es zu überbrücken. Und je mehr Personen an dieser Interaktion beteiligt sind, desto komplexer sind die Erwartungen, die zeitliche Differenz und derVorgang des Helfens.[5]

Wenn man die Begrifflichkeit des Helfens näher betrachtet, dann trifft man ebenfalls schnell auf den Begriff Altruismus. Eine Definition von Bierhoff lautet: „Altruistisches Verhalten eines Akteurs ist dann gegeben, wenn er/sie die Absicht hat, einer konkreten Person eine Wohltat zu erweisen und wenn der Akteur freiwillig handelt (und nicht im Rahmen der Aufgaben, die sich durch dienstliche Rollen verpflichtung ergeben).‘[6] Der Begriff Altruismus beschreibt laut Bierhoff also eine völlig selbstlose Form der Hilfe. Eine Einzelperson handelt, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten oderzu bekom­men. Hunt unterstützt diese Definition von Altruismus. Er sagt: „Altruismus ist eine

mögliche Form prosozialen Verhaltens - die einzige allerdings, die gegen das Gesetz derVerstärkung zu verstoßen und dem Eigeninteresse zuwiderzulaufen scheint.“[7] Diese erweiterte Form der Definition des Helfens durch den Altruismus ist für den wei­teren Verlauf dieser Arbeit von Bedeutung, deswegen sei er hier schon einmal erklärt. In den folgenden Kapiteln wird ein erneuter Bezug dazu hergestellt.

Abschließend lässt sich also feststellen, dass man klar unterscheiden muss zwischen einseitigem Helfen und Helfen, das auf Gegenseitigkeit beruht. Der hierfür benutzte Fachbegriff ist die Reziprozität. Dieser Begriff ist im soziologischen Sinne geprägt von Alvin W. Gouldner. Esser beschreibt den Begriff wie folgt: „Reziprozität heißt zunächst nur, daß der Wert der Gegenleistung dem der Vorleistung entspricht. Wenn das der Fall ist, dann stellt sich bei den Beteiligten ein Gefühl der Erwartungserfüllung ein, daß sich bei Wiederholung, sozusagen im Sinne der indirekten Verstärkung, auf die Bezie­hung und die weitere Situation überträgt und generalisiert“[8]

Bevor also die Motivationen für die möglicherweise selbstlose Hilfe zum Gegenstand der Betrachtung werden, soll es aber zunächst um die allgemeinen philosophischen und moralischen Aspekte des Helfens gehen, die die heutige Soziale Arbeit geprägt ha­ben.

2.2 Die Bedeutung der Ethik/ Philosophie für helfende Berufe

Sobald man sich mit dem komplexen Begriff des Helfens beschäftigt, so stößt man schnell auf die Frage nach den Hintergründen für die Hilfeleistung. Soziale Arbeit ist eine berufliche Dienstleistung, bei der der Hilfeleister für seine Hilfeleistung bezahlt wird. Jedoch ist auch diese berufliche Hilfe gewissen ethischen und moralischen Ver­pflichtungen unterworfen.

„Soziale Arbeit als gesellschaftlich organisierte, von Adressaten erwartbare „Hilfe“ (und „Kontrolle“) bezieht sich auf sensible, verletzbare Bereiche des menschlichen (Privat-) Lebens.“[9] Es handelt sich um eine verantwortungsvolle Aufgabe, weil man Hilfestellung für Menschen leistet, die in Lebenssituationen Rat und Hilfe suchen. Ethische und mo­ralische Grundsätze machen damit die Professionalität dieser Dienstleistung aus. „Schlechte Arbeit“ oder unverantwortliches Handeln können gravierende Folgen ha­ben. Aus diesen Gründen werden von Angehörigen dieses Berufs eine besonders aus­geprägte moralische Integrität und ein hohes Verantwortungsbewusstsein erwartet.“[10] Ohnehin, das sei am Rande erwähnt, ist das Wort „Beruf“ sehr stark mit der „Berufung“ verbunden. Diese Aussage war geprägt von Martin Luther, wurde zu seiner Zeit zum Gegenstand der Betrachtung und hat somit die Einstellung des Menschen zu seiner Ar­beit verändert.[11] Diese Anmerkung soll jedoch nicht weiter erörtert werden und der Fo­kus richtet sich nun auf ethische Standpunkte, die maßgeblich das Helfen allgemein, aber eben auch in der Sozialen Arbeit beeinflusst haben.

Als kurze Erklärung der Ethik grundsätzlich sei gesagt, dass es sich hierbei um „die Lehre von richtigen Handeln und Wollen handelt“[12] Die Ethik ist im traditionellen Sinne eine Teildisziplin der Philosophie.[13]

Im Bereich der helfenden Berufe geht es nicht um die Steuerung von Maschinen, son­dern es geht darum Menschen zu helfen. „Immer dann, wenn man es mit Menschen und eben nicht mit Gegenständen oder Gütern zu tun hat, tritt die ethische Relevanz des Handelns in den Vordergrund [...] Es wird immer um eine gewisse Form der Kon­frontation von wenig oder gar keinem gesellschaftskonformen Verhalten und Handeln mit den tatsächlichen und notwendigen Gegebenheiten und Anforderungen der Gesell­schaft gehen.“[14] Menschen, die die Dienstleistung der Hilfe in Anspruch nehmen, verfü­gen häufig selbst über geringe moralische Bildung und ihr Verhalten ist nicht selten un- angepasst an die Gegebenheiten und Anforderungen der Gesellschaft. Wichtig ist es also, diese Moral bzw. Sichtweise im Auftrag der Gesellschaft weiterzugeben. Durch diese Aussage sei verdeutlicht, warum die Ethik einen wichtigen Stellenwert in helfen­den Berufen besitzt.

Auf welchen theoretischen Hintergründen basiert aber nun das „richtige Handeln“ in helfenden Berufen? Als zentrales Gesetz der Ethik in helfenden Berufen formuliert Baum in Anlehnung an Schopenhauer (1788- I860) das Folgende: „Hilfe zur Selbsthil­fe darf in dem Maße, wie sie moralisch zu sein beansprucht, niemandem schaden, sondern muß allen so weit wie möglich helfen.““[15] Diese Aussage ergibt sich im weiteren Sinne aus einer goldenen Regel, der „regula aurea“, die seit vielen Jahrhunderten ge­braucht wird, um das „richtige, sittliche Verhalten“ gegenüber Mitmenschen zu beurtei­len. Die „Goldene Regel“, die sowohl in vielen Kulturen Europas und Asiens bekannt

ist, als auch in der Religionsgeschichte zu finden ist, lautet: „Alles, was du willst, dass dirdie Menschen tun, das sollst auch du ihnen tun!“[16] Oder umformuliert als Negativfor­mel: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andern zur[17] Die Schlussfolgerung, die sich aus dieser „Goldenen Regel“ ziehen lässt ist, dass man sich vor seinem Handeln bzw. vor seiner Hilfe, die man leistet, über die Folgen für den Be­troffenen im Klaren ist. Eine Hilfe, die nur auf das eigene Wohl bedacht ist und sich nicht um die Folgen für den Hilfeempfänger sorgt, spricht demnach schon einmal ge­gen das ethische Handeln in helfenden Berufen.

Ein weiterer wichtiger ethischer Aspekt der helfenden Berufe ist die Achtung der Men­schenwürde. Im Artikel 1, Satz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen und zu achten ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“[18] Diese dem Menschen zugesprochene Würde ist tief in der Geschichte verwurzelt. Die Menschenwürde bildet in Westeuropa den Mit­telpunkt des Wertesystems. Zum einen findet die Menschenwürde in der christlichen Geschichte ihren Ursprung, denn schon in der Bibel wird von der Gottebenbildlichkeit des Menschen gesprochen.[19] Zum zweiten finden sich in der antiken Philosophie nach Cicero Hinweise dafür, dass der Mensch sich durch seine Würde von den nicht­menschlichen Kreaturen unterscheidet und dafür, dass er die Würde als Kennzeich­nung sozialer Positionen innerhalb der Gesellschaft besitzt.[20] Weiterhin von großer Be­deutung ist die menschliche Würde zu Zeiten der Aufklärung in der Moralphilosophie Kant's. „Der Grund dafür, dass die menschliche Natur Würde hat, ist nach Kant die Au­tonomie des Menschen, das heißt seine Möglichkeit, in Freiheit einem Gesetz unter­worfen zu sein, also sittlich sein zu können.“[21]

Nach den menschenunwürdigen Geschehnissen unter dem Naziregime wurde sich er­neut auf die Menschenwürde besonnen und sie wurde verstärkt in das nationale, aber auch internationale Recht integriert.[22] Die menschliche Würde ist also als Fundament für das „gute, sittliche Handeln“ zu sehen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Ethik in helfenden Berufen eine ent­scheidende, übergeordnete Rolle spielt. Auf der Metaebene ergibt sich aus der Ethik, natürlich verbunden mit Methoden und fachlicher Kompetenz, die Professionalität in helfenden Berufen. Bezugnehmend auf das Thema dieser Arbeit sei für die weitere Er­örterung die Hypothese aufgestellt, dass produktives Helfen eine Selbstreflexion der Umsetzung ethischer Grundsätze voraussetzt.

2.3 Gesellschaftliche Entwicklung der Hilfe

In diesem Kapitel geht es um die gesellschaftliche Entwicklung der Hilfe, denn Helfen ist nichtvon dergesellschaftlichen Form und den zugehörigen Werten trennbar. Warum das so ist, sei an dieser Stelle kurz erklärt. Die Beteiligten, nämlich Hilfeleister und Hil­feempfänger, müssen sich hinsichtlich kultureller und situativer Motive über die Art der Hilfe einig sein. Jede Gesellschaft hat einen anderen Hilfebedarf und andere Motivatio­nen Hilfeleistungen zu erbringen und zu empfangen. Zum Beispiel kann Hilfe in Form von gegenseitiger Befriedigung der Grundbedürfnisse erfolgen, jedoch auch als Geld­leistung von reich nach arm. Das an dieser Stelle die gesellschaftliche Form und die vorherrschenden Werte ausschlaggebend sind, wird im Folgenden in der Darstellung der verschiedenen Gesellschaftsformen verdeutlicht. Denn „nur erwartbares Handeln kann in soziale Interaktionen aufgenommen, verstanden und damit auch erwidert wer­den. Das, was als erwartbar gesehen werden kann, hängt wiederum von der spezifi­schen Lage der Gesellschaft, ihrer kulturellen Situation und ihrem kulturellen Wandel ab. In jedem Fall also bezieht sich Helfen - ob privat oder professionell - auf das, was kulturell hierzu ausgesagt wird.“[23] Doch dieses Zitat sagt noch mehr aus: Die gesell­schaftliche Entwicklung unterliegt einem ständigen Wandlungsprozess. Das bedeutet, dass auch der Umfang der Hilfeleistung sich diesem Wandlungsprozess anpassen muss. Je mehr Menschen in einer Gesellschaft leben, desto individueller sind ihre Hil­febedürfnisse. Auf diese individuellen Bedürfnisse muss immer wieder spezifisch rea­giert werden. Es wird schwieriger auf alle potentiellen Notlagen adäquat zu reagieren und darüber informiert zu sein. Das Auslösen von Hilfshandlungen wird schwieriger, aber auch wesentlich nötiger.[24]

Nun sollen die gesellschaftlichen Entwicklungen anhand der Beispiele der archaischen Gesellschaft, der hochkultivierten Gesellschaft und der modernen Gesellschaft näher betrachtet werden.

Archaische Gesellschaften sind laut Luhmann segmentär differenziert, das bedeutet sie haben einen geringen Anteil an Komplexität. Zum Beispiel sind das verwandtschaft­liche, wohngemeinschaftliche, kleine überschaubare Dorf- und Stammesgemeinschaf­ten mit verbaler Kommunikation, also mehr oder weniger gleiche Einheiten auf geringer Entwicklungsstufe, die sich durch Autonomie auszeichnen. Die archaischen Gesell­schaften sind nicht an eine bestimmte geschichtliche Epoche geknüpft, es gibt sie ver­einzelt sogar heute noch. Kennzeichnend sind ihre Arbeitsteilung, abhängig von Ge­schlechts- und Altersrollen und auch ihre geringe Individualisierung. Das bedeutetjeder Einzelne definiert sich über seine Stammeszugehörigkeit. Dem Individuum kommt da­bei keine große Bedeutung zu.[25]

Das Helfen dient in diesen Gesellschaften dem reinen Bedarfsausgleich. Die zu befrie­digenden Grundbedürfnisse sind allen geläufig und sind zentraler Bestandteil der Hilfe. Es gibt also immer ein klares Motiv, welches kulturell vermittelt wird und allgemein an­erkannt ist. Eine Art der selbstlosen/ altruistischen Hilfe ist in dieser Gesellschaftsform nicht zu erkennen, weil diese Form der Hilfe ausschließlich zweckgebunden ist (z.B. das Erwarten einer materiellen Gegenleistung, das versprochene Seelenheil oder die einfache Befriedigung der eigenen Grundbedürfnisse durch die Hilfe anderer).[26] Die Hilfeleistung in archaischen Gesellschaften ist also ein vollkommener Austausch­prozess, ein Geben und Nehmen. Dementsprechend ist hier ein komplexes System der Hilfeleistung weder notwendig, noch konzipiert. Gerade durch dieses gesellschaftlich unorganisierte Hilfssystem ist man abhängig von der Solidarität anderer Menschen. Dieses System funktioniert jedoch gut, weil sich jeder über die Zugehörigkeit zu seiner Gesellschaft/ Stamm definiert.

Darüber hinaus weisen auch die Hochkulturen bestimmte charakteristische Merkmale auf, die sich auch auf die Struktur des Hilfssystems auswirken. Typisch für Hochkultu­ren, die sich in derZeit des Spätmittelalters, über die Neuzeit und die Aufklärung, bis in die Gesellschaft der klassisch-idealistischen Zeit finden, ist z.B. die Existenz von Städ­ten (die sich als Mittelpunkt von Handel und Herrschaft darstellen). Es bilden sich im­mer mehr Gesellschaftsklassen mit Spezialisierungen heraus und dadurch entstehen Schichten. Die technische Entwicklung in diesen Gesellschaften ist ebenfalls ein zen­trales Merkmal, sie ist wesentlich fortschrittlicher als in archaischen Gesellschaften. Charakteristisch ist auch die Schrift als zentrales Kommunikationsmittel. Musik, bilden­de Kunst und die Entwicklung von Wissenschaft stehen an hoher Stelle.[27] Durch die Ausdifferenzierung einer Oberschicht als Teilsystem der Gesellschaft ist der Übergang von einer segmentären zu einer stratifikatorischen Ordnung vorhanden.

Hochkultivierte Gesellschaften sind demnach stratifikatorisch organisiert, sie haben ein höheres Maß an Komplexität und typisch dafür ist die „Herausbildung von Ungleich­heit in Form schichtgebundender Machtstrukturen“.[28] Diese gegebenen Merkmale einer hochkultivierten Gesellschaft wirken sich aufdas vorherrschende Hilfssystem aus. Aufgrund der Schichtdifferenzierung ist die Umkehrbarkeit von Hilfeleistungen nicht mehr feststehend. Das bedeutet, eine Person aus einer niedrigeren Schicht ist nicht in der Lage, einer Person aus einer höheren Schicht die gleiche Hilfestellung zu geben wie umgekehrt. Nach Luhmann „entfällt ein wesentliches Moment der Motivation zu un­mittelbarer Reziprozität des Helfens: die Reversibilität der Lagen. [...] dem er hilft - mag er nun durch die Hoffnung auf Gegenleistung oder durch ein Sich-selbst-in- der-Lage-des-anderen-sehen motiviert sein.“[29]

Um die nötige Hilfe jedoch aufrecht zu erhalten, wird sie durch ethische Maßstäbe und durch Erziehung vermittelt. Es besteht eine „moralisch geforderte Hilfe“ und die rezipro­ke Form der Hilfeleistung wird durch eine vertragliche Hilfeleistung ersetzt. Dieser Hil­fevertrag nennt sich „Konsensualvertrag“. Dabei geht es darum, sich im moralischen Sinne auf die Hilfeleistung des Anderen verlassen zu können. Es geht um eine „ver­bindliche Wechselbeziehung“.[30] Auch Almosen werden in der konsensualen Erwartung gegeben. Der Gebende erwartet damit, dass der Hilfeempfängerfür den Gebenden um sein Seelenheil bittet. Statt der reziproken Vergeltung geht es also um die sofortige Honorierung derguten Tat. Geld ist damit ein elementares Hilfsmittel in hochkultivierten Gesellschaften.[31]

Zum Ende der Zeit von Hochkulturen ergab sich ein Wandel vom moralisch generali­sierten, konsensualvertraglichen Helfen zum weltlichen, organisierten Helfen.[32] „Allgemeine, fremde Hilfe brauchte eine neue, von individuellen Entschlüssen unab­hängige Form. Organisationen ergaben diese Form.“[33]

Hier bildet sich heraus, dass Hilfe nicht immer umkehrbar ist und das Geld (in Form von Almosen) auch nicht die Lösung aller Probleme herbeiführt. Die Entwicklung der in­stitutionalisierten Hilfe steht kurz bevor. In hochkultivierten Gesellschaften ist Hilfe in Form von Geldleistungen zentrales Thema und die Motivation besteht darin, aus religi­öser und moralischer Sicht durch die eigene Hilfe Anerkennung zu finden.

Im letzten Teil dieses Abschnittes soll es um die modernen Gesellschaften gehen.

Als Beginn der modernen Gesellschaften ist die Zeit der Industrialisierung zu sehen. Zu

Beginn dieser Zeit waren moderne Gesellschaften noch stark nach Schichten differen­ziert, was sich durch die Bedingungen der Ökonomisierung, Technologisierung und Globalisierung aber bald geändert hat. Die Gesellschaft entwickelt immer mehr relativ autonome Funktionssysteme zur Bearbeitung ungleicher gesellschaftlicher Aufgaben. Dazu zählen z.B. das Recht, die Wissenschaft, Bildung und Erziehung, die Religion, die Medizin, Kunst und die zunehmend entstehenden Massenmedien.[34] Jede hier ge­nannte Instanz übernimmt ihre speziellen Aufgaben.

Von besonderer Bedeutung für moderne Gesellschaften, wie schon zum Ende der hochkultivierten Gesellschaften absehbar ist, ist die Organisation. „Organisationen sind die Einheiten, die die Aufgaben derFunktionssysteme bearbeiten.‘[35] Die Hilfe von modernen Gesellschaften ist also ebenfalls gekennzeichnet von ihrer Ausdifferenzierung. Hilfe wird zunehmend geplant und gesellschaftlich organisiert. Da­mit wird sie zu einer Konstante, die von der Gesellschaft erwartet wird und auch erwar­tet werden kann. Sie kann erwartet werden, weil wir bspw. in unserer modernen Gesell­schaft in einem Sozialstaat leben. Ziel des Sozialstaates ist unter anderem der Abbau erheblicher sozialer Unterschiede und die Sicherung eines angemessenen Lebens­standards für alle Teile der Bevölkerung.[36] Lambers zitiert an dieser Stelle Luhmann 1973, S. 32: „Die moderne Geseiischaft...konstituiert eine Umwelt, in der sich organi­sierte Sozialsysteme bilden können, die sich aufs Helfen spezialisieren. Damit wird Hil­fe in nie zuvor erreichter Weise eine zuverlässig erwartbare Leistung.“[37] In modernen Gesellschaften ist Armenfürsorge, ja Hilfe im Allgemeinen zur Aufgabe des Staates geworden. Durch das differenzierte System der staatlichen Instanzen ar- beitetjederan seinen speziellen Aufgaben im Netzder sozialen Hilfeleistung.

Dieser geschichtliche Abriss sollte dazu dienen, die Entwicklung der gesellschaftlichen Hilfe nachvollziehen zu können. Es wurde deutlich, dass sich das Hilfssystem im Laufe der Zeit drastisch verändert hat. Begonnen hat es mit einer Umkehrbarkeit von Hilfe in archaischen Gesellschaften. In hochkultivierten Gesellschaften war durch die zuneh­mende Differenzierung der gesellschaftlichen Positionen eine moralische Hilfeleistung der Mittelpunkt. In heutigen, modernen Gesellschaften sind die Gegebenheiten völlig anders. Nie zuvor in der Vergangenheit waren Gesellschaften so komplex organisiert. Die Individualisierung der Persönlichkeiten nimmt immer mehr zu und damit werden auch die Probleme der Menschen immer individueller. Für jeden möglichen Notfall gibt es eine zuständige Institution, die auf die individuellen Problemlagen spezialisiert ist.

Helfen ist dementsprechend immer mehr zu einer sozialen Dienstleistung geworden. Auch die Soziale Arbeit ist ein Resultat dergesellschaftlichen Entwicklung des Hilfesys­tems. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit beschränkt sich nun also die Betrachtung des Helfens allein auf die Soziale Arbeit.

2.4 Soziale Arbeit - Resultat der Hilfsentwicklung

Moderne Gesellschaften haben ein sehr ausdifferenziertes System der Hilfeleistung. Dieses System ist notwendig, um den individuellen Problemen der Menschen innerhalb der Gesellschaft gerecht werden zu können. Aus den Ursprüngen der Mildtätigkeit und dem Almosen aus früheren Zeiten hat sich ein staatlich organisiertes System der Hilfe­leistung entwickelt. Teil dieser Hilfeleistung in unserer modernen Gesellschaft ist die Soziale Arbeit. Dieses Kapitel soll verständlich machen, welchen gesellschaftlichen und persönlichen Auftrag die Soziale Arbeit innerhalb des Hilfesystems übernimmt und wo ihre Grenzen sind.

Die Soziale Arbeit ist eine moderne Wissenschaft, die sich zu Beginn des 20. Jahrhun­derts unter verschiedenen Begrifflichkeiten zu entwickeln begann. Zu Beginn gab es Begrifflichkeiten wie „Fürsorgewissenschaft“ und „Wohlfahrtswissenschaft“. Dann be­währten sich die Begriffe Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Die Sozialpädagogik hat ihre Ursprünge in der Jugendwohlfahrtspflege und hat damit einen erzieherischen Schwerpunkt. Sozialpädagogik war lange Zeit ein universitärer Diplomstudiengang. Ihm wurde irgendwann der Begriff der „Sozialarbeitswissenschaft“ entgegengesetzt. Die Sozialarbeit bezieht sich eher auf die Begrifflichkeit der Hilfe. Sie hat die Bewälti­gung psychosozialer und akuter Probleme von Erwachsenen als Schwerpunkt. Weil sich die Berufsfelder von Sozialpädagogik und Sozialarbeit zunehmend zu überschnei­den begannen, wurde bald der gemeinsame Begriff Soziale Arbeit eingeführt.[38]

Worauf bezieht sich also die Profession Soziale Arbeit? Die Soziale Arbeit hat „das Ziel, den Menschen und die Gesellschaft im positiven zu verändern, weiterzuentwi­ckeln und zu fördern.“[39] Das Wort „sozial“ schließt nie nur die individuellen Problemla­gen einer Einzelperson ein, sondern bezieht sich auch auf die vorhandenen gesell­schaftlichen Bedingungen. Soziale Arbeit ist also in ihrer Umsetzung stets gebunden an wirtschaftliche, kulturelle und politisch-administrative Bedingungen.[40] Die Soziale Ar­beit nimmt als Profession vor allem drei verschiedene Ziele in den Blick: „[41]. Hilfe zur Selbstfindung und Selbsthilfe, Entfaltung und Förderung der Persönlichkeit (individuel­le Funktion). 2. Die Verbesserung bzw. Veränderung der gesellschaftlichen Bedingun­gen sozialer Problemlagen (gesellschaftliche Funktion). 3. Orientierung an europäi­schen, zunehmend auch mehr an weltgesellschaftlichen und menschenrechtlichen Perspektiven und Zielen Sozialer Arbeit.“^ Diese kurze Erläuterung soll genügen, um zu verdeutlichen, was die Soziale Arbeit für eine umfangreiche Aufgabe hat. Sie muss einerseits dem Klienten gerecht werden und andererseits die Interessen der Gesell­schaft bzw. der Institution, für die sie arbeitet, vertreten. Im Hinblick auf die Art der so­zialen Hilfeleistung und der sozialen Kontrolle spricht man hier vom „doppelten Man­dat“ eines Sozialarbeiters.[42]

Die Soziale Arbeit unterliegt, wie alle Hilfen in der modernen Gesellschaft, der staatli­chen Organisation. Es gibt auch freie Träger der Wohlfahrtspflege und private Leis­tungserbringer, jedoch ist die Organisation der zentrale Begriff in der Sozialen Arbeit. Es ist folglich immer eine Gratwanderung zwischen der Feststellung, dass jemand hil­febedürftig ist und der Auslösung einer Hilfeleistung. Häufig gibt es aufgrund ökonomi­scher Entwicklungen zu wenige Gelder, um die eigentlich benötigte Hilfe für den Klien­ten zu leisten. Überall im Gesundheitssystem fehlen finanzielle Mittel und es werden Leistungen und Stellen eingespart. Leistungen müssen erst finanzierbar gemacht wer­den, bevor der Helfer tätig werden kann. Oft ist es für Sozialarbeiter schwer, diese Zeit der Untätigkeit auszuhalten, weil aus moralischer Sicht und persönlichem Verständnis längst eine Hilfeleistung ausgelöst worden wäre.[43]

Soziale Arbeit ist eine Profession, in der es darum geht Menschen zu helfen. Sozialar­beiter sind Erbringer von Dienstleistungen und werden für ihre Leistung bezahlt. Allge­mein bekannt ist jedoch auch, dass man in anderen Bereichen der öffentlichen Wirt­schaft wesentlich mehr Geld verdienen kann. Was bewegt also einen Menschen dazu, sich in beruflicher Sicht für andere einzusetzen? Warum bringt man sich bewusst in einen Zwiespalt zwischen staatlichen Forderungen und den individuellen Vorstellungen der Klienten? Den Antrieb, eine Gegenleistung in Form von Hilfe durch den Interakti­onspartner (in diesem Fall dem Klienten) zu erwarten, kann es hier nicht geben. Hilfe, die ein Sozialarbeiter leistet, die kann er nicht im gleichen Sinne von seinem Klienten erwarten. Nachfolgend soll es nun somit um die Motivation gehen, die Menschen in der Sozialen Arbeit bewegt, Hilfe zu leisten.

3. Motivationen des Helfens in der Sozialen Arbeit

3.1 Ein Überblick über die theoretischen Erklärungsansätze

Die Frage nach der Motivation für die Hilfeleistung ist die zentrale Frage in Bezug auf die zuvor aufgestellte Ausgangshypothese. Hilfe kann nur dann produktiv sein, wenn sich der Helfer über seine „wahren Motive“ im Klaren ist. Zu Beginn war die Rede von der Unterscheidung zwischen einer reziproken Form der Hilfeleistung und der altruisti­schen Hilfe. Bei der reziproken Form der Hilfe ist das Motiv eindeutig. Der Helfer erwar­tet eine Gegenleistung für seine erbrachte Hilfe. Ganz egal, wie diese aussehen mag. Was aber ist mit der altruistischen Hilfe? Ist es überhaupt möglich, zu helfen ohne selbst davon profitieren zu wollen? Kann ein Mensch so selbstlos sein oder gibt es möglicherweise auch für die vermeintlich altruistische Form der Hilfeleistung verdeckte Motive, die dem Wohl des Helfers dienen sollen? Und welche Rolle spielen ethische Grundsätze bei der Motivation? Eine eindeutige Antwort auf diese Fragen zu finden, würde wohl den Umfang dieser Arbeit sprengen, trotzdem soll versucht werden, mögli­che Antworten auf diese Fragen herauszuarbeiten. Bevor es aber darum geht, wie eine möglicherweise falsche Helfermotivation zustande kommt, soll es erst um allgemein menschliche Motivationen für Hilfeleistungen gehen.

„Sozialberufliches Handeln ist häufig religiös oder humanistisch motiviert und ist auch in der Praxis zu einem hohen Anteil wertgeleitetes Handeln.“[44] Wenn man nach Werten sucht, die für die Motivation der Hilfe ausschlaggebend sein können, dann kann man sich nicht nur an rein wissenschaftlich bewiesenen Erkenntnissen orientieren. Man muss auch religiöse und humanistische Werte in Betracht ziehen, die seit Jahrhunder­ten unsere Gesellschaft geprägt haben und auch in unserer modernen Gesellschaft noch von Bedeutung sind. Manche Wertesysteme sind für die Allgemeinheit der Gesell- schaft von Bedeutung z.B. die Grundwerte, die als Grundrechte formuliert worden sind. Andere Wertesysteme sind nur für Teilgruppen der Gesellschaft wichtig, so ist es bspw. mit den religiösen Werten.[45] „Werte sind ideal gedachte religiöse, philosophische und politische Vorstellungen über Menschenbilderbzw. gesellschaftliche Idealzustände.“[46] In verschiedenen literarischen Werken werden dazu folgende Begründungen des Hel- fens diskutiert: die humanistische bzw. psychologische Motivation, die christliche Nächstenliebe bzw. religiöse Motivation und die evolutionsbiologische Motivation.

3.1.1 Die humanistisch psychologisch begründete Motivation

Der Humanismus stellt in unserer Gesellschaft eine wichtige Werteorientierung dar. Er hat sowohl eine aktuelle, als auch eine historische Bedeutung.

„Aktuell bedeutet Humanismus das Streben nach Humanität, also Menschlichkeit, nach Freiheit, Toleranz, Respekt vor anderen Menschen u.ä. Es geht um eine der Men­schenwürde und der freien Persönlichkeitsentfaltung angemessene Gestaltung des Le­bens und derGesellschaft.“[47]

Aus Sicht der humanistischen Perspektive ist der Mensch das „höchste Gut“ aller Din­ge. Von besonderer Bedeutung ist, dass der Mensch seinen Verstand gebrauchen kann und anderen Menschen (ebenso wie sich selbst) eine Würde zuspricht, um die es schon zuvor in dieser Arbeit ging. Um ein „Streben nach Humanität, Menschlichkeit, Freiheit, Toleranz und Respekt vor anderen Menschen“ gewährleisten zu können, kann sich das Individuum nicht nur um sich selber drehen, sondern die Existenz des Ande­ren muss auch bejaht werden. Eric Mührel zitiert in seinem Buch den humanistischen Philosophen Emmanuel Lévinas: Er behauptet „[...] dass der Humanismus nur dann zu einer gesteigerten Humanität führen kann, wenn er als ein Humanismus des anderen Menschen verstanden werden kann.“[48] Diese Aussage enthält explizit die Forderung, dass man sich nicht nur um das eigene Wohlergehen kümmert, sondern sich auch für das Wohlergehen anderer Menschen einsetzt. Es geht nicht darum, nur die eigene menschliche Existenz in den Mittelpunkt zu stellen, sondern auch darum, Verantwor­tung für den Anderen zu übernehmen.[49]

Angewandt auf die humanistische Motivation der Hilfeleistung bedeutet die Aussage von Lévinas, dass Menschen anderen Menschen helfen, um die allgemeine Humanität (Menschlichkeit) zu steigern. Jeder Mensch hat Hilfe verdient und niemand müsste auf sich allein gestellt sein. In der Theorie ist diese humanistische Sichtweise ein gutes Fundament, jedoch unterscheiden sich die menschlichen Bedürfnisse laut dem huma­nistischen Psychologen Abraham Maslow und damit auch die Motivationen des Hel- fens. Um diese Aussage zu verdeutlichen, soll an dieser Stelle die Maslow'sche Be­dürfnispyramide zum Gegenstand der Betrachtung werden.[50] Laut Maslow bilden phy­siologische Grundbedürfnisse die erste Stufe der Pyramide. Dann folgen Bedürfnisse nach Sicherheit, Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Bedürfnisse nach Wertschätzung und zum Schluss das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Entsprechend seiner Theo­rie wird der Mensch durch das Bedürfnis, welches über ein Defizit verfügt, motiviert.[51] Das bedeutet anhand eines konkreten Beispiels, dass jemand, der sein Bedürfnis nach Essen und Trinken nicht gedeckt hat, einem anderen Menschen möglicherweise nicht das Bedürfnis nach Sicherheit erfüllen kann.

Bezogen aufdie Helfermotivation würde das möglicherweise bedeuten, dass der Helfer sich an seinen eigenen Bedürfnissen orientiert. Wenn es sich nicht gerade um eine be­rufliche Dienstleistung der Hilfe handelt und die Grundbedürfnisse des Helfers nicht ge­deckt sind, dann kann er sich nicht um die Defizite eines anderen kümmern, die zu die­sem Zeitpunkt an einer ganz anderen Stelle der Pyramide liegen.

Der humanistische Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm beschreibt hingegen in seinem Werk „Die Kunst des Liebens“ und hier im Kapitel „Liebe als Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz“ das tiefste Bedürfnis eines Menschen. Das ist laut seiner Theorie, die eigene Abgetrenntheit von anderen Menschen zu überwinden und aus dem Gefängnis der Einsamkeit zu entfliehen.[52]

„Das Bewußtsein der menschlichen Getrenntheit ohne die Wiedervereinigung durch die Liebe ist die Quelle der Scham. Und es ist gleichzeitig die Quelle von Schuldgefühl und Angst.“[53] Aus dieser Aussage von Erich Fromm lässt sich schließen, dass der Mensch ein inneres Bedürfnis hat, sich mit anderen Menschen zu verbinden. Das soll nicht nur im erotischen Sinne gelten. Der Mensch hat das Bedürfnis in Gemeinschaft mit anderen zu leben und sozial zu agieren.[54] Im weiteren Verlauf des Kapitels be­schreibt Fromm, was eine reife Form der Liebe ausmacht: Die reife Liebe ist eine „Ver­einigung bei der die Individualität und Integrität bewahrt bleibt. Liebe ist eine aktive Kraft im Menschen.“55 Der Mensch besitzt also eine Fähigkeit, bei der die eigene Indivi­dualität bestehen bleibt, sich mit Menschen zu vereinigen und Verantwortung zu über­nehmen.

Im Hinblick auf die Motivation der Hilfeleistung bedeutet diese humanistisch psycholo­gische Fähigkeit des Menschen, dass der Mensch aus sich heraus dazu in der Lage ist, anderen Menschen Gutes zu tun. Es mag also eine Kompetenz vorhanden sein, die sich durch die „aktive Kraft der Liebe“ zu einer Hilfsbereitschaft entwickeln vermag, die jedoch trotzdem maßgeblich durch eigene Bedürfnisse gesteuert ist. Grundsätzlich scheint die humanistische Motivation anderen Menschen Hilfe zu leisten durchaus sinnvoll und dem Helfer auch bewusst zu sein, denn Hilfe setzt immer die Bejahung der Existenz des Anderen voraus. Trotzdem scheint es sich hier um keine altruistische, also völlig selbstlose Form der Hilfe zu handeln. Der Mensch hat ein inneres Bedürfnis nach Gemeinschaft und Nähe zu anderen Menschen. Dieses Bedürfnis treibt ihn an, sich für andere Menschen einzusetzen.

3.1.2 Die christlich religiös begründete Motivation

Wenn man sich im christlichen Sinne mit einer möglicherweise altruistischen Form der Hilfe auseinandersetzt, so findet man sehr schnell das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Es geht um einen Schriftgelehrten dem Jesus sagte: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, der Schriftgelehrte fragte daraufhin: „Wer ist denn mein Nächster?“ Im Anschluss daran erzählt Jesus das Gleichnis. Ein Mann wurde auf seinem Weg von Jerusalem nach Jericho überfallen und ausgeraubt. Er blieb schwer verletzt am Wegesrand liegen und ein Priester ging an ihm vorbei. Das gleiche tat auch ein Levit. Schließlich half ihm ein Samariter, der seine Wunden versorgte und ihn zur nächsten Herberge transportierte und für seine Kosten aufkam. Zum Ende der Ge­schichte fragte Jesus den Schriftgelehrten, wer dem Mann der Nächste gewesen sei. Der Schriftgelehrte erkannte den Sinn der Geschichte und antwortete, der Samariter.[55] Der Priester hätte dem Mann helfen müssen, weil es seine berufliche Pflicht war, der Levit hätte ihm helfen müssen, weil er auch ein Judäer war. Aber keiner von beiden tat es. Nur der Samariter - der die schlechteste Beziehung zu dem Opfer hatte - (die Be­ziehung zwischen dem Volk der Samariter und Judäer war nicht gut),[56] hat in dem am Wegesrand liegenden Menschen seinen Nächsten gesehen und ihm geholfen. Er in­vestierte Zeit, Mühe und sein eigenes Geld, um dem Verletzten zu helfen, ohne das es irgendeine Aussicht auf eine Belohnung gab. Dieses Beispiel ist das aussagekräftigste Muster altruistischen Verhaltens, so Hunt.[57]

Aus christlicher Sicht hat Jesus selber in seinem Reden und Handeln gezeigt, wie wah­re Nächstenliebe aussehen kann. Das für die Christen vermutlich eindrucksvollste Bei­spiel dafür ist, dass er am Kreuz für die Sünden der Menschheit gestorben ist.[58] Ent­scheidend für die Motivation nach diesem Beispiel von Jesus zu handeln und seinen Nächsten zu lieben ist der persönliche Glaube. „Christus hat die Menschen gelehrt, wie sie sich verhalten sollen, nicht wie sie sich tatsächlich verhalten.“[59] Dieses Zitat von Morton Hunt verdeutlicht eindrucksvoll, dass aus christlicher Sicht der persönliche Glaube und die damit verbundene Kraft Menschen dazu bewegen kann, ihre selbst­süchtigen Handlungsweisen hinten an zu stellen und anderen Menschen Gutes zu tun. Hilfe ist im christlichen Sinne also dem Beispiel Jesu angelehnt und geschieht in der Absicht, im eigenen Denken und Handeln ihm ähnlicher zu werden. Doch auch wenn sich diese Lebensweise auf das Helfen auswirkt, dann kann man nicht unbedingt von rein altruistischer Hilfe sprechen. Denn Jesus verspricht allen Christen, die an ihn glau­ben und nach seinem Vorbild handeln, das ewige Leben. Gute Taten werden also doch vergolten. Die Christen glauben zwar nicht, dass diese Vergeltung durch eine konkrete Gegenleistung durch den Hilfeempfänger geschieht, aber Jesus verspricht ihnen in der Bibel „das ewige Leben“.[60]

Weitgehend lässt sich am Beispiel der christlichen Motivation feststellen, dass es sich hier um ein durchaus bewusstes Motiv der Hilfeleistung handelt. Der christlich motivier­te Helfer hat sich bewusst dafür entschieden nach dem Beispiel Jesu zu leben und an­deren Menschen Gutes zu tun. Was dabei letztlich für ihn „herausspringt“ ist vielleicht nicht das leitende Motiv im Moment der Hilfeleistung, aber es ist durchaus von Bedeu­tung. Es geht nicht um eine reziproke Form der Hilfe. Möglicherweise ist das, was der Helfer investiert zunächst mehr, als das was er in irgendeiner Form zurück erwartet. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass sich der Helfer darüber bewusst ist, dass seine Hilfe einen „guten Sinn“ hat.

[...]


'im Sinne einer besseren Lesbarkeit wird im weiteren Verlauf überwiegend die maskuline Form gewählt. Die Bezeichnung Sozialarbeiter und Helfer, sowie Termini mit gleichen Begriffsinhalten beziehen sich sowohl auf das weibliche als auch auf das männliche Geschlecht und sie stellen in ihrer Verwendung kei - ne Diskriminierung dar.

[2] Auch wenn ab diesem Kapitel Synonyme wie „Helfer“ oder „Berufshelfer“ verwendet werden und die dargestellten Theorien sich auf alle Berufshelfer beziehen, soll die Soziale Arbeit stets im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.

[3] Luhmann 1973 in Otto/Schneider 1973, S. 21

[4] Ebd., S. 22

[5] Vgl. Luhmann 1973 inOtto/Schneider 1973, S.23

[6] Bierhoff 1990, S. 9

[7] Hunt 1990, S. 16

[8] Esser 2000,S.365

[9] Müller 2002 in von Spiegel 2006, S. 67

[10] Von Spiegel 2006,S.67

[11] Vgl. Baum 1996, S. 17

[12] Möller 1998-2011, o. S.

[13] Vgl.ebd., 30.04.11

[14] Eisenmann 2006, S. 40

[15] Baum 1996 in Eisenmann 2006, S. 44

[16] Eisenmann 2006, S. 44

[17] Ebd., S.44

[18] GG Art. 1, S. 1 in Stascheit 2008, S. 18

[19] Vgl. Elberfelder Übersetzung 2000, Gen. 1 (27), S. 2

[20] Vgl. Reiter 2004, o .S.

[21] Ebd., o. S.

[22] Vgl. ebd., o. S.

[23] Lambers 2010, S. 26

[24] Vgl.ebd., S.26f.

[25] Vgl. Lambers 2010, S. 30

[26] Vgl.ebd., S.31ff.

[27] Vgl.ebd., S.37f.

[28] Lambers 2010, S. 38

[29] Luhmann 1973 in Otto/Schneider 1973, S. 28

[30] Vgl. Lambers 2010, S. 40

[31] Vgl.ebd., S.40f.

[32] Vgl.ebd., S. 40 f.

[33] Ebd., S. 41

[34] Vgl. Lambers 2010, S. 103 f.

[35] Ebd., S. 104

[36] Vgl. BVerfGE 1970, 28 [324], 348 ff.

[37] Lambers2010, S. 105

[38] Vgl. Lambers 2010, S. 228 f.

[39] Schilling/ Zeller 2007, S. 197

[40] Vgl. Schilling/ Zeller 2007, S. 201

[41] Ebd.,S.208

[42] Vgl. ebd., S. 264

[43] Vgl. Lambers 2010, S. 249 ff.

[44] Von Spiegel 2006,S.67

[45] Vgl. von Spiegel 2006, S. 67 f.

[46] Ebd., S. 67

[47] Möller 1998-2011, o. S.

[48] Mührel 2008,S.116

[49] Vgl. ebd., S. 116 f.

[50] Vgl. Studer 2006, S. 7

[51] Vgl. Boeree 2006, S. 4

[52] Vgl. Fromm 2008, S. 19

[53] Ebd., S. 19

[54] Vgl. ebd., S. 20 ff.

[55] Fromm2008,S.31f.

[56] Vgl. Elberfelder Übersetzung 2000, Lk 10 (25-37), S. 95

[57] Vgl. Hunt 1992, S. 20

[58] Vgl. Elberfelder Übersetzung 2000, Joh. 19, S. 150 ff.

[59] Hunt 1992, S. 20

[60] Vgl. Elberfelder Übersetzung 2000, Joh. 6 (47), S. 131

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Helfersyndrom und Soziale Arbeit
Untertitel
Zur Produktivität bzw. Kontraproduktivität des Helfens
Hochschule
Hochschule Emden/Leer
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
82
Katalognummer
V184767
ISBN (eBook)
9783656097945
ISBN (Buch)
9783656098249
Dateigröße
850 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Helfen, Helfersyndrom, Motivation, Selbsthilfe
Arbeit zitieren
Laura Podorf (Autor:in), 2011, Helfersyndrom und Soziale Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/184767

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