Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Vorbetrachtungen
2.1 Was ist Sünde?
2.2 Was ist Gnade?
3. Wiligis & Sibylla - Bereiter des Untergangs
4. Gregorius - Durch Buße aus der Sünde
4.1 Eine Kindheit in Unwissenheit und Ahnung
4.2 „Ein Jüngling, der auszieht [ ]“
4.3 Buße als Murmeltier
4.4 Der Erwählte
5. Abschließende Betrachtung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Wie stehe ich eigentlich zu Inzest? Diese Frage sollte sich der Rezipient vor dem Zu-Gemüte-Führen des „Erwählten“ stellen. Ist es verwerflich? Ist es natürlich? Was ist natürlich? Etwa alles, was die Natur zulässt? Und dann frage ich denselben Rezipienten noch einmal nach der Lektüre des „Erwählten“. Wie stehen Sie zu Inzest? Er wird ins Stocken kommen, länger überlegen müssen als vorher. Ist Inzest verzeihbar? Sicher nicht, es ist eine Sünde. Doch kann der Sünder begnadigt werden? Und wenn ja, wie?
Im Folgenden möchte ich eine kritische Auseinandersetzung über die Mann’sche Idee von Sünde und Gnade im „Erwählten“ darlegen, die einen zentralen Aspekt im Werk Thomas Manns ausmacht und sich in besonderem Maße in der „Josephus-Trilogie“ sowie dem unmittelbar vorher verfassten „Doktor Faustus“ wiederfinden lässt.
2. Vorbetrachtungen
2.1 Was ist Sünde?
„‚Sünde‛ bezeichnet von Anfang an einen Begriff der christlichen Kirche, nämlich die Übertretung eines göttlichen Gebotes. Etwa seit dem 16. Jh. bedeutet es im Dt. auch allgemein ‚Übertretung des Sittengesetzes‛, in der Neuzeit (18. Jh.) kann es auch ohne besondere Wertung im Sinne von ‚Fehler, Irrtum, Torheit‛ stehen.“1 Sicher kommen in vorliegendem Fall viele Sündenfälle zusammen, dennoch ist hier der religiöse hervorzuheben. Sünde ist also alles, was vor Gott nicht besteht, was eine Abkehr von Gott bedeutet, zu der alle hingezogen werden, die aber durch Gnade und Sühne aufgehoben werden kann. Bei Luther, an dem sich Mann stark orientierte, kam die These hinzu, dass der Sünder nicht aufgrund einer Sündentat Sünder ist, sondern eben weil er Sünder ist. Sünde ist also Erbsünde.2
2.1 Was ist Gnade?
Gnade hingegen stammt vom ahd. gin ā da , was so viel wie Hilfe oder Erbarmen, auch hier in göttlicher Hinsicht, bedeutet. Das Wort ist bis heute vor allem christlich bestimmt, weltlich ist es im Sinne von Schonung gegenüber Unterlegenen gebräuchlich, was wahrscheinlich bereits von den Germanen herrührt.3 Da wir hier primär den römisch-katholischen Aspekt betrachten, muss von Gnade als Angebot, ja sogar Selbstentäußerung Gottes zum Erlangen der Erlösung die Rede sein. Eine Todsünde kann jedoch Gnade aufheben und kann nur durch Buße beglichen werden, die meist untrennbar mit der Gnade einhergeht. Buße ist stets ein Akt, der zur religiösen Entledigung schwerer Sünden dient.4 Luther wiederum versteht Buße weniger als Strafe, sondern vielmehr als inneren Akt der Zuwendung hin zu Gott und Abwendung von der Sünde.5
3. Wiligis & Sibylla - Bereiter des Untergangs
Bereits bei der Geburt der Zwillinge wird man auf eine Fremdartigkeit6 hingewiesen. Die kurz darauf folgende Begrifflichkeit „Wickelkinder des Todes“7 lässt sich zwar auf den durch die Geburt ausgelösten Tod der Mutter projizieren, gibt aber auch schon Anlass zur Vermutung einer auf den Kinderschultern lastenden Schuld, wenngleich ungewollt und unbewusst. Die Sünde der Kinder reicht noch nicht aus, um das Gleichnis, das die Erzählinstanz Clemens der Ire anbringt, von Wiligis als „Heidengott“8 zu rechtfertigen. Aber bereits kurz darauf will Sibylla jeder Frau, die ihrem Bruder zu nahe kommt, die Augen auskratzen.9 Eine Hauptsünde hat sich damit angekündigt: Ebenbürtigkeitswonne, also der Hochmut der Geschwister, keinen außer sich selbst als rein anzuerkennen und dementsprechend zu erwählen. Diesen Narzissmus hatte Thomas Mann bei seinen Sigmund-Freud-Studien kennen gelernt. Er besagt, dass die Libido jedes Menschen ursprünglich auf sich selbst gerichtet ist und erst im Laufe der Entwicklung auch auf Objekte gerichtet wird. Wenn diese Lustentwicklung jedoch gestört ist, führt das zu einem gesteigerten Narzissmus. Wiligis und Sibylla sehen also in dem anderen das eigene Ich, was durch den Ödipus-Komplex beschrieben wird, der sich hier nur geschwisterlich auswirken kann, da die Mutter tot und der Vater nur einmal täglich zu sehen ist. Die Kälte des Vaters gegenüber seinem Sohn und die Liebe gegenüber Sibylla lösen in Wiligis noch zusätzlich ödipale Bestrebungen aus, da dadurch Hass und Konkurrenzgefühle erzeugt werden, was unter anderem in Wiligis‘ Schreckenstraum zur Geltung kommt.10 Dass seine Liebe zur Tochter Sünde war, erkennt Grimald bei seinem Tod, bezeichnet dies als „Heikligkeit“, und wirft sich vor, ihr keinen „ebenbürtigen Gemahl“ gefunden zu haben.11 Doch wem soll dieser ebenbürtig sein? Wohl weniger Sibylla als vielmehr ihm selbst! Der erste große Schritt der ödipalen Sünde liegt also im Tod des Vaters, der zwar nicht durch die Hand des Sohnes, wohl aber gemäß dessen Wunsch starb.12 Als Wiligis „[ ] erregt von seines Vaters Tode und dem eigenen Leben [ ]“13 noch in der Todesnacht nackt zu Sibylla ins Bett steigt, liegt der Hund Hanegiff zwischen ihnen und versucht, sie von Schlimmerem abzuhalten. Wiligis sieht in ihm wohl den Vater, dessen Rolle als Wächter er ja auch übernimmt, und tötet ihn stellvertretend. Satans Lust büßend, wie der Erzähler Clemens schreibt14, versündigen sich die beiden auch in weltlicher und nachweisbarer Hinsicht. Und so verlangen sie auch „weltliche Weisung [ ] dringlicher als pfäffische.“15 Herr Eisengrein, der von den beiden nach Erkennen der Schwangerschaft viel emotionaler empfangen wird als es der Vater je wäre, soll einen Ersatzvater darstellen, zwar auch ungemocht, aber dennoch respektiert, zumal Wiligis und Sibylla die sündige Ausweglosigkeit ihrer Situation erkannt haben und damit empfänglich für jede Art der Buße sind, die sie abliefern müssen, um ihre Sünden auszugleichen und irgendwann Gnade gewährt zu bekommen. Wiligis wird selbige nicht gewährt, zumindest nicht mehr zu Lebzeiten. Ob des Vorsatzes und der Initiierung der Todsünde kehrt er tot von der Fahrt zum Heiligen Grab zurück. Angekündigt wird dies bereits, als Herr Eisengrein seine Lösung präsentiert.16 Sibyllas Buße besteht interessanterweise nicht in der kirchlichen Ansicht, allen Hab und Guts zu entsagen und sich in Askese zu üben, sondern darin, durch ihren weltlichen Besitz die Sünden abzutragen. Bevor sie damit beginnen kann, muss sie aber erst einmal das Kind gebären, das noch ungeboren ob des Luther‘schen Gesetzes der Erbsünde schon voll von selbiger ist. Hier setzt jedoch auch Manns These der inzestuösen Auserwähltheit an, die zusammen mit der Sünde die Möglichkeit für die Eröffnung des Gnadenthemas liefert. Begründet liegt diese Annahme vor allem in mythologischen Abhandlungen, die Mann dazu gelesen hatte und die Inzest als „[ ] ein Vorrecht von Göttern und Königen [ ]“17 darstellen. Mann konstruiert also eine weitere Bedeutungsebene mythischer Art, die ich hier jedoch unerklärt lassen will und muss.
4. Gregorius - Durch Buße aus der Sünde
4.1 Eine Kindheit in Unwissenheit und Ahnung
Frau Eisengrein spricht kurz vor der Aussetzung des Kindes aus, was durch die Erbsünde unabdinglich ist: Das Kind wird die Sünde seiner Eltern abbüßen müssen, damit alle drei die Erlösung finden.18 Nach dem Tod des Vaters wird das umso schwieriger - kein leichtes Unterfangen. Mann spielt hier wieder mit sprechenden Namen und lässt das Kind auf eine Insel mit einem Kloster gelangen, das Agonia Dei - Not Gottes - heißt.
[...]
1 Wermke, Matthias u.a. (Hrsg.): Sünde. In: Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim u.a. 42007, S. 830.
2 Lommatzsch, Sabine: Thomas Mann: Der Erwählte. Stoffgeschichte und Gnadenthema. München, Ravensburg 11994, S. 20 f.
3 Wermke, S. 282.
4 Buße als Sakrament beinhaltet Reue (contritio bzw. attritio), Beichte (confessio), Lossprechung (absolutio) und Genugtuung (satisfactio)
5 Lommatzsch, S. 18 f.
6 Mann, Thomas: Der Erwählte. Frankfurt am Main 282008, S. 17.
7 Ebd.
8 Ebd., S. 21.
9 Ebd.
10 Ebd., S. 29.
11 Ebd., S. 32.
12 Makoschey, Klaus: Quellenkritische Untersuchungen zum Spätwerk Thomas Manns: »Joseph, der Ernährer«, »Das Gesetz«, »Der Erwählte«. Hrsg. v. Thomas-Mann-Archiv der eidgenössischen technischen Hochschule in Zürich. Frankfurt am Main 1998 (Thomas- Mann-Studien, Bd. 17), S. 178 f.: Zum Ödipus-Komplex kommt laut Makoschey noch der korrespondierende Kastrationskomplex hinzu, der Penisangst beim Mann und Penisneid bei der Frau beinhaltet. Auch hier sind viele Anspielungen Manns im „Erwählten“ ersichtlich.
13 Mann, S. 33.
14 Ebd., S. 35.
15 Ebd., S. 40.
16 Vgl. ebd., S. 43.
17 Lommatzsch, S. 10.
18 Mann, S. 54.