Gelebtes und fiktives Außenseitertum - Der Mensch und Autor Arno Schmidt und seine literarischen Alter Egos


Wissenschaftliche Studie, 2012

27 Seiten


Leseprobe


Gelebtes und fiktives Außenseitertum - Der Mensch und Autor Arno Schmidt und seine literarischen Alter Egos

Einleitung

"Ich war eigentlich immer Einzelgänger gewesen!"[1]

"Ich finde Niemanden, der so häufig recht hätte, wie ich!"[2]

Der Mensch Arno Schmidt

Arno Schmidt galt zeitlebens als schwieriger Mensch. Viele hielten ihn für einen eigensinnigen Egozentriker und weltfremden Eigenbrötler. Er hatte den Ruf eines starrköpfigen Sonderlings, eines besserwisserischen Einzelgängers und widerborstigen Menschenverachters, der sein selbst verordnetes Außenseitertum bewusst und gezielt kultivierte, dessen rechthaberische Überheblichkeit und aufdringliches Imponiergehabe im Umgang mit anderen Menschen zu seinem unverwechselbaren Markenzeichen geworden war. Sein extremer, offen zur Schau gestellter Individualismus wirkte befremdend. Das Bild von Arno Schmidt, das sich bei vielen seiner Anhänger und Kritiker herauskristallisierte, war das eines unermüdlichen, von einem unbarmherzigen Leistungsethos angetriebenen Vielarbeiters, eines Workaholics, der schonungslos seine Energiereserven ausbeutete und sich ganz und gar in den Dienst einer eigenwilligen Auffassung von Literatur stellte.

Naturwissenschaftlich fundiertes Weltbild

Arno Schmidt war stolz auf seine umfassende, autodidaktisch erworbene Bildung und strebte nach mathematisch-präziser Erfassung der Wirklichkeit. Er erwies sich als intellekt-gesteuerter Solipsist [3], dessen Weltbild durch seine fundierten Kenntnisse in Mathematik und Physik, Astronomie und Astrophysik bestimmt wurde, für den eine moderne Welterkennung nur auf naturwissenschaftlicher Grundlage möglich und der ständig damit beschäftigt war, seine Wahrnehmungen und Beobachtungen von der Welt bis ins kleinste Detail hinein mit akribischer Gewissenhaftigkeit zu notieren, zu sammeln, zu ordnen und zu katalogisieren.

Der typische Arno-Schmidt-Protagonist

Diese Sammelwut des Autors Arno Schmidt führte zu den gigantischen Anhäufungen von Assoziationen, Anspielungen, Zitaten, Bemerkungen, Kommentaren, Einschüben und Ergänzungen, die er in seine Werke eingearbeitet hat. Kein Wunder also, dass die ständig wiederkehrende literarische Hauptfigur Arno Schmidts die eines Geometers (Landvermessers) ist, der sich nach topografisch exakt gezeichneten Karten und Plänen orientiert und dessen größte Leidenschaft - man könnte, wie auch beim Autor selbst, von einer Obsession sprechen - alte kartografische Dokumente, historische Planentwürfe, vergilbte Skizzen und statistische Daten sind, die er in angestaubten Folianten literarischer Archive und historischen Staatshandbüchern findet. Diese literarischen Gestalten sind Schlüsselfiguren seines Denkens. Sie repräsentieren einen auf äußerste Genauigkeit und lückenlose Realitätserfassung ausgerichteten, übersteigerten Individualismus, dessen Leidenschaft zum Programm und zur Richtschnur ihres Lebens geworden ist.

Äußere und innere Wirklichkeit und ihre sprachliche Darstellung

Die hochsensible, hellwache intellektuelle Schmidtsche Symbolgestalt entfaltet aber nicht nur herausragende Qualitäten im Erfassen und Verarbeiten der sie umgebenden Wirklichkeit, sondern reflektiert sie in ihrem Bewusstsein und versprachlicht sie in einer ihm eigentümlichen Weise: nicht als kontinuierlich verlaufender, den Gesetzen der Logik gehorchender, klar gegliederter zusammenhängender Denkprozess, sondern als fragmentarisierte, zersplitterte Wahrnehmungspartikel, die unaufhörlich das Bewusstsein als "stream of consciousness" durchqueren. Als Autor verzichtet Arno Schmidt daher auf wohlgeformte, hierarchisch strukturierte Satzgefüge konventionellen Stils und bedient sich eines von ihm selbst entwickelten Verfahrens, mit dem er diese unorganisierten und flüchtigen Bewusstseinsinhalte durch "besondere Anordnung von Prosaelementen" (vgl. hierzu seine Schriften "Berechnungen I und II") abbilden will. Deshalb gibt es bei ihm auch keinen kontinuierlichen Handlungsverlauf nach traditionellem Zuschnitt, vielmehr verwendet er eine für ihn typische Rastertechnik, durch die er die Buchseiten - mit einem nach links herausgerückten, kursiv gedruckten Titel oder Motto - in kurze, komprimierte Bildausschnitte aufteilt, in hochkonzentrierte, spannungsgeladene Momentaufnahmen äußerer und innerer Realitätspartikel, die er "snapshots" nennt. Die literarische Darstellung einer solchen "löchrigen Gegenwart" vollzieht sich auf der Grundlage von Begriffen wie "Erinnerung", "Traum" und "Gedankenspiel", die verdeutlichen, dass es hier um Eindrücke geht, die sich im Bewusstsein und auch im Unterbewusstsein (denn Arno Schmidt hat sich selbstverständlich auch mit Freud beschäftigt) manifestiert haben, (re)aktiviert werden und in die Beschreibung einfließen.

Besonderheiten der Schmidtschen Erzähltechnik und Anforderungen an den Leser

Wenn Zersplitterung und Fragmentarisierung der Realität, Partikularität und Diskontinuität der (un)bewussten Wahrnehmung zu Kriterien für die Versprachlichung werden, bedeutet das eine Reduzierung auf das Wesentliche - Arno Schmidt bezeichnet diesen Vorgang als "Dehydrieren" (vgl. BA Suppl. 1, 269) -, eine Verkürzung und Vereinfachung von Syntax und Grammatik und (um einen verwandten Begriff aus der Malerei zu verwenden) eine pointillistische Darstellungsweise, aus der sich nach und nach durch aufmerksames, reflektierendes Lesen Muster herausschälen lassen, die dem Leser das eine oder andere Aha-Erlebnis vermitteln und zu vielfältig miteinander assoziierten und vernetzten, kaleidoskopartigen Eindrücken führen können.

Authentizität der Versprachlichung

Die Versprachlichung muss außerdem absolut authentisch sein, d. h. sie muss sich an den Vorgaben orientieren, die von den Repräsentanten einer jeweiligen regionalen und sozialen Umgebung tatsächlich verwendet werden. Daher werden regionale Sprechweisen, Soziolekte, Dialekte (Mundarten), fremdsprachliche Wörter und Wendungen (Arno Schmidt war auch Übersetzer!), Verlegenheitsfloskeln und Interjektionen der gesprochenen Sprache sowie Satzzeichen, Ziffern und Chiffren der geschriebenen Sprache als konstitutive Elemente in den Text eingebaut, wodurch der Autor wohl nicht unbeabsichtigt einen Verrätselungseffekt erzielt und dem Leser indirekt eine Dechiffrieranweisung erteilt. Auch die Schreibweise (Rechtschreibung) wird diesem Verfahren angepasst, um die "befremdliche Ausdrucksweise" eines jeweiligen Sprechers "fonetisch getreu widerzugeben [sic]" ("Ländliche Erzählungen" LEZ , BA I/3, 401), obwohl - wie der Autor einem seiner vielen literarischen Alter Egos in den Mund legt - "mich dies nicht geringe Überwindung kostet, und [daran kann kein Zweifel bestehen] an die Leserschaft eine ausgesprochene Zumutung darstellt." (ebd.) Es geht um nichts Geringeres als die "Wahrheit über alles" (ebd.), und das heißt für Arno Schmidt: So realitätsgetreu wie möglich.

Dualismus: Individuum und Gesellschaft

In einer Gesellschaft, die von ahnungslosem, kleinkarierten Spießertum beherrscht wird, in der sich gedankenlose Durchschnittsbürger und Banausen breitmachen, sieht sich der intellektuelle, kritisch reflektierende, sensible Einzelgänger als zentrale Figur genötigt, eine Art Doppelleben zu führen. Er taucht beispielsweise wie Walter Eggers im "Steinernen Herzen" in einem kleinbürgerlichen Familienleben unter, geht in die innere Emigration, flüchtet in ein imaginiertes Inseldasein (wie Heinrich Düring in "Aus dem Leben eines Fauns") und erlebt sogar im Gefängnis, als Ort völliger Isolierung von der menschlichen Gesellschaft, einen Zustand geistig-seelischer Befreiung (wie der greise Pytheas von Massilia in der Erzählung mit dem bezeichnenden Titel "Gadir oder Erkenne dich selbst").

In Arno Schmidts frühen Erzählungen bis etwa Mitte der Fünfziger Jahre wird - vereinfacht formuliert - eine sich wiederholende Grundsituation in abgewandelter Form, in wechselnden Zeiträumen - Vergangenheit (Antike), Gegenwart und Zukunft - und Schauplätzen literarisch verarbeitet, in deren Mittelpunkt das entfremdete, denkende, seiner Umgebung weit überlegene, scharfsinnig analysierende und urteilende Individuum sich der verständnislosen, satten Zufriedenheit und Uniformität und der hohlen Geschäftigkeit einer unverbesserlichen Kleinbürgermentalität gegenüber sieht. Das Individuum durchschaut dies alles, geht in Distanz dazu, lässt es mit ironischem Achselzucken an sich ablaufen, kommentiert es mit zynischen Bemerkungen, polemisiert und verhöhnt, aber es bleibt auf sich allein gestellt, schließt sich keinen Gruppierungen und Organisationen an und setzt sich nicht aktiv für eine Änderung der Verhältnisse ein.

Skeptizismus, Geschichtspessimismus, Pazifismus und Atheismus

Arno Schmidts illusionsloser, die menschliche Gesellschaft betreffender Skeptizismus, sein historischer Pessimismus angesichts zweier katastrophaler Weltkriege mit zig Millionen unschuldiger Opfer, sein unerschütterlicher Pazifismus und seine kompromisslose Verurteilung von Christentum und christlicher Kirche, gegen deren Unterdrückung, Grausamkeit, vermeintliche Dummheit und Lernunfähgkeit er höhnisch polemisiert (vgl. sein Essay "Atheist?: Allerdings!"). Er gönnt sich und seinen Protagonisten keine Sentimentalitäten, keine Trauer oder Melancholie, keine gefühlsbetonte Naturschwärmerei. Eine die sinnlich erfahr- und erfassbare transzendierende Wirklichkeit und jede überhöhende religiöse Sinndeutung wird rigoros abgelehnt. Das Schicksal der Menschheit und des Einzelnen in der Gesellschaft bedarf keiner mitfühlenden Empathie und lässt auch nicht den Humor eines Weisen zu, der über den Dingen steht und verständnisvoll die menschlichen Torheiten belächelt. Arno Schmidt reagiert mit Sarkasmus und bitterer Ironie auf scheinbar unüberwindliche Barrieren auf dem Wege zu Weiterentwicklung und Fortschritt.

Opposition als Lebensmaxime

In dem Bewusstsein, sich eine Haltung der Opposition zur Lebensmaxime gemacht zu haben, in dem zwanghaften Bedürfnis, ständig Missstände und Unzulänglichkeiten anprangern und unablässig aufklärerisch tätig sein zu müssen, steckt eine wichtige Triebfeder seines rast- und ruhelosen literarischen Schaffensprozesses. Selbstironisch karikiert er seinen Namensvetter, der als erfolgloser Schriftstellerkollege in seinen "Ländlichen Erzählungen" auftaucht, als "Dagegen=Schmidt" (BA I/3, 499) und als ein literarisches Pendant, das "prinzipiell in der Opposition" ist. (ebd. 451) "Es kann schließlich nicht Jeder Schmidt heißen", sagt ein anderes Alter Ego von Arno Schmidt mit unverkennbarem Stolz und einer gewissen Selbstgefälligkeit, während es sich bemüht, einen widerspenstigen William-Faulkner-Übersetzer, den es "nach längerer Irrfahrt" (BA I/3, 402) in einem abgelegenen "Weiler" ausfindig gemacht hat, zu interviewen. Der Leser wundert sich wenig, dass auch dieser ganz zurückgezogen lebende Übersetzer ausgesprochen Schmidtsche Züge aufweist. Der Hausherr nimmt seinen Besucher gar nicht zur Kenntnis, besprüht vielmehr seinen ungepflegten Rasen mit einem Wasserschlauch, mustert ihn kurz darauf "muffig & tückisch" und schaut dann demonstrativ zur Seite, "wie wenn er hoffte, daß ich [der Besucher] mich nunmehr entfernen würde." (ebd. 403) Das ist eigentlich fast keine Karikatur mehr, sondern eher Arno Schmidt im Original, wie er leibt und lebt.

Kritische Reaktionen der Leser und Rezensenten

Daher nimmt es nicht wunder, dass Arno Schmidts Leserschaft gespalten ist. Einige Kritiker werfen ihm massiv Unfähigkeit und Versagen als ernstzunehmender Autor vor, beschuldigen ihn der Scharlatanerie und der Verwendung sprachlicher Ausdrucksformen, die sie - wie Hans Habe - als "wirres, ekles Gestammel" bezeichnen, "ein pathologisches Gekritzel [...], ein Stenogramm aus dem Irrenhause". (Hans-Michael Bock (Hrsg): Rezensionen vom 'Leviathan' bis zur 'Julia'. Zürich 1984, S. 63) Noch heftiger fällt die Kritik des ehemaligen Mitherausgebers der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Karl Korn, aus, der Schmidts Schreibtechnik mit der Arbeit eines Menschen vergleicht, der "die Gullydeckel der Massenzivilisation aufmacht und den Gestank an die Oberfläche lässt." Schmidt sei "vulgär bis zum Exzeß", er "schwimmt im trübsten Schmutzwasser, beständig rührt er sexuellen Schlamm auf. Es gibt kein Tabu, das ihm gälte." (zitiert aus "Spiegel" Nr. 20 vom 13.05.1959, Seite 48) Ob solcherlei Anwürfe die kritische Auseinandersetzung mit Schmidts Texten fördern können, sei dahingestellt. Zweifellos hat der Autor selbst durch seine bereits beschriebenen persönlichen Eigenarten und die seiner literarischen Hauptfiguren seine Leserschaft polarisiert.

Unterscheidung von biografischem und literarischem Ich

Bei der Analyse und Beurteilung seiner Texte gilt es jedoch, literarisches und biografisches Ich nicht einfach gleichzusetzen, sondern - soweit dies möglich und von ihm auch beabsichtigt ist - säuberlich voneinander zu trennen, gerade dann, wenn - wie die eingangs aufgeführten Ich-Aussagen zweier seiner Protagonisten zeigen - bestimmte Formulierungen ihm geradezu auf den Leib geschneidert zu sein scheinen. Nur durch die Vermeidung einer solchen Gleichsetzung und eine genaue Überprüfung der Figuren im jeweiligen Textzusammenhang treten Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen Arno Schmidt und seinen literarischen Alter Egos deutlich hervor und können dann einer gezielten Beurteilung unterzogen werden.

Verhüllung des biografischen Ichs

In seiner Rezension der Erzählung "Leviathan" (der ersten Veröffentlichung Arno Schmidts im September 1949) bezeichnet Walter Jens den Autor als einen Mann, "der sich für ein Genie hält und sich so gebärdet" und als ein "großes Talent, dem man ein wenig Maß und Bescheidenheit wünscht". (Hans-Michael Bock (Hrsg), op. cit., Seite 18) Diese Einschätzung beschreibt treffend das zwiespältige Bild von Arno Schmidt, das sich bei vielen seiner Kritiker und auch in seiner Leserschaft gebildet hatte. Sie kann als Richtschnur dienen, wenn man dem Autor mit Augenmaß begegnen und seine persönlichen Eigenarten nicht zum Maßstab der Beurteilung seiner literarischen Qualitäten machen will. Freilich ist es unübersehbar - das kann an dieser Stelle schon zusammenfassend gesagt werden -, dass seine literarischen Alter Egos ausgesprochen Arno-Schmidt-typische Züge aufweisen. Diese im einzelnen zu untersuchen und herauszuarbeiten, ist ein Anliegen dieser Arbeit.

Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie man sich einem Autor nähern kann, der sein Eigenleben so perfekt und konsequent gegen die Außenwelt abgeschirmt hat und der seine Leser auffordert:

Und versuchen Sie bitte nicht, meine Bekanntschaft zu machen; ich würde Sie äußerlich und auch im Auftreten enttäuschen; das Beste was ich bin und habe, gebe ich Ihnen ohnedies nach mancher Arbeit konzentriert und gereinigt in meinen Büchern: Der Mensch Schmidt ist von diesen nur eine Verwässerung, die Sie sich klug ersparen sollten. ("An den Leser!", BA III/3, 48).

Offensichtlich ist Arno Schmidt daran gelegen, sein biografisches Ich vor den Augen seiner Leser nicht allzu sehr auszubreiten, es vielmehr bedeckt zu halten. Aber in diesem Punkte - wie auch in vielen anderen - zeigt er sich durchaus widersprüchlich, denn an anderer Stelle schreibt er, "daß ein Autor selbstverständlich größere Teile seiner Persönlichkeit in seinen Büchern deponiert", wenn auch "niemals 100=%ig!" ("Essay über das Tagebuch", BA III/4, 392) Begeben wir uns also auf Spurensuche und machen wir uns daran - entgegen seiner Aufforderung - einige "Teile seiner Persönlichkeit" in seiner Biografie und in seinen Büchern zu entdecken.

Der Mensch Arno Schmidt - Versuch einer "Bekanntschaft"

Michael M. Schardt hat einen solchen biografischen Annäherungsversuch unternommen (vgl. "Arno Schmidt - eine biografische Annäherung", in: Schardt und Vollmer, 15 - 61). Trotz der "Unnahbarkeit des Schmidtschen Habitus", konstatiert er "autobiografische Einsprengsel" (ebd. 17), die sich über sein ganzes Werk verteilen. Allerdings weist er einschränkend darauf hin, dass es sich bei Arno Schmidts Protagonisten um literarische Kunstfiguren handelt, die zwar einem realen Vorbild nachgezeichnet seien, bei denen sich aber eine Gleichsetzung verbiete und zu einem oberflächlichen, vordergründigen Pseudoverständnis dieser Figuren und zu fehlerhaften Rückschlüssen auf die Person des Autors führen würde. Mit dieser Problematik wird sich der letzte Teil dieser Untersuchung noch eingehender beschäftigen.

Schwierige Kindheit

Hier geht es darum, sich einer Reihe von Quellen zuzuwenden, die nicht nur "biografische Einsprengsel" liefern, sondern unmittelbare Einblicke in Arno Schmidts Biografie gestatten und Erklärungen für die Entwicklung der eingangs beschriebenen Persönlichkeitsmerkmale anbieten können. "Mein Leben ist kein Kontinuum!" lässt der Autor seinen Protagonisten Heinrich Düring im "Leben eines Fauns" sagen. Es ist "in weiß und schwarze Stücke zerbrochen!" Es ist "ein Tablett voll glitzernder snapshots." (BA I/1, 301) Dies ließe sich auch als Motto der Biografie des Autors Arno Schmidt voranstellen. Durch ihn erfahren wir von der kleinbürgerlichen, muffigen Enge seines Elternhauses, vom Vegitieren in drangvoller Enge, von Gefühlen der Einsamkeit, Isoliertheit und Abgesperrtheit von der Außenwelt, vom frühen Lesenlernen als Drei- und Vierjähriger unter der Anleitung seiner älteren Schwester Luzie, von der Gängelung durch Klassenkameraden und von seiner Schüchternheit, aber auch von seiner Belesenheit und seiner demonstrativ zur Schau gestellten geistigen Überlegenheit, seiner frühen Naturverbundenheit und ausgeprägten Vorliebe für ein Leben im Flachland. Er verstand sich als Autodidakt und schämte sich wegen des niedrigen Bildungsniveaus des eigenen Elternhauses. Aus der Enge der elterlichen Wohnung flüchtete er sich in die Literatur, während sein Vater sich dem Suff und seinen Frauengeschichten hingab und die Mutter beim Stricken Courths-Maler-Romane und sonstigen Kitsch verschlang. (Vgl. hierzu Schardt und Vollmer 17 - 25) Und so schaffte er sich als Kind eine Gegenwelt zur Welt der Erwachsenen, eine Welt der Bücher, der Fantasie und der belebten Natur, so wie er sie in seiner Erzählung "Der Rebell" in geradezu lyrischen Stimmungsbildern beschreibt:

Frühling war es im März, wenn ein unmündiger blühender Wind eilig über den hellblauen Himmel sprang, und es zuweilen noch dicken weichen Schnee aus grauenden Wolken blies oder schüttete. Frühling war es im hellgrünen Mai, dessen Name wie ein zärtlicher Schrei war, bei dem man an schlanke Leute in spitzen bebänderten Hüten denken mußte.

(BA I/4, 362)

Für seine Eltern fand er kaum verständnisvolle Worte, distanzierte sich vielmehr vehement von ihrer als ordinär empfundenen Mentalität und Lebensweise:

... meine Mutter ist zeitlebens von abstoßendster 'Unechtheit' gewesen , ich habe eigentlich keinen Menschen kennen gelernt, der in gleichem Maße mit kleinen Verlogenheiten und verblasenen Gefühlchen hausieren gegangen wäre; (mein Vater war weit

realistischer; obschon leider nur auf den niedrigsten Gebieten des Alltags.)

(Reemtsma und Rauschenbach 18)

Schulzeit in Görlitz und Freundschaft mit Heinz Jerofsky

Nach dem frühen Tod seines Vaters 1928 zieht die Familie aus Hamburg nach Lauban in die schlesische Heimat seiner Mutter, wo er in Görlitz die Oberrealschule besucht und seinen Jugendfreund Heinz Jerofsky kennenlernt, mit dem er sich über Jahre hinweg verbunden fühlt und dem er viele Briefe schreibt. Aber die Sichtweisen der beiden, den jeweiligen Freund betreffend, sind unterschiedlich. Heinz Jerofsky erlebt sich in seinen "Erinnerungen" (vgl. Reemtsma und Rauschenbach 29 ff.) als jemand, der bei Arno Schmidts "Meditationen über Kant, Hegel, Schopenhauer und Nietzsche nicht mithalten" kann, der trotz seiner "Ignoranz" aber merkt: "Offenbar brauchte er einen Zuhörer." (ebd. 32) Diesen Zuhörer fand er damals in seinem Freund Heinz Jerofsky, später findet er ihn in seiner Frau und in einigen anderen der wenigen "Freunde", die er an sich heranlässt. Jerofsky sieht sich mit einer weiteren Eigenart seines Freundes konfrontiert, von der auch spätere Arno-Schmidt-Kenner berichten: der Neigung, andere für sich einzuspannen und ihm bei der Beschaffung wichtiger Informationen für seine Arbeit behilflich zu sein. Für seine geplante Fouqué-Biografie [4] lässt er seinen Freund wertvolle Recherchen durchführen: "In der Deutschen Bücherei in Leipzig konnte ich nach seinen Angaben umfangreiche Texte exzerpieren" (ebd. 51), obwohl er sich nicht anmaßt, "ihm, was Kenntnis der Literatur und vieles andere betrifft, auch nur das Wasser reichen zu können." (ebd. 51) Als sich Arnold Schmidt 1958 in sein Einsiedlerleben nach Bargfeld zurückzieht, wird der Briefwechsel mit seinem Freund offensichtlich zu einer "Zeitverschwendung" (ebd.) und versickert schließlich im Sande.

[...]

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Details

Titel
Gelebtes und fiktives Außenseitertum - Der Mensch und Autor Arno Schmidt und seine literarischen Alter Egos
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Zentrale Einrichtung für Lehre, Studium und Weiterbildung)
Autor
Jahr
2012
Seiten
27
Katalognummer
V185026
ISBN (eBook)
9783656098584
ISBN (Buch)
9783656098409
Dateigröße
481 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gelebtes, außenseitertum, mensch, autor, arno, schmidt, alter, egos
Arbeit zitieren
Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2012, Gelebtes und fiktives Außenseitertum - Der Mensch und Autor Arno Schmidt und seine literarischen Alter Egos, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185026

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