Autismustherapien - Grundhaltungen in der psychotherapeutischen Praxis im Zusammenhang mit der Therapie von autistischen Kindern und Jugendlichen


Diplomarbeit, 1998

116 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt:

Einleitung

I. Theorie:
1. Zur Ätiologie der autistischen Störung
1.1. Geschichtlicher Überblick
1.2. Die verschiedenen Verursachungstheorien
2. Was ist Autismus?
2.1. Die diagnostischen Kriterien
2.2. Der Kanner’sche Autismus und das Asperger Syndrom
2.3. Die Gefahren einer rein klinisch-diagnostischen Perspektive
2.4. Das Erscheinungsbild aus der Sichtweise der Betroffenen
3. Die Autismustherapie

II. Methoden:
1. Die Wahl des Forschungsparadigmas
1.1. Das qualitative und das quantitative Wissenschaftsverständnis
1.2. Die Entscheidung für ein qualitatives Forschungsparadigma
2. Erhebung und Durchführung der Untersuchung
2.1. Das Interview
2.1.1. Das problemzentrierte Interview
2.1.2. Das Expert(inn)eninterview
2.2. Die Interviewpartner(innen)
2.3. Durchführung der Interviews
2.3.1. Probleme bei der Interviewdurchführung
2.4. Das Transkriptionssystem
3. Auswertung der Interviews
3.1. Die Grounded Theory
3.1.1. Die einzelnen Kodierschritte
3.2. Die Analyse des Sprachgebrauchs
3.3. Der Deutungsprozeß in der Forschungswerkstatt
3.4. Probleme bei der Auswertung

III. Ergebnisse:
1. Darstellung der einzelnen Fälle
1. Fall: Frau Fischer
2. Fall: Herr Dr. Hofer
3. Fall: Herr Schall
2. Diskussion

Bibliographie

Einleitung:

Die Zielsetzung dieser Studie besteht in der Darstellung verschiedener therapeutischer Grund-haltungen in der Psychotherapie für autistische Kinder und Jugendliche. Die Untersuchung beinhaltet zwei zusammenhängende Themenbereiche. Einerseits werden die den befragten Psychotherapeut(inn)en inhärenten Grundeinstellungen bezüglich ihrer Arbeit erörtert, andererseits werden die Auswirkungen dieser Einstellungen auf die Interpretation und Wertung der autistischen Störung herausgearbeitet.

Mein Interesse an den verschiedenen Facetten psychotherapeutischer Arbeit besteht seit Beginn des Psychologiestudiums. Konfrontiert mit unterschiedlichsten Ansätzen, die für sich meist Allgemeingültigkeit - im Sinne einer standardisierten Herangehensweise an alle Klient(inn)en - beanspruchen, hatte ich seitdem das Bedürfnis, mich selbst in diesem „Dschungel der Therapieformen“ zu positionieren. Mit zunehmender Erfahrung auf diesem Gebiet stellte ich jedoch fest, daß sich die praktische Arbeit weniger durch das schulengetreue Ausüben bestimmter Theorien und Methoden charakterisiert. Vielmehr scheinen sich die Therapeu-t(inn)en gemäß ihrer spezifischen Grundhaltungen eine individuelle therapeutische Vorgehens-weise anzueignen, die mehr oder minder durch eine oder mehrere theoretische Schulen geprägt ist. Somit begab ich mich auf die Suche nach der idealen Grundeinstellung. Ich mußte jedoch feststellen, daß ich hiermit selbst einem Absolutheitsanspruch verfallen war und aufgrund meiner subjektiven Betrachtungsweise gewisse Aspekte vernachläßigte. So differenzierte ich meinen Wunsch nach eindeutiger Positionierung und versuchte nun, die unterschiedlichen Grundhaltungen der praktizierenden Psycholog(inn)en hinsichtlich einer idealen Passung zur jeweiligen Grundeinstellung der Klient(inn)en zu kategorisieren.

Während eines Praktikums bei einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin in den U.S.A. betreute ich mehrere Monate lang einen dreizehnjährigen autistischen Jungen. Seitdem wuchsen meine Faszination und mein Interesse am Störungsbild des Autismus, zumal ich meine, bestimmte Symptome auch auf die „gesunde“ Bevölkerung der heutigen, modernen Gesellschaft übertragen zu können. Aus diesen Erfahrungen kristallisierte sich der Berufs-wunsch, als Psychotherapeutin für autistische Kinder und Jugendliche zu arbeiten.

Durch diese Untersuchung möchte ich einen Überblick über die Vielfalt der heterogenen Definitionen der Störungen und Herangehensweisen an sie schaffen.

An dieser Stelle möchte ich den Begriff der „Grundhaltung“ präzisieren. Er wird hier im Sinne individueller, schulenübergreifender therapeutischer Einstellungen verstanden, die auf das explizite und implizite, „selbstverständliche“ Wissen[1] der Psychotherapeut(inn)en Einfluß ausüben. Damit können dem Bewußtsein der handelnden Person bestimmte Aspekte dieser Grundhaltung entgehen. Sie soll hier nicht als konstante und statische Größe betrachtet werden, sondern als ein dynamisches, sich entwickelndes Phänomen, das im wesentlichen aus der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur des Therapeuten bzw. der Therapeutin hervorgeht.

Spezifische Verhaltensweisen lassen sich nur bedingt von Einstellungen als einzigen Handlungs-determinanten ableiten, da unendlich viele Einflußfaktoren auf das Handeln wirken. Als Beispiele sind externe sowie interne situativ variable Bedingungen zu nennen (persönlicher Streß, Arbeitsklima, Tageszeit, etc.), sowie die erhebliche Bedeutung der Person des Klienten bzw. der Klientin (vgl. Bromme 1978, Fietkau 1977).

Durch die Datenerhebung mittels qualitativer Interviews möchte ich das für die Konkreti-sierung von therapeutischen Grundhaltungen erforderliche Datenmaterial erlangen.

Insgesamt umfaßt diese Untersuchung drei große Abschnitte:

Im ersten Kapitel, dem theoretischen Teil, werde ich verschiedene Aspekte der autistischen Störung, sowie ihrer therapeutischen Behandlung darlegen. Zuerst wird der historische Verlauf der „Entdeckung“ des Störungsbildes kurz skizziert, um daraufhin auf die unterschiedlichen Verursachungstheorien näher einzugehen. Anschließend wird der Autismus aus zwei Blick-winkeln beschrieben und erläutert. Die „Außensicht“ der professionellen Welt (oder eines großen Teils von ihr) drückt sich in den offiziellen klinisch-diagnostischen Kriterien aus[2]. Diese wird hier durch die „Innensicht“ autistischer Menschen anhand schriftlicher Äußerungen über ihre Störung ergänzt, um ein besseres Verständnis für diese Betroffenen zu gewährleisten.

Schließlich werden verschiedenartige therapeutische Ansätze kategorisiert und präzisiert.

Im zweiten Kapitel, dem methodischen Teil, wird die Forschungskonzeption dieser Arbeit behandelt. Dort wird zuerst die gewählte Methodik erläutert, woraufhin der Forschungsprozeß durch eine ausführliche Beschreibung des konkreten Handlungsablaufes in der Erhebungs- und Auswertungsphase transparent gemacht werden soll. Das Datenmaterial wurde durch das Führen problemzentrierter Interviews (vgl. Witzel 1985) gewonnen und im wesentlichen mit Hilfe der Grounded Theory (vgl. Strauss & Corbin 1996) ausgewertet.

Im dritten Kapitel werde ich die Ergebnisse der Deutungsarbeit vorstellen und diskutieren. Die einzelnen Fälle werden zunächst getrennt behandelt. Innerhalb der Diskussion werden die Einzelfalldarstellungen im Sinne einer weiterführenden, praxisbezogenen Auseinander-setzung mit den Untersuchungsresultaten verglichen und ansatzweise bewertet.

I. THEORIE

Im folgenden Kapitel wird das Phänomen der autistischen Störung näher beschrieben. Zuerst wird ein grober Überblick über die Entdeckungsgeschichte der Störung und ihre verschiedenen Verursachungstheorien gegeben. Daraufhin wird das Erscheinungsbild des Autismus aus der Außenperspektive der Professionellen und aus der Innensicht der Betroffenen dargestellt, um ein besseres Verständnis für die Besonderheiten des Störungsbildes zu schaffen. Schließlich werden die verschiedenen, für die Störung relevanten therapeutischen Ansätze näher erläutert.

1. Zur Ätiologie der autistischen Störung:

1.1 Geschichtlicher Überblick:

Im Jahre 1911 wurde der Begriff „Autismus“ zum ersten Mal vom Schweizer Psychiater Eugen Bleuler als Begleiterscheinung von Schizophrenie erwähnt (Bleuler 1911). 1943 veröffentlichte der amerikanische Kinderpsychiater L. Kanner seine Untersuchung an elf jungen Patienten und griff in seiner Arbeit „Autistische Störungen des emotionalen Kontaktes“ diese Bezeichnung wieder auf (Kanner 1943). Er nannte dieses neu entdeckte Störungsbild „frühkindlichen Autismus“. Fast gleichzeitig, im Jahre 1944, verfaßte der österreichische Kinderarzt H. Asperger (1944) seine Doktorarbeit, in der er, ebenfalls in Anlehnung an Bleuler, das eigentüm-liche Verhalten einiger seiner Patienten als „autistische Psychopathologie“ definierte (Janetzke 1993, Frith 1989).

Ausführliche Fallschilderungen von Wolfskindern sind aber deutliche Zeichen dafür, daß es die autistische Störung schon lange vor ihrer Entdeckung gab. „Der wilde Junge von Aveyron“ von Itard (Lane 1977) ähnelt in seinen Besonderheiten auffallend den heute als autistisch diagnostizierten Kindern und Jugendlichen (Janetzke 1993, Wing 1973, Frith 1989).

Während Asperger von einer genetisch begründeten Verursachung ausging, glaubte Kanner, daß die Störung psychogen bedingt sei (Sachs 1995, Frith 1989).

In Therapie und Wissenschaft wurde in den achziger Jahren Kanner gegenüber Asperger der Vorzug gegeben (Steindal 1994, Sachs 1995). So wurde die Theorie, Autismus sei eine Ursache von „Eisschrank-Müttern“ (Sachs 1995, S. 343), die unfähig dazu seien, eine tiefe gefühlsmäßige Beziehung zu ihren eigenen Kindern aufzubauen, zunächst allgemein anerkannt. Zu den bekanntesten Vertretern dieses Ansatzes gehören Bettelheim (The Empty Fortress, 1967) und das Ehepaar Tinbergen (Tinbergen & Tinbergen 1972).

Rimland war einer der ersten Vertreter einer biologischen Verursachungstheorie und hatte mit seinem Buch „Infantile Autism. The Syndrome and its Implications for a Neural Theory of Behavior“ (Rimland 1964) großen Einfluß auf die Forschung, die sich nun auf die Suche nach unterschiedlichsten biologischen Defiziten bei autistischen Menschen machte.

Die Störung wurde während der siebziger Jahre von Anhängern der Kognitionspsychologie behandelt. Hermelin und O’Connor (1970) untersuchten die Denkstrukturen autistischer Kinder, und auch Wing (1973) betonte eine allen autistischen Menschen zugrunde liegende, neurologisch bedingte Beeinträchtigung. Diese Diagnose des Autismus als Entwicklungs-störung wird heute weithin geteilt (ICD 10 1994, DSM III-R 1987).

Frith (1989, 1991) präzisierte diese Überlegungen und entwickelte als Erklärungsmuster eine „Theory of the Mind“ (Frith 1989, S. 156). Diese Theorie des Geistes bezieht sich in erster Linie auf die Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen von autistischen Menschen. Ihnen liegt danach unter anderem die Schwierigkeit zugrunde, Sinneseindrücke mit der dazugehörigen Erfahrung zu kombinieren und daraus einen Sinngehalt zu abstrahieren. Aufgrund dessen fehle das Verständnis für Zusammenhänge und Kausalitäten. Dies wird durch Fallstudien, in denen eine erhöhte Aufmerksamkeit der Betroffenen für Details, nicht aber für deren Zusammen-hänge (kausal, kontextuell etc.) festgestellt wurde, belegt.

In den letzten zehn Jahren hat das Interesse an der Störung immens zugenommen. Das wird in der Bundesrepublik besonders deutlich am ständigen Zuwachs der Regionalverbände des Elternverbandes „Hilfe für das autistische Kind“ und an ihrem immer differenzierteren und vielfältigeren Therapieangebot (Wohlleben 1998). Die Teilnehmerzahl der 9. Bundestagung des Bundesverbandes „Hilfe für das autistische Kind“ im Februar 1998 war mit circa 1400 Besucher(inne)n sogar doppelt so hoch wie erwartet.

Diese Tendenz spiegelt sich auch in der Erweiterung der Bezeichnung „frühkindlicher Autismus“ wieder. Um auch die erwachsenen autistischen Menschen einzubeziehen, nannte man die Störung „autistisches Syndrom“. Mittlerweile ist „autistische Störung“ gängiger geworden, da dieser systemische Begriff auch der wechselseitigen Interaktion zwischen Betroffenen und deren Umwelt gerecht wird (Janetzke 1998).

1.2 Die verschiedenen Verursachungstheorien:

Dzikowski hat etwa 60 verschiedene Verursachungstheorien gefunden und sie in sechs Unter-gruppen unterteilt (Dzikowski, 1993, S. 38):

Psychoanalytische Theorien:

- Gestörte frühe Beziehung zur Mutter und eine daraus folgende mangelnde Entwicklung des Selbst (Bettelheim 1967).
- Fehlerhafter Umgang der Eltern mit ihrem Kind führt bei diesem zu tiefgreifender Angst, die im Rückzugsverhalten dieser Kinder zum Ausdruck kommt (Tinbergen & Tinbergen 1972).

Genetische Theorien:

Diese Theorien gehen davon aus, daß die Störung durch genetische Fehler bedingt ist. Folgende Beispiele sollen als Belege dafür dienen:

- Das Verhältnis der als autistisch diagnostizierten Jungen und Mädchen ist ca. 4:1 (vgl. Asperger 1944).
- Bei monozygoten Zwillingspaaren sind beide Kinder häufiger autistisch als bei heterozygoten Zwillingspaaren (vgl. Kehrer 1995).

Biochemische Theorien:

Störungen des biochemischen Stoffwechsels sollen Auslöser für die autistische Störung sein (vgl. Schopler & Mesibov 1987). Ein besonderes Augenmerk wurde auf die Neurotransmitter Serotonin und Dopamin gerichtet, allerdings konnten die Ergebnisse bisher durch gegenteilige Befunde widerlegt werden (vgl. Schmidt 1998).

Hinsichtlich einer medikamentösen Therapie wären schlüssigere Ergebnisse wünschenswert.

Theorien der Wahrnehmungsverarbeitungsstörung:

Es wird vermutet, daß Fehler bei der Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesreizen die Grundlage für den Autismus bilden.

Vertreter(innen) dieser Theorie sind zum Beispiel:

- Frith (1989): die Theorie des Geistes.
- Sievers: das kybernetische Modell.

Hirnorganische Theorien:

Die autistische Störung soll durch prä- oder postnatale Hirnschädigungen bzw. durch eine abnormale Entwicklung des Gehirns verursacht werden.

Folgende Befunde werden als Beweise dafür vorgelegt:

- erhöhte Zelldichte im Gehirn (Schmidt 1998, Frith 1989).
- Verformung eines kleinen Teils des Cerebellum (ebda).
- Auftreten von Epilepsie bei 30% aller autistischen Jugendlichen (Frith 1989).
- Auftreten von geistiger Behinderung bei einem Großteil der autistischen Menschen.

Es wurden aber noch keine direkten Bezüge zu Verhalten und psychologischen Problemen der autistischen Menschen hergestellt.

Theorie der Verursachung durch andere Krankheiten:

Eine Röteln-Infektion bei schwangeren Müttern kann zu autistischen Symptomen beim

Neugeborenen führen (vgl. Sachs 1995).

Diese Aufzählung ist knapp und stichpunktartig gehalten. Sie ist an Dzikowskis Einteilung angelehnt und soll in der Vielfalt von Erklärungsmodellen eine gewisse Übersichtlichkeit gewährleisten. Außerdem ist ein Großteil der existierenden Theorien ungenügend oder gar nicht belegt worden und damit wenig aussagekräftig.

Allgemein wird die Meinung vertreten, daß die autistische Störung eine Mehrfachbehinderung ist, die primär biologisch determiniert ist und nur sekundär von der Umwelt in ihrem Verlauf beeinflußt wird (Denkschrift 1996, Frith 1989).

Kehrer (1995, S. 86) spricht von einer „multikausalen Genese“: Durch ein Zusammenkommen bestimmter erblicher und hirnorganischer Abweichungen ergeben sich Störungen der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung. Diese wiederum sind die Auslöser für Beeinträchtigungen in kognitiven, sozialen, sprachlichen und motorischen Bereichen, die durch psychische Faktoren positiv oder negativ beeinflußt werden können.

Diese Theorie könnte auch die unterschiedliche Ausprägung der Symptome erklären - je nach Zusammensetzung der Anfangsbedingungen.

Oliver Sachs (1995, S. 344) drückt einen kritischen Punkt bei der Ursachenforschung folgendermaßen aus:

„Teilweise stellt sich die Geschichte der Autismus-Forschung als

verzweifelte Suche nach ‘Durchbrüchen’ verschiedenster Art dar,

die auch als solche propagiert wurden.“

Eine weitere Problematik stellt die praktische Umsetzung der erzielten Ergebnisse dar. Ursachenforschung ist in diesem klinischen Bereich nur dann sinnvoll, wenn sie den Betroffenen und Angehörigen hilft, die autistische Störung besser zu verstehen, und den Umgang mit ihr erleichtert, beziehungsweise wenn neue therapeutische Erkenntnisse mit ihr verbunden werden können.

2. Was ist Autismus?

2.1 Die diagnostischen Kriterien:

Die dritte revidierte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM III-R 1987, S. 65) zählt die autistische Störung zu den „Pervasive Developmental Disorders“ und die zehnte Auflage der International Classification of Diseases (ICD 10 1994, S. 389) spricht von einer „tiefgreifenden Entwicklungsstörung“.

Beide nennen als wesentliche diagnostische Kriterien „abnorme Funktionen (...) in der sozialen Interaktion (...), der Kommunikation und im eingeschränkten stereotypischen repetitiven Verhalten“ (ebda.).

Außerdem müssen die Symptome vor dem Alter von drei Jahren auftreten.

Viele weitere Probleme wie Schlaf- und Eßstörungen, Aggressivität, selbstverletzendes Verhalten oder Hyperaktivität können vorhanden sein.

Laut DSM III-R (1987, S. 67) sind 75% aller autistischen Menschen geistig behindert.[3]

Die folgende Auflistung soll die möglichen autistischen Symptome beinhalten, von denen insgesamt sechs Punkte zutreffen müssen, davon mindestens zwei aus der ersten Gruppe und mindestens einer aus den anderen beiden Gruppen, damit eine autistische Störung diagnostiziert werden kann (DSM III-R 1987, S. 70-71).

(1)qualitative impairment in social interaction (...)

(a) marked impairment in the use of multiple nonverbal

behaviors such as eye-to-eye gaze, facial expression,

body postures, and gestures to regulate social interaction,

(b) failure to develop peer relationships appropriate to

developmental level,

(c) a lack of spontaneous seeking to share enjoyment,

interests, or achievements with other people

(e.g., by a lack of showing, bringing, or pointing out

objects of interest),

(d) lack of social and emotional reciprocity.

(2) qualitative impairments in communication (...)

(a) delay in, or total lack of, the development of spoken

language,

(b) not accompanied by an attempt to compensate through

alternative modes of communication such as gesture or

mime,

(c) stereotyped and repetitive use of language or idiosyncratic

language,

(d) lack of varied, spontaneous make-believe play or social

imitative play appropriate to developmental level.

(3) restricted repetitive and stereotyped patterns of behavior,

interests, and activities (...)

(a) encompassing preoccupation with one or more stereotyped

and restricted patterns of interest that is abnormal either

in intensity or focus,

(b) apparently inflexible adherence to specific, nonfunctional

routines or rituals,

(c) persistent preoccupation with parts of objects.

Nach Schmidt (1998) werden heute in Deutschland zehn Kinder und Jugendliche von 10000 als autistisch diagnostiziert, während es 1996 noch vier bis fünf von 10000 waren (Denkschrift 1996). Im Bereich der Erwachsenen ist die Dunkelziffer hoch, da diese höchstwahrscheinlich im Kindesalter gar nicht oder fehldiagnostiziert wurden (ebda.).

Entgegen früherer Annahmen ist der Autismus in allen sozialen Schichten zu finden. Kanner (1943) und Rimland (1964) gingen noch davon aus, daß die Störung vor allem bei intellek-tuellen, gut situierten Familien zu finden sei, was natürlich auch die Theorie der psychogenen Verursachung stützte. Für die biologische These spricht, daß die Störung bei Jungen drei bis vier mal häufiger auftritt als bei Mädchen.

Das klinische Bild entwickelt sich mit zunehmendem Alter der Betroffenen auf unterschied-liche Weise. Ein Maßstab für eventuelle Verbesserungen der Symptome sind die Werte von Intelligenz- und Sprachfertigkeitsmessungen.

Im Jugendalter lassen meist automatisch einige Symptome in ihrer Intensität nach, manchmal kann der Zustand sich aber auch noch verschlechtern. Epileptische Anfälle treten in der Pubertät vermehrt auf.

Im Erwachsenenalter bleiben ca. 50% der Betroffenen ganz ohne sprachliche Fähigkeiten. Für viele stellt außerdem das Finden eines Arbeitsplatzes oder einer anderen erfüllenden Beschäftigung ein großes Problem dar. In manchen Fällen wird jedoch weitgehende Selbständigkeit und ein klares Bewußtsein über die eigene Störung erreicht (ebda.).

2.2 Der Kanner’sche Autismus und das Asperger Syndrom:

Im ICD 10 (1994) und im DSM III-R (1987) wird das Asperger Syndrom dadurch vom Kanner’schen Autismus unterschieden, daß sprachliche[4] und kognitive Entwicklung weitgehend „normal“ verlaufen, daß größeres Interesse an der Umwelt vorherrscht und daß das Syndrom meistens erst nach dem Alter von drei Jahren erkannt wird.

Es werden auch besonders gute Spezialfertigkeiten, wie zum Beispiel absolutes Gehör oder photographisches Gedächtnis erwähnt, sowie Sonderinteressen, die vor allem im technischen Bereich liegen[5] (Steindal 1994).

Das Asperger Syndrom wurde im Gegensatz zum Kanner Syndrom lange Zeit außer Acht gelassen, bis Lorna Wing in den achtziger Jahren in ihrem Artikel „Asperger’s Syndrome. A clinical account“ (Wing 1981) wieder darauf zurückgriff. Seitdem wuchsen Interesse und neues Wissen über dieses Störungsbild stetig (Steindal 1994).

Die Geschlechterverteilung fällt beim Asperger Syndrom noch extremer aus als bei der autistischen Störung: Die männlichen Betroffenen dominieren 8:1 (ebda.).

Die genaue Abgrenzung der beiden Syndrome ist jedoch bis heute umstritten. Einigkeit scheint darüber zu bestehen, daß es ein „autistic continuum“ (Wing, 1991, S. 111) gibt. Frith (1991, S. 5) dazu:

So far, Asperger Syndrome is the first plausible variant to

crystallise from the autistic spectrum. No doubt,

other variants will follow.

Das autistische Kontinuum geht also von „Normalität“ fließend in das Asperger Syndrom über und endet bei immer stärkerer Ausprägung der autistischen Störung mit geistiger Behinderung.

Autistische Züge lassen sich auch im alltäglichen Kontext finden. So ist pedantisches Verhalten, beispielsweise das Ausleben zwanghafter Ordnungsliebe, zu nennen, oder die „restricted repetitive (...) interests and activities“ (DSM III-R 1987, S. 71) stark spezialisierter Menschen.[6]

Janetzke bezieht gewisse autistische Symptome im Sinne eines „kollektiven Autismus“ (Janetzke 1993, S. 91) auf die heutige, moderne Gesellschaft. In bezug auf die fortschreitende Umweltbelastung durch die Menschen äußert er sich folgendermaßen:

Die menschliche Neigung, wider besseres Wissen an

selbstbezogenen Prioritäten festzuhalten, gilt zwar im statistischen

Sinne als der Norm entsprechend, kann jedoch im Gesamtergebnis

als allgemeine Realitätsbezugsstörung und damit als Symptom eines

‘kollektiven Autismus’ verstanden werden.

(ebda.)

Unstimmigkeiten bestehen allerdings darin, ob das Asperger Syndrom ein eigenständiges klinisches Bild darstellt oder ob es nur als Untergruppe der autistischen Menschen mit normaler Intelligenz Berechtigung hat. Das DSM III-R (1987) definiert die autistische Psychopathologie (Asperger 1944) als unabhängige Diagnose, während der ICD 10 von „unsicherer nosologischer Validität“ (ICD 10 1994, S.391) spricht. Die amerikanische Bezeichnung „high functioning autism“ impliziert hingegen, daß das Asperger Syndrom dem Kanner’schen Autismus bei normalem intellektuellen Niveau entspricht (vgl. Steindal 1994).

Vom praktischen Gesichtspunkt her wäre wohl eine eigene diagnostische Kategorie zu befürworten. Das Asperger Syndrom ist auch bei Ärzten und Psychologen noch relativ unbekannt, was bedeutet, daß viele Betroffene weiterhin fehldiagnostiziert und entweder unter- oder überfordert werden (ebda.). Eine gezieltere Förderung dieser Menschen durch verbesserte Aufklärung aller Beteiligten wäre also wünschenswert.[7]

2.3 Die Gefahren einer rein klinisch-diagnostischen Perspektive:

Eine korrekte diagnostische Klassifikation von klinischen Störungsbildern ist sicherlich wichtig und für bürokratische Zwecke unumgänglich, jedoch birgt sie auch Probleme in sich.

Die Kriterien einer rein diagnostischen Perspektive beziehen sich fast ausschließlich auf das von außen beobachtbare Verhalten und lassen das subjektive Empfinden der Betroffenen außer Acht. Gerade beim Autismus mit seinen Wahrnehmungs- und Handlungsstörungen als mögliche Ursachen für „abweichendes“ Verhalten kann diese Betrachtungsweise zu Fehlbeur-teilungen führen. So werden Handlungsstörungen als Teilaspekt der autistischen Störung kaum erwähnt. Stattdessen werden Lethargie und ausbleibende Reaktionen oft als Verweigerungs-verhalten oder Trotz interpretiert und mit negativen Konsequenzen bestraft (Verein 1996, S. 27).

Auf die Mißverständnisse bezüglich des emotionalen Erlebens autistischer Menschen, die aus einer derart abstrakten und sachlichen Perspektive resultieren, wird unten noch genauer eingegangen.

Ein weiteres Problem besteht in der Messung von Intelligenz. Durch die Methode der „Facilitated Communication“ („Gestützte Kommunikation“) werden immer mehr Fälle autistischer Menschen bekannt, die auf Grund von fehlender Sprache in Intelligenztests unterhalb des „normalen“ Spektrums abschnitten, obwohl sie gute Denkfähigkeiten besaßen. Außerdem kann die Motivation dazu fehlen, Bestleistungen zu erbringen, wenn Sinn und Zweck des Intelligenztests nicht erfaßt werden. Handlungsstörungen tragen auch ihren Teil zu solchen Fehldiagnosen bei. Aus diesen Gründen muß die weitvertretene Meinung, daß 75% aller autistischen Menschen geistig behindert sind, revidiert werden.

Um trotzdem einen genaueren Einblick in dieses Störungsbild zu gewährleisten, werde ich im folgenden Abschnitt die klinisch-diagnostische Perspektive durch Aussagen der Betroffenen ergänzen.

2.4 Das Erscheinungsbild aus der Sichtweise von Betroffenen:

Die Betroffenen, die ihre Störungen selber charakterisieren werden, sind zum einen Teil nonverbale autistische Menschen, die sich mit Hilfe der Facilitated Communication[8] schriftlich ausdrücken können, zum anderen Teil erhielten sie die Diagnose Asperger Syndrom oder high-functioning autism.

Ihre Aussagen entnahm ich verschiedenen Quellen:

- autobiographische Werke
- die sechste Ausgabe des „Bunten Vogel. Zeitschrift für Gestützte Kommunikation“
- Autistische Menschen verstehen lernen II
- noch nicht veröffentlichtes Material von M. Zöller (Vortrag 1998).

Der erste Teil beschäftigt sich mit Störungen in der Wahrnehmung, die sowohl die Aufnahme einzelner Sinnesreize als auch deren intermodale Verarbeitung umfassen.

Es besteht häufig eine Über- oder Unterempfindlichkeit in Bezug auf einen oder mehrere Sinne. Es können sogar beide Extremvarianten je nach Situation innerhalb eines Bereichs auftreten:

Mein Bett war ganz und gar von winzigen Pünktchen umgeben

und eingeschlossen.(...) Inzwischen habe ich erfahren, daß das

eigentlich Luftteilchen sind. Aber mein Gesichtssinn war so

überempfindlich, daß sie oft zu einem hypnotisierenden Vorhang

wurden, hinter dem der Rest der Welt verblaßte.

(D. Williams 1992, S. 27)

Wie siehst du die Menschen?

manchmal ziemlich durchsichtig.

Was ist durchsichtig?

ganz sehachsen achsfaden daras ferne gabn ja

Kannst du genau beschreiben, wie du die Menschen siehst?

Ich sehe sachen mit sagenhaften achsen.

Was sind Achsen?

ganz klare linien.

Sind die Linien außen?

nein

Wo sind die Linien?

leicht innen

(A.Leipert in Zöller 1998)

Ich höre in einer teilirren Genauigkeit alles, was beim leben

entsteht. Ich höre die Geräusche der Lebensvorgänge im Körper.

Ich kann den Herzschlag verbunden mit dem Blutrauschen in

den Gefäßen hören.

(L. Bayer in Zöller 1998)

Sie beschreiben auch mangelnde selektive Wahrnehmung, also die Schwierigkeit, wichtige Reize vom unwichtigen Hintergrund zu unterscheiden:

Die Lehrerin hat Sebastian ein Bild gezeigt und gesagt, was

sie sieht.

Sebastian: „ich sehe anders wie du. ich sehe kein stamm

sondern kleine punkte ich sehe keine blätter und kokosnüsse

sondern viele unbestimmte punkte.“

(S. Futschik in Zöller 1998)

Die Lehrer hörte ich nur selten, meistens nur die ersten Worte,

bevor alles im allgemeinen Hintergrundgetöse unterging.

(S. Schäfer 1997, S.37)

Auch „sehen sie manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht“. Sie können einzeln wahrge-nommene Teile nicht zu einem Gesamtbild zusammensetzen (vgl. Frith 1991).

Bei Menschen paßten die Dinge nicht zusammen. Selbst wenn ich

sie oft sah, waren sie immer noch unzusammenhängende Stücke

eines Puzzles, und ich hatte keine Möglichkeit, sie

zusammenzusetzen.

(S. Barron 1992, S. 28)

Das Körpergefühl kann sogar vollständig oder teilweise ausfallen. Das hat auch einen direkten Einfluß auf die Entwicklung eines umfassenden Ich-Bewußtseins, denn ohne Bewußtsein über den eigenen Körper fehlt auch das Wissen um die eigenen physischen Grenzen.

Ich fühle mich nicht, und das kommt dem Nicht-Sein gleich.

Was ist der Mensch? Ein Körper, der mit einer Seele verbunden

ist, und ich bin zuweilen nur Seele.

(D. Zöller in Verein 1996, S. 17)

Im körperlosen Zustand habe ich kein Ich und mache Sachen,

die mir fremd sind und die gar nicht zu mir gehören.

(D. Zöller in Verein 1996, S. 23)

Ich nahm den ganzen Körper in Stücken wahr. Ich war ein Arm

oder ein Bein oder eine Nase. Manchmal war ein Teil sehr

deutlich da, doch der Teil, mit dem er verbunden war, fühlte

sich so hölzern an wie ein Tischbein und genauso leblos.

(D. Williams 1994, S. 320)

Ein sinngebendes Zusammenspiel der verschiedenen Sinnesorgane, das zum Beispiel für eine räumliche und zeitliche Orientierung und für angemessene Reaktionen auf Umwelteinflüsse notwendig ist, zeigt ebenfalls bei einigen Betroffenen deutliche Mängel.

Manchmal geraten die Kanäle durcheinander. Es ist, als wenn

Geräusche und Farben durcheinander geraten. Ich weiß, daß ich

irgendwo etwas aufnehme, aber ich kann nicht richtig sagen,

durch welchen Sinneskanal es hereinkommt.

(Jim in Verein 1996, S. 18)

Diese vielfältigen Behinderungen der Wahrnehmung können aber durch Kompensations-mechanismen gemildert werden. Zum Beispiel:

- Abschalten des betreffenden Sinnesorgans
- Überreizung eines anderen Sinneskanals zur Überlagerung störender Reize.

Diese Mechanismen bergen wiederum eigene Probleme in sich.

Auf existierende Handlungsstörungen wurde die professionelle Welt erst durch die Aussagen der Betroffenen aufmerksam. Autistische Menschen haben manchmal einen Mangel an Selbstkontrolle und Schwierigkeiten bei der Koordination von Bewegungsabläufen. Das kann in Verhaltensauffälligkeiten, die von der Umwelt häufig fehlinterpretiert werden, zum Ausdruck kommen (vgl. Verein 1996, S. 27). Es wird von einem plötzlichen Erstarren inmitten einer Handlungskette berichtet und vom unkontrollierbaren Perseverieren in kurzen Bewegungs-abläufen, dem sogenannten zwanghaften und stereotypen Verhalten.

Ich gebe dann mir selbst den Befehl und weiß plötzlich nicht

mehr, was ich anstellen muß, um die Bewegung machen zu

können. Es ist wie ein motorisches Blackout. Manchmal kann

ich nicht einmal im Liegen ein Bein auf Befehl anheben.

Es denken dann natürlich alle, daß ich mich verweigere.

(D. Zöller in Verein 1996, S. 27)

Wenn wie heute plötzlich die Sonne durchbricht, werde ich

plötzlich zwanghaft und grapsche nach allem, was mir in die

Finger kommt. Ich gebe mir im Stillen den Befehl, aufzuhören,

aber es klappt nicht.

(D. Zöller in Zöller 1998)

Im Bereich der Gefühle und der zwischenmenschlichen Beziehungsaufnahme bestehen eben-falls noch Mißverständnisse auf Seiten der Angehörigen und Professionellen.

Im DSM III-R (1987, S. 70) steht als eines der Diagnosekriterien „lack of social or emotional reciprocity“.

Die auf Informationen über Verhaltensweisen beschränkte „Außensicht“ mag eine solche Inter-pretation nach sich ziehen, während viele autistische Menschen in ihren eigenen Aussagen tiefgreifende Gefühle zum Ausdruck bringen, die sie sowohl auf sich selbst, als auch auf ihre Mitmenschen beziehen. Das Mitleiden mit anderen behinderten Menschen und der Wunsch, sich aktiv an der Aufklärung über ihre Störung zu beteiligen, sind Beispiele für Empathie, wenn sie auch häufig nicht im gewünschten Maße ausgelebt, oder von der Umwelt nicht richtig gedeutet werden (vgl. Verein 1996, S. 32f.). In der Zeitschrift „Bunter Vogel. Zeitschrift für Gestützte Kommunikation“ gibt es die Rubrik „Brieffreundschaften“, in der sich FC-Schreiber(innen) um schriftliche soziale Kontakte bemühen.

Trotzdem scheint das Bedürfnis, viele Freundschaften zu schließen und ein aktives soziales Leben zu führen, in geringerem Maße zu bestehen als bei „normalen“ Menschen. Das könnte mit der erhöhten Anstrengung verbunden sein, das Gegenüber richtig wahrzunehmen und sich auch selbst verständlich zu machen.

[Meine Mutter] trat ruhig neben mich und küsste mich auf die

Wange. Ich sehnte mich danach, von ihr in den Arm genommen

zu werden, aber woher hätte sie das wissen sollen?

Versteinert wie eine Salzsäule stand ich da, hilflos dem

Annäherungs-Vermeidungskonflikt des Autismus ausgeliefert.

(T. Grandin, 1994, S. 73)

Weil ich zu sehr damit beschäftigt gewesen war, auf dem

Laufenden zu bleiben, wie ein Computer, der mit voller

Kapazität arbeitet, war keine Zeit gewesen, Gefühle zum

gleichen Zeitpunkt wahrzunehmen, wenn ich etwas hörte,

sah oder von etwas berührt wurde. Die Gefühle stapelten

sich einfach im Wäschezimmer, und das Glattbügeln wurde

auf später verschoben. Aber das Leben war so bequem ohne

Gefühle, und ich ließ sie einfach im Wäschezimmer liegen,

und schließlich brach dann die Tür auf, wenn das Zimmer

überquoll. „Ihre Diskette ist voll, Datei kann nicht

geschlossen werden. Löschen?“ Die Flutwellen waren meine

eigenen, verzögerten, aus dem Zusammenhang gerissenen

Reaktionen. Diese Anfälle vom Großen Schwarzen Nichts,

das Entsetzen und Heulen, waren emotionale Überladungen,

die durch Glück und Wut und alle Gefühle dazwischen

ausgelöst werden konnten.

(D. Williams, 1994, S. 148)

Das ist ein Gerücht, daß wir kein Interesse an unserer Umwelt

haben. Selbst als ich noch nicht schreiben konnte, habe ich

Leute gemocht und vermißt und mitgekriegt, wenn sie zum

Beispiel traurig waren. Die Bücher über uns stimmen fast gar

nicht - muß ich sagen. Da soll jetzt keiner beleidigt sein.

(M. Wiucha in RV München 1996, S. 61)

mit unerhoerter ausdauer muessen

wir andere ueberzeugen,

dass wir intelligent sind

dass wir etwas dazu beitragen koennen

um wissen zu vermehren

und einsichten zu gewinnen in die

welt der stummen.

(B. Sellin in Bunter Vogel 1997, S. 4)

Bei den kognitiven Leistungen wie Denken und Gedächtnis finden sich einige Besonderheiten, die aber teilweise auch als positiv empfunden werden. Wie bereits erwähnt verfügen manche autistische Menschen über ein photographisches Gedächtnis oder andere ausgeprägte Fähig-keiten, vor allem im technischen Bereich. Allerdings können Probleme bei der Koordination von Lang- und Kurzzeitgedächtnis auftreten, die dazu führen, daß neue Informationen nur nach häufiger Wiederholung im Langzeitgedächtnis gespeichert werden (vgl. Verein 1996, S. 22).

Immer bekenne ich, daß ich aber alles Gesehene für immer in

meinem Kopf habe.

(L. Bayer in Verein 1996, S. 22)

ich lese unheimlich gerne. Ich blättere die seiten durch und

fotographiere sie im kopf, dann setze ich mich in eine ecke und

lasse den leseinhalt ablaufen.

(S. Futschik in Zöller 1998)

voller freude und sachlichkeit sicher erkenne ich alle

denkprobleme immenser art und oft kann ich sie auch

lösen. (...) auf jeden fall sage ich vieles schlechter als

ich nachgedacht habe, weil ich so nicht sprechen kann.

(Kornelius K. in Bunter Vogel 1997, S. 35)

Das letzte Zitat nimmt Bezug auf den Zusammenhang zwischen Denken und Sprache. Die Gleichsetzung dieser beiden Fähigkeiten führt zu einer Unterschätzung von vorhandenem Intellekt. Es kommt auch vor, daß autistische Menschen rein bildlich denken, was auf der sprachlichen Ebene wiederum zu Verständnisproblemen bei abstrakten oder metaphorischen Ausdrücken führen kann.

Ich denke in Bildern. Worte sind für mich so etwas wie eine

Zweitsprache. (...)

Mit zunehmendem Alter lernte ich, abstrakte Vorstellungen

in Bilder umzuwandeln, um sie verstehen zu können. Ich

visualisierte Konzepte wie Frieden oder Ehrlichkeit anhand

symbolischer Bilder. Ich stellte mir den Frieden als Taube,

als indianische Friedenspfeife oder als Fernsehbericht über

die Unterzeichnung eines Friedensvertrags vor.

(T. Grandin 1994, S. 19-37)

Ziel dieser Zitierung der Aussagen von Betroffenen ist es, komplementär zu den in der Literatur vertretenen theoretischen Ansätzen zu wirken. Damit möchte ich die Voraussetzung für ein vollständiges Verständnis für die autistische Störung geben.

In der Praxis ist das schwierige Nachvollziehen der Beeinträchtigungen eines der Haupt-probleme der autististischen Störung (sowohl für familiäre wie professionelle Bezugspersonen, die dem unerklärlichen Verhalten oft hilflos gegenüberstehen). Gleichzeitig erzeugt die Faszi-nation vom Anders-Sein auch Mythen, die den autistischen Menschen nicht immer zu Gute kommen. Als Beispiel für die Erschaffung solch eines Mythos’ wäre der Film „Rainman“ zu nennen. Das wird auch an der Fülle unterschiedlichster therapeutischer Methoden und theoretischer Konstrukte zur Erklärung des Syndroms erkenntlich.

Auf die gängigsten Therapieansätze werde ich im weiteren genauer eingehen.

3. Die Autismustherapie:

Wie bei den Verursachungstheorien zeigt sich auch in den therapeutischen Ansätzen eine Vielfalt unterschiedlicher Modelle, die im folgenden skizziert werden. Dzikowski (1993) zählt etwa 50 Behandlungsansätze auf. Sie beziehen sich hauptsächlich auf die Therapie von Kindern und Jugendlichen.

Der Bundesverband Hilfe für das autistische Kind hat in seiner Denkschrift (1996, S. 21) „allgemeine Grundsätze für die therapeutische Arbeit“ veröffentlicht, die hier zusammengefaßt dargestellt werden.

(1)Die Therapie sollte Selbständigkeit und soziale Integration als wichtigste Ziele

anstreben.

(2)Eine „tragfähige, emotional akzeptierende Beziehung“ sollte die therapeutische Basis

darstellen.

(3)Der therapeutische Ansatz sollte mehrdimensional sein und dadurch den vielen

Faktoren, die die autistische Störung ausmachen, gerecht werden.

(4)„Das Kind als Ganzes“ sollte eine an seinen Entwicklungsstand angepaßte Förderung

erhalten. Vor allem das selbst initiierte, spontane Verhalten des Kindes sollte dabei im

Vordergrund stehen.

(5)Therapeut(inn)en, Eltern und Betreuer(innen) sollten eng zusammenarbeiten, um eine

in sich konsistente Herangehensweise an das Kind zu gewährleisten. Auch die Eltern

sind im gewissen Sinne „betroffen“ und sollten im therapeutischen Prozeß von den

Professionellen unterstützt werden.

(6)Der entstehende zeitliche und finanzielle Aufwand und die emotionale Belastung

sollten für alle Beteiligten im Rahmen des Zumutbaren liegen.

Auch die Wichtigkeit gezielter und angemessener Frühförderung wird betont. So können sekundäre Beeinträchtigungen frühzeitig in Grenzen gehalten und das Entwicklungsniveau von Anfang an verbessert werden (Denkschrift 1996).

Im weiteren werde ich die gängigsten Behandlungsansätze näher beschreiben. Janetzke (1993) unterteilt in

- körperwahrnehmungsorientierte Ansätze
- kommunikationsorientierte Ansätze
- Verhaltenstherapie
- psychoanalytische Autismustherapie
- beziehungsorientierte Therapie
- biochemische Ansätze.

In diesem Kontext ist auch die „Facilitated Communication“ erwähnenswert. Sie stellt zwar an sich keine eigene Therapieform dar, schafft aber schriftliches Mitteilungsvermögen und hat daher großen Einfluß auf die Lebensqualität nonverbaler autistischer Menschen.

Körperwahrnehmungsorientierte Ansätze:

Die sensorische Integrationstherapie von A. J. Ayres versucht, durch gezielte Stimulation oder Schonung bestimmter Sinneskanäle das gestörte Gleichgewicht in der Wahrnehmungsverar-beitung wiederherzustellen.

Delacato (1975) versuchte Ähnliches durch das Nachholen von Entwicklungsstufen.

Auch die Affolter-Therapie sieht die sensomotorische Entwicklung als Grundlage für weitere komplexe Fähigkeiten. Durch die Methode der Hand- und Körperführung sollen Gefühle von Stabilität und Sicherheit zur besseren Wahrnehmung der taktilen Reize erzeugt werden (RV München 1996).

Kommunikationsorientierte Ansätze:

Es gibt zwei verschiedene Arten von kommunikationsorientierter Therapie.

Die Logopädie fördert die Entwicklung von sprachlichem Ausdruck.

Tanztherapien, Musiktherapien oder Tiertherapien zielen eher auf nonverbale Kommunikation und Beziehungsaufbau ab (Janetzke 1993).

Das Therapeutische Reiten kann zudem Auswirkungen auf Körperbeherrschung und Konzen-trationsfähigkeit haben.

Verhaltenstherapeutische Ansätze:

Speziell auf den Autismus abgestimmte verhaltenstherapeutische Ansätze wurden erstmals von Lovaas (1987) entwickelt. Er zeigt eine restriktive Einstellung zur Bestrafung der Kinder.

Das von Schopler (1988) entwickelte TEACCH-Programm (Treatment and Education of Autistic and Communication handicapped Children) stellt eines der neuesten verhaltens-orientierten Modelle dar. Enge Zusammenarbeit mit den Eltern, ein hoher Grad an Strukturiertheit in den Lernsituationen und die Zusammenfassung der Therapieziele in Behandlungsplänen stehen hier im Mittelpunkt.[9]

Probleme der ausschließlichen Anwendung dieser Ansätze sind die mäßige Förderung spontaner Kommunikation und die häufig ungenügende Generalisierung von Gelerntem auf andere Situationen.

Psychoanalytische Ansätze:

Psychoanalytische Verfahren gehen davon aus, daß der Autismus ein von unbewußten Energien gesteuerter Rückzug von der Außenwelt darstellt (Schmauch 1981). Die Beziehungsfähigkeit soll also durch Aufarbeitung frühkindlicher Konflikte und Ängste im Schutz des Therapeuten oder der Therapeutin wiederhergestellt werden (Bettelheim 1967).[10]

Das „Forced Holding“ („Gewaltsames Halten“), begründet von M. Welch und dem Ehepaar Tinbergen und in Deutschland von Prekop eingeführt, ist ein Beispiel für einen der umstrittenen therapeutischen Ansätze. Der Distanz-Nähe-Konflikt des Kindes soll dadurch gelöst werden, daß die Mutter ihr Kind täglich über Stunden im Arm hält, und zwar so lange, bis alle Widerstände des Kindes abebben und es sich endlich auf eine Beziehung mit der Mutter einlassen kann. Die Anwendung von Gewalt zum Erzielen therapeutischer Erfolge erscheint problematisch (vgl. Janetzke 1993).

Beziehungsorientierte Ansätze:

Die „Differentielle Beziehungstherapie“ wurde von Janetzke (1993) entwickelt. Individuelle Besonderheiten sollen besonders berücksichtigt werden, mit dem vorrangigen Ziel, die Freude an sozialen Beziehungen zu fördern. Die Erfahrung, daß soziale Kontakte positiv empfunden werden können, soll dadurch ermöglicht werden, daß die Therapeut(inn)en sich zunächst „gegenstandstypische Eindeutigkeitseigenschaften aneignen (...) [und] sie sich als gut funktio-nierendes Objekt anbieten.“ (Janetzke 1993, S. 66). Dadurch wird der Therapeut oder die Therapeutin für das Kind kontrollierbar, und das für Beziehungen so wichtige Gefühl von Vertrauen und Sicherheit kann sich entwickeln.

Durch eine schrittweise Erweiterung der gemeinsamen Aktivitäten wird auch die Förderung in anderen (kognitiven, sprachlichen etc.) Gebieten möglich.

Auch Rohmann et al. (1990) betonen den Beziehungsaspekt. Sie gehen davon aus, daß der Aufbau von Beziehungen zu Gegenständen eine Art Ersatzhandlung darstellt, da Objekte kontrollierbarer und weniger reizintensiv als Menschen seien. Außerdem sei die Wahrnehmung nicht immer gleichbleibend gestört - es gebe also gute und schlechte Phasen. Das Ausnutzen dieser guten Phasen, die Minimierung der störenden Reize durch ruhiges Verhalten und wenige, gezielte Informationen und die Annahme der individuellen Eigenarten des autistischen Menschen seien die Voraussetzungen für weitere Förderungsmaßnahmen (vgl. Dzikowski 1993).

Die Hilfsmittel der Beschäftigungs- und Ergotherapie eignen sich ebenfalls gut als Mediatoren zum Herstellen von persönlichem Kontakt und Vertrauen (Denkschrift 1996).

Hierzu werden als Ergänzung einige Zitate von Betroffenen über das Thema „Therapie“ angefügt:

Jemand, der behauptet, daß die normale Welt eine gesunde Welt

ist, hat für mich etwas, was normalerweise den Autisten

zugeordnet wird.Eine Wahrnehmungsstörung. Die normale Welt

ist nicht gesund. Eine behinderte Welt ist nicht ausschließlich

krank. Beide Elemente sind jeweils in beiden Welten. Heilung

entsteht nur dann, wenn beiden Seiten transparent gemacht

wird, warum etwas seltsam ist und nicht funktioniert.

Erst wenn das in Beziehung gesetzt werden kann, ist Heilung auf

allen Seiten möglich. In mir hat sich immer nur dann etwas

verbessert, wenn beide Seiten in Bewegung kamen.

(A.Empt in Verein 1996, S. 5)

nur gesteigerte schaetzung meines wesens innen bringt heilung

meiner dringlichkeiten (...) kreative methoden korrigieren meine

behinderung greifbar.

(J.Berghammer in RV München 1996, S. 60-61)

Biochemische Ansätze:

Abschließend sind die biochemischen Ansätze zu nennen. Rimland (1964) schlug eine Vitamin- und Mineralstofftherapie vor, bei der hohe Dosen von Vitamin B6 und Magnesium verabreicht werden, um Hyperaktivität und Aggressionen zu mindern (vgl. Kehrer 1995).

Die Pharmakotherapie sollte bei vorsichtiger Dosierung nur als Ergänzung zu anderen therapeutischen Maßnahmen eingesetzt werden (vgl. Denkschrift 1996). Die Medikamente, wie zum Beispiel das Neuroleptikum Haloperidol oder das Amphetamin Ritalin, können den Serotonin- beziehungsweise Dopamin-Stoffwechsel regeln und dadurch hyperaktivem und (auto-)aggressivem Verhalten entgegenwirken und die Konzentrationsfähigkeit steigern (vgl. Kehrer 1995).

Facilitated Communication:

Die Facilitated Communication ist eine Hilfestellung zum Ermöglichen von schriftlicher Kommunikation für Menschen mit schweren Sprachstörungen. Der Helfer oder die Helferin stützen oder berühren den Schreiber oder die Schreiberin an Hand, Arm, oder Schulter, während diese(r) den Text auf Buchstabentafeln oder Tastaturen tippt.

Die Stütze dient zur Förderung von Konzentration und kontrolliertem Bewegungsablauf beim Schreiben. Sie kann auch als Anreiz zur Initiierung der Handlung dienen, wenn Probleme der Willkürmotorik bestehen (Sellin 1991, Wepil 1993, Judt 1991).

Die Authentizität der durch die gestützte Kommunikation verfaßten Texte wird von verschie-denen Seiten bezweifelt. Es wird eine bewußte oder unbewußte Beeinflussung der stützenden Person vermutet (vgl. Kehrer 1995, Cordes 1998).

In der praktischen Anwendung sind aber schon viele Erfolge erzielt worden, zum Beispiel daran ersichtlich, daß die stützende Person den Inhalt des Textes selbst gar nicht wissen konnte. Viele autistische Menschen beteuern selbst immer wieder die vermehrte Lebensfreude, die sie durch die Möglichkeit, den eigenen Gedanken und Bedürfnissen Ausdruck geben zu können, erfahren.

Es ist absolut nicht wahr, daß wir nicht selber schreiben. Es sind

immer wieder dieselben Wissenschaftler, die uns Steine in den

Weg legen.

(M. Bader in RV München 1996, S. 61)

In diesem Feld wäre auf jeden Fall dringend weitere Forschung notwendig.

[...]


[1] Vgl. Polanyi (1966).

[2] Vgl. DSM-III (1987) und ICD-10 (1994).

[3] Diese Annahme wird unten noch kritisch beleuchtet.

[4] Der Gesichtspunkt des Sprachgebrauchs wird hier außer Acht gelassen. Pragmatische Aspekte, wie die Fähigkeit zum „Small Talk“ oder das individuelle Eingehen auf die Gesprächspartner bereiten häufig Schwierigkeiten (vgl. Steindal 1994).

[5] So zum Beispiel das Auswendiglernen von Zahlenreihen in Form von Fahrplänen oder umfangreiche Kenntnisse über elektrische Geräte.

[6] Vgl. hierzu die Tabelle zum autistischen Kontinuum in Wing (1991, S. 112ff.).

[7] Wing (1991, S. 97-98 und S. 103-104) liefert einige Fallbeispiele zur tieferen Einsicht in das Syndrom.

[8] Zur genaueren Beschreibung der Facilitated Communication siehe S. 24.

[9] Vgl. Kehrer (1995) zur verhaltensorientierten Autismustherapie.

[10] Vgl. hierzu die „nondirektive Spieltherapie“ nach Axline (1982).

Ende der Leseprobe aus 116 Seiten

Details

Titel
Autismustherapien - Grundhaltungen in der psychotherapeutischen Praxis im Zusammenhang mit der Therapie von autistischen Kindern und Jugendlichen
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1
Autor
Jahr
1998
Seiten
116
Katalognummer
V185243
ISBN (eBook)
9783656998594
ISBN (Buch)
9783867461498
Dateigröße
998 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
autismustherapien, grundhaltungen, praxis, zusammenhang, therapie, kindern, jugendlichen
Arbeit zitieren
Caroline von Taysen (Autor:in), 1998, Autismustherapien - Grundhaltungen in der psychotherapeutischen Praxis im Zusammenhang mit der Therapie von autistischen Kindern und Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185243

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