Lebensbedingungen, Lebensstil und Mortalität


Doktorarbeit / Dissertation, 2001

315 Seiten, Note: 1


Leseprobe


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Lebensbedingungen, Lebensstil und Mortalität

Analysen der WHO-MONICA-Daten

zur sozialen Ungleichheit der Mortalität

vorgelegt von

Sven Schneider

Tobeläckerstraße 3

88069 Tettnang

bei

Prof. Dr. Thomas Klein

(Erstgutachter)

und

Prof. Dr. Uta Gerhardt

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Quetelet, 1769/<1874 1

1 Lambert Adolf Jakob Quetelet, Begründer der mod. Sozialstatistik (Übersetzung zit.

nach Brauchbar & Heer, 1993: 59).

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Diese Arbeit entstand in engem Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt „Monitoring Trends and Determinants in Cardiovascular Disease“ (MONICA). MONICA ist eine internationale, von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) initiierte Studie. Die Projektleitung des bundesdeutschen MONICA-Projektes liegt beim Institut für Epidemiologie der GSF - Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit GmbH - in Neuherberg/München.

Mein besonderer Dank gebührt in diesem Zusammenhang Prof. Dr. Thomas Klein, der mich bei der Konzeption und der Erstellung der vorliegenden Dissertation betreut hat. Insbesondere waren die regelmäßigen Projektbesprechungen sowie die Diskussionen zum Forschungsstand bezüglich der einzelnen Themenkomplexe und zur Konstruktion des dieser Arbeit zugrundeliegenden Datensatzes sehr fruchtbar.

Des weiteren danke ich Dr. med. Hannelore Löwel, deren medizinische wie auch methodische Hinweise und Erläuterungen u.a. zum Studiendesign sehr hilfreich waren. Mein Dank gilt ebenso Andrea Schneider (GSF - Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit GmbH) für die Bereitstellung und Dokumentation des umfangreichen und komplexen Datenmaterials.

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Eine große gesellschaftliche und sozialpolitische Herausforderung der Zukunft wird von einer Entwicklung ausgehen, die gemeinhin als ‘demographische Alterung der Gesellschaft’ bezeichnet wird. Angesichts der weiteren Zunahme der Lebenserwartung und des damit fortschreitenden Alterungsprozesses der bundesdeutschen Bevölkerung ist zu vermuten, daß in den nächsten Jahren die Nachfrage seitens politischer und anderer gesellschaftlicher Institutionen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Zusammenhang zwischen sozialen Dimensionen und Sterblichkeit zunehmen wird.

Die vorliegende Arbeit beschränkt sich nicht auf eine - wegen mangelhaften Datenmaterials häufig anzutreffende - eindimensionale Verknüpfung von makrosoziologischen Dimensionen (wie Sozialschicht und Geschlecht) mit Mortalitätsdaten. Ziel dieser Arbeit ist vielmehr, die absolute und relative Bedeutung grundlegender soziologischer Dimensionen für die Mortalität zu erhellen und durch eine Verfeinerung dieser Dimensionen die hinter den makrosoziologischen Strukturen wirksamen Prozesse (Integration, soziale Kontrolle, Belastungsgrößen, lebensstiltypisches Verhalten) zu eruieren.

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Ein fruchtbarer Weg stellt dabei die Arbeit mit epidemiologischen Daten dar, da derartige Studien i.d.R. neben klassischen sozioökonomischen und -strukturellen Variablen auch verhaltensbezogene und medizinische Parameter beinhalten. Außerdem sind sie oft longitudinal mit einer ausreichenden Fallzahl an Probanden angelegt.

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Gesundheitsdifferenzen bedeutend für die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen und für politische Verhältnisprävention. Dies unterstreicht die Notwendigkeit und Bedeutung soziologischer Mortalitätsstudien wie diese.

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1.1 Entdeckungszusammenhang

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Forderung innerhalb (und auch außerhalb) der Scientific Community immer lauter, Faktoren zu identifizieren, die eine hohe Lebenserwartung begünstigen, und Einflüsse zu benennen, die einem langen Leben abträglich sind (Becker, 1998: 134; Clemens, 1993: 63; Hauser, 1983: 159; Höpflinger, 1997: 143; Mielck & Blommfeld, 1999: 451ff; Reil-Held, 2000: 2; Schepers, 1989: 671; Voges & Schmidt, 1996: 378). Dieser Forderung steht ein eklatantes Defizit bezüglich empirischer Daten gegenüber: Verglichen mit der Forschungstradition in Großbritannien, den skandinavischen Ländern und den Vereinigten Staaten liegen für die Bundesrepublik Deutschland nur spärliche Daten zu Mortalitätsprozessen vor (Helmert, 1994: 187). Ein Grund hierfür mag die vom Faschismus gebrochene und pervertierte Tradition der Sozialmedizin sein (Abholz, 1994: 181), verstärkt durch eine nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst konstatierte Nivellierungstendenz der bundesdeutschen Gesellschaftsstruktur (Schelsky, 1979), die prima vista eher auf eine Verringerung denn auf eine Erhöhung sozialer Ungleichheiten bezüglich Morbidität und Mortalität schließen ließ. Hinzu kommt der Anspruch, daß das in der Bundesrepublik implementierte gesetzliche Krankenversicherungs-System - anders als in anderen Nationen - grundsätzlich jedem Versicherten 2

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Zwar sind „Studien der sozialen Differenzen der Lebenserwartung (..) sicherlich kein direkter und auch nicht der einzige Weg, um die Bedeutung sozioökonomischer Faktoren herauszuarbeiten, aber massenstatistische Analysen können insbesondere die klinischen Befunde, die oft anhand von extrem selektierten Krankenpopulationen gewonnen werden, in ihrer Interpretierbarkeit richtig einordnen.“ (Schepers, 1989: 672). Angesichts dessen sollte die Soziologie diesen sich entwickelnden Forschungsbereich nicht anderen Disziplinen überlassen. Borgers und Steinkamp (Borgers & Steinkamp, 1994: 144) warnen in diesem Zusammenhang vor einem naturwissenschaftlich ätiologischen Monismus, der Mortalitätsursachen primär in individuellen Defekten, ungünstigen Erbanlagen oder mangelnder Resistenz gegenüber biologischen und chemischen Noxen suchen. Auch Gerhardt (Gerhardt, 1990: 1151) spricht von einem mechanistischen Modell der Naturwissenschaften. Als Folge eines solchen Reduktionismus wäre m.E. zu befürchten, daß künftige Prävention und Therapie vor allem auf dieser Ebene einzugreifen versucht (Gentherapie, Pharmaforschung, ausschließliche Verhaltensprävention zu Lasten einer Verhältnisprävention).

Mit anderen Worten: Was schon naturwissenschaftliche oder medizinische Modelle zu Karzinogenen oder anderen gravierenden Risikofaktoren entlang eines Agens-Ätiologie-Paradigmas nicht zu erreichen vermögen, darf erst recht eine sozialwissenschaftliche Arbeit (wie diese) mit „weicheren“, sozialen Variablen nicht zu leisten versuchen: Ein statistisches Modell zu entwickeln, das durch unreflektierte Einbeziehung einer großen Zahl verschiedenster, isolierter

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Variablen die erklärte Varianz in Richtung 100% steigern und so den Mortalitätsprozeß vollständig „determinieren“ zu wollen, ohne den Blick auf die dahinterstehenden Bedingungen und Interdependenzen zu richten.

Die einleitend zitierte Äußerung Quetelets hat auch heute - zwei Jahrhunderte später - weiterhin ihre Berechtigung. So bemängelten auch in jüngerer Zeit sozialwissenschaftliche Autoren das Fehlen eines synthetischen Ansatzes der Sterblichkeit (Becker, 1998: 148; Borgers & Steinkamp, 1994: 136; Gerhardt, 1991; Hauser, 1983: 159). Gerhardt bemängelt auch „ein theoretisch wenig reflektiertes Raster der Verbindung Verhalten-Gesundheit“ (Gerhardt, 1987a: 417). Anstelle eines (im vorigen Abschnitt kritisierten) deterministischen Modells ist deshalb das Ziel dieser Arbeit, die relative Bedeutung grundlegender soziologischer Dimensionen (wie der Sozialschicht oder des Geschlechtes) auf die Mortalität zu identifizieren und durch eine Verfeinerung dieser Dimensionen die hinter diesen makrosoziologischen Strukturen wirksamen Prozesse (Integration, soziale Kontrolle, Belastungsgrößen, lebensstiltypisches Verhalten) zu eruieren. Im einzelnen analysiert die vorliegende Untersuchung, (1) welche sozialwissenschaftlich relevanten Zusammenhänge zwischen Lebensbedingungen, Aspekten des Lebensstils und dem Mortalitätsrisiko bestehen, und (2) ob die mortalitätsrelevante Verbindung sozialer Lebensbedingungen mit der Sterblichkeit durch Unterschiede im Lebensstil oder in der Prävalenz biologisch-medizinischer Risikofaktoren erklärbar ist. Damit wird diese Arbeit der berechtigten Forderung nach einer Einbeziehung der Mesoebene innerhalb von Mortalitätsmodellen gerecht (Steinkamp, 1999: 130), indem der gesundheitsrelevante Lebensstil unter Kontrolle einiger Aspekte ärztlicher Vorsorge und sogar biologisch-medizinischer Werte neben den klassischen sozialwissenschaftlichen Dimensionen sozialer Ungleichheit Berücksichtigung finden.

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Dies geschieht mittels einer in der Soziologie weitgehend unbekannte, epidemiologische Datenbasis dar, die im Rahmen des sog. MONICA-Projektes in der Gegend Augsburg erhoben wurde (Löwel et al., 1999: 12). MONICA steht dabei für „MONItoring Trends and Determinants in CArdiovascular Diseases“ und ist eine internationale, von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) initiierte Studie (Härtel et al., 1992: 69), die dem Autor aufgrund einer Kooperationsvereinbarung mit dem Institut für Epidemiologie der GSF - Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit GmbH - in München/Neuherberg zur Verfügung stand.

Außerdem erstreckt sich die angestrebte Aufhellung der besagten Zusammenhänge nicht nur auf die empirische Analyse sondern auch auf eine theoretische Reflexion: Es soll der Versuch gewagt werden, mögliche

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sozialwissenschaftliche Einflußgrößen und biologisch-medizinische Risikofaktoren auf die Mortalität zunächst mittels einer Literaturanalyse zu identifizieren und in ihrer tatsächlichen kausalen Bedeutung einzuschätzen. In einem nächsten Schritt soll dann versucht werden, die potentiellen Einflußgrößen innerhalb eines theoretischen Rahmengebäudes aufzulisten und nach sozialwissenschaftlicher Logik zu gruppieren. Dem Autor ist dabei bewußt, daß dieser Versuch maximal dem Anspruch einer rohen Skizze (im Sinne einer „outline for further research“: Hauser, 1983: 160) darstellen und nicht den einzig möglichen Weg einer solchen Spezifikation beanspruchen kann. Vielmehr steht es künftigen Forschungsbemühungen offen, auf die vorgeschlagene Modellskizze zurückzugreifen und diese weiterzuentwickeln.

1.3 Forschungslogik und Konzeptspezifikation

Als wissenschaftstheoretischer Zugang zu der vorliegenden Fragestellung wurde die Position des kritischen Rationalismus gewählt (Popper, 1934; Popper, 1993), was sich in der Vorgehensweise zur Bearbeitung des Explanandums niederschlägt: Nach der Darlegung des Entdeckungszusammenhangs und der Klärung der Fragestellung (Abschnitt 1) wird im folgenden zunächst eine Einordnung der Thematik in bereits vorhandene Forschungsergebnisse zu Lebenserwartung respektive Mortalität erfolgen (Abschnitt 2). Neben der Definition der wichtigsten Begriffe und der Einbeziehung relevanter Ergebnisse epidemiologischer Großstudien geht es in diesem Abschnitt vor allem um die Erarbeitung und Darstellung bekannter Einflußgrößen der Lebenserwartung.

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Aufbauend auf der Analyse des aktuellen Forschungsstandes, erfolgt in Abschnitt 3 dann die Konzeptspezifikation durch die Ausarbeitung eines Theoriemodelles und durch die Explikation von Einzelhypothesen.

Abschnitt 4 dient dann der Deskription der empirischen Datengrundlage dieser Arbeit. Insgesamt wird damit der Aufbau der Arbeit auch der Forderung der Überprüfbarkeit gerecht: Ausformulierung der Forschungsfragestellung, der Hypothesenstruktur und des Studiendesigns zuzüglich der Validierung der Daten kommt den Forderungen nach Wissenschaftlichkeit nach (Gerhardt et al., 1993: 154). Neben der Darstellung des verwendeten Datenmaterials, der exakten Konstruktion der verwendeten Variablen und der externen Validierung befaßt sich dieser Abschnitt mit den Analysemethoden. Dabei geht es insbesondere um die Frage, welches multivariate Modellkonzept die vorhandene Verlaufsdatenstruktur am besten abbildet.

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In Abschnitt 5 folgen zahlreiche bivariate Auswertungen der relevanten Variablen gegliedert nach den gewählten Themenbereichen. Hier ist die empirische Analyse des Zusammenhangs zwischen Lebensbedingungen und Lebensstilaspekten von Interesse. Hieraus sollten sich erste Hinweise auf die tatsächliche Qualität einzelner Variablen und Variablengruppen für die Fragestellung ergeben. Dem folgt die multivariate Überprüfung der vorher ausgearbeiteten Hypothesen auf dem Weg der Verlaufsdatenanalyse. Die zuvor ausgebreiteten empirischen Forschungsergebnisse werden nach deren Beschreibung jeweils direkt anschließend interpretiert und bewertet.

2.1 Theoretische Modelle der Morbidität und Mortalität

Aus der sozialwissenschaftlichen wie medizinischen Empirie sind zahlreiche

Einflußgrößen auf Morbidität und Mortalität bekannt. Dazu gehören zum Beispiel klassische sozioökonomische Variablen ebenso wie verhaltensbezogene

Risikofaktoren, askriptive oder andere interindividuelle Merkmale. Bezüglich der hierarchischen Struktur, der Wirkungsmechanismen und Interdependenzen besteht jedoch weiterhin Klärungsbedarf (Becker, 1998: 134; Clemens, 1993: 63; Hauser, 1983: 159; Höpflinger, 1997: 143; Mielck & Blommfeld, 1999: 451ff; Reil-Held, 2000: 2; Schepers, 1989: 671; Voges & Schmidt, 1996: 378). So kritisiert beispielsweise Gerhardt die vorliegenden Arbeiten zur gesundheitlichen Ungleichheit wegen ihres „theoretisch wenig reflektierten Rasters der Verbindung Verhalten-Gesundheit“ und fordert „neue Untersuchungen (...), denen theoretisch herausgearbeitete Hypothesen über Zusammenhänge zwischen Lebensverhältnissen und Krankheitstatbeständen zugrunde liegen.“ (Gerhardt, 1991: 224-228)

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Deswegen wird im folgenden zunächst aus dem aktuellen Theoriediskurs innerhalb der Ungleichheitsforschung ein Kategorisierungsvorschlag

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Entscheidung und subjektiven Präferenzen" (Georg, 1996: 175). 4

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folgendermaßen zusammen: "(...) lifestyle has therefore been used to draw together some combination of discrete behaviors with little reference to the social and cultural contexts in which they are embedded and given meaning." (Backett & Davison, 1995: 631) Um dieser Forderung gerecht zu werden, nimmt innerhalb der vorliegenden Arbeit die Analyse des Beziehungsgefüges zwischen eben diesen Lebensweisen (Rauchen, Alkoholkonsum, sportliche Betätigung bis hin zu Arbeitsplatzcharakteristika) und den Makrodimensionen (Schicht, Geschlecht, Wohnregion, Alter usw.) großen Raum ein.

Im Gegensatz dazu sind die im folgenden unter dem Terminus "Lebensstil" subsumierten Einflußgrößen

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Dimensionen der Ungleichheit seien per se gesundheitliche und/oder soziale Vor- und Nachteile. Gesundheitliche Vor- und Nachteile können die konkrete Arbeitszeit, Distress, Lärmexposition, Sexualverhalten, Drogenkonsum oder Ernährungsgewohnheiten sein. Dabei wird deutlich, daß Hradil unter dem Terminus 'Dimensionen' eher individuelle, gesundheitsrelevante "Lebensstile, Millieuzugehörigkeiten und Lebensführungen" (Hradil, 1994: 379) subsumiert. Die einzelnen Dimensionen haben per definitionem wiederum einzelne Ausprägungen wie hoch/niedrig, gut/schlecht (Kromrey, 1991: 43ff.).

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Schichtzugehörigkeit mit der Individualebene unmittelbar verknüpft wird", dies erlaube "keine Aussagen über die Wirkungsweise (Hervorh. im Original, S.S.) ungleicher Lebensbedingungen auf Gesundheit und Lebenserwartung einzelner Menschen" (Steinkamp, 1993: 115). So seien auf Mesoebene die individuell bedeutsamen sozialen Kontexte wie Partnerbeziehungen, Netzwerk- und Familienstruktur, Peers und Arbeitsverhältnisse zu berücksichtigen. Nur so sei ein Brückenschlag von Makro- zu Mikroebene und eine kausale Interpretation korrelativer Befunde realisierbar. Auf Mikroebene entscheide dann das individuelle (Coping-)verhalten und der intraindividuelle Umgang mit Ressourcen über die eigene Gesundheit und das Sterberisiko. In Steinkamps Ansatz wird der individuell gewählte Lebensstil demnach sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene (Konsum-, Sucht- und Ernährungsverhalten) definiert (Steinkamp, 1999: 130). Auf diese Unterscheidung wird bei der Modell- und Hypothesengenerierung einzugehen sein.

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Siegrist fordert zur adäquaten Durchdringung des Bedingungsgefüges ein Abrücken von diesen traditionell-sozialepidemiologischen Modellen und eine Hinwendung zu medizinsoziologisch-elaborierten hierarchischen Modellen, die objektive und subjektive Angaben berücksichtigen. Durch statistische Methoden linearer, loglinearer oder varianzanalytischer Modelle sei eine fundierte empirische Analyse möglich und angezeigt (Siegrist, 1989: 218). 5 Dem wird die vorliegende Arbeit gerecht. Gerhardt weist für multivariate Modelle darauf hin, daß die Logik der multivariaten Verursachung zwar erlaube, komplexe Zusammenhänge der Krankheitsentstehung epidemiologisch zu erfassen. Jedoch sei stets zu bedenken, welche Faktoren individuell und welche kollektiv bedeutsam seien. Anderenfalls führe die Heranziehung individuell erhobener Merkmale zur Beweisführung auf Bevölkerungsebene oder umgekehrt kollektiver Merkmale auf Individualebene zu einem sog. aggregativen bzw. zu einem atomistischen Fehlschluß (Gerhardt, 1993: 28). Aus diesem Grund wird im folgenden die Heranziehung kollektiv erhobener Merkmale vermieden. 6

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statistische Instrumentarium zur Umsetzung eines multivariaten, hierarchischen Modells zur Verfügung.

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Carr-Hill (Carr-Hill, 1990: 401) gehen in ihrem Modell zur Mortalität einen Schritt weiter und unterscheiden explizit Lebensbedingungen ("social indicators") und gesundheitsbezogenen Lebensstil (beschränkt auf "health care"). Auch wird innerhalb des Modells deutlich, daß sowohl Lebensbedingungen als auch gesundheitsbezogener Lebensstil die Mortalitätsentwicklung direkt beeinflussen können. Umgekehrt könne - auf aggregiertem Niveau und unabhängig vom Individuum - die Mortalität auch auf die Sozialstruktur (also auf die Lebensbedingungen) einwirken: "mortality may affect social conditions through changes in social policy, relation between social indicators and total mortality is bidirectional." (Carr-Hill, 1990: 401) - Diese Rückkoppelung wird in das später zu entwickelnde Modell aufzunehmen sein. Eine weitergehende Differenzierung der Faktoren fehlt jedoch auch in diesem, ebenfalls graphisch umgesetzten Modell ebenso wie die Berücksichtigung der Morbidität als weitere Outcome-Variable.

Das von Opper in ihrer Dissertationsschrift elaborierte theoretische Modell berücksichtigt als Outcome-Variable ebenfalls ausschließlich das Kontinuum Krankheit-Gesundheit. Wie beiden zuvor angeführten Modelle unterscheidet auch hier die Autorin zwischen Lebensbedingungen (ausschließlich in Form der sozialen Schichtzugehörigkeit) und dem Lebensstil. Dabei wird der Lebensstil nicht explizit so benannt, vielmehr erfolgt in diesem Fall eine an das Salutogenese-Modell angelehnte Differenzierung in Schutz- und Risikofaktoren. Zu ersteren werden beispielsweise Ernährung, Prävention, Coping und Arbeitsbedingungen gezählt, zu letzteren Laborparameter,

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Arbeitsplatzbelastungen, anthropometrische Daten und Rauch-/ Trinkgewohnheiten. Als isolierte Größe werden Fitneß und Sport separiert. Allerdings erscheint die Unterscheidung in Schutz- und Risikofaktoren forschungspraktisch wenig fruchtbar. So läßt sich beispielsweise eine cholesterinbewußte Ernährung als Schutzfaktor, gleichzeitig aber eine cholesterinreiche Ernährung als Risikofaktor auffassen. Die selbe Frage ist für Faktoren wie Arbeitsbedingungen, körperliche (In-)Aktivität, Familienstand, soziale Netzwerkstruktur usw. relevant (Opper, 1998).

Weniger stringent und strukturiert ist das Modell von Green (Green et al., 1991: 134): Sie unterscheiden als Einflußgrößen individuelle Verhaltensmuster und Wohnbedingungen, die sie zu Lebensstilvariablen zusammenfassen, und weitere unstrukturierte und teilweise redundant aufgeführte Variabeln (Alter, Geschlecht, Rasse, Umweltgegebenheiten einerseits sowie Einkommen, Bildung und Beruf andererseits). Netzwerkstruktur und gesundheitsrelevantes Verhalten werden als eigenständige Größen dargestellt und nicht dem Lebensstil zugeordnet. Allerdings

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fällt auf, daß auch sie davon isoliert Risikofaktoren, Morbidität und Mortalität unterscheiden.

Anders als die bis hier dargestellten Modelle greifen Elkeles und Mielck (Elkeles & Mielck, 1997: 140) Steinkamps Forderung nach einer Unterscheidung in Makro-, Meso- und Mikroebene explizit auf. So wird dort die Makroebene (Bündelung sozialer Lagen) mit "soziale Ungleichheit" überschrieben und durch deren Ursachen "Wissen, Macht, Geld und Prestige" repräsentiert. Entgegen dem Vorschlag Steinkamps bleiben horizontal wirksame Größen unberücksichtigt. Auf Mesoebene werden Arbeitsplatzbelastungen, die Wohnumgebung, soziale Unterstützung, Freizeitmöglichkeiten usw. angeführt. Die interindividuellen Unterschiede auf Mikroebene werden durch verschiedene Dimensionen wie etwa Rauchverhalten, Ernährung, Symptomtoleranz repräsentiert. Das individuelle Streß- und Krankheitscoping bleibt jedoch ebenfalls unberücksichtigt: "Im Unterschied zum Ansatz von G. Steinkamp enthält unser Modell jedoch keine

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Mikroebene individueller Streß- und Krankheitsprozesse, sondern als Entsprechung sozialer Ungleichheit das strukturelle Problem ‚gesundheitliche Ungleichheit'." (Elkeles & Mielck, 1997: 140)

Entlang der hier herausgearbeiteten Variablengruppen der vertikal- und horizontal-strukturierenden Lebensbedingungen sowie der Lebensstile werden nun die vorliegenden Befunde zu den Einflußgrößen einzeln dargestellt. Im darauffolgenden Abschnitt wird dann ein Modell entwickelt, das auf bisherigen Entwürfen aufbaut und die dargestellten Forderungen zu berücksichtigen versucht.

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Mortalität angelegt. Allerdings liegt der Fokus dort meist auf medizinischen und anderen naturwissenschaftlich begründeten Kausalketten ('Risikofaktoren') für die interessierenden Krankheiten (wie bspw. Myokardinfarkt, Diabetes oder Krebs). Dabei gehen die Forschungsbemühungen vor allem von Medizinern,

Naturwissenschaftlern und auch Oecotrophologen aus, während man eine bislang relativ geringe Beteiligung der Soziologie konstatieren kann. Hieraus resultiert das Phänomen, daß innerhalb der aus epidemiologischen Studien resultierenden Publikationen trotz der methodisch-inhaltlichen Voraussetzungen die Lücke zwischen Mikro- und Makroebene oft nicht oder nur unzureichend geschlossen wird. Soziologisch interessierende Variablen wie etwa Bildung, Schicht, Netzwerk, Familienstand oder Geschlecht finden oft nur als Störvariabeln respektive Confounder Berücksichtigung (Borgers & Steinkamp, 1994; Mielck & Blommfeld, 1999).

- Das Spektrum erhobener Variablen erstreckt sich von klassischen sozio- Variablen (Bildung, Einkommen, Alter, Schicht, Netzwerk, Familienstand, Geschlecht) über psychologische (Typ-A-Verhalten, Copingverhalten, Streß) hin zu medizinischen Variablen (Krankheitsprävalenzen, Morbiditätsverläufe, Körpergröße, Gewicht usw.) Neben einem Fragebogenteil beinhalten epidemiologische Studien ebenso einen Untersuchungsteil, in dem medizinisch geschultes Personal mittels standardisierter diagnostischer Maßnahmen (Puls-und Blutdruckmessung, Blutentnahmen usw.) gesundheitsrelevante Parameter wie etwa den Ruhepuls, den HDL-Cholesterin-und Triglyceridwerte, den diastolischen und systolischen Blutdruck, den Body-Mass-Index oder das maximale Atemstoßvolumen erfaßt. Somit stehen aus epidemiologischen Studien Variablen zur Verfügung, die üblicherweise in klassischen Repräsentativstudien, wie sie die Sozialwissenschaften verwenden, nicht erhoben werden. Damit ist in der Analyse eine Vorgehensweise möglich, die neben der Makro- auch die Meso- und Mikroebene zu berücksichtigen vermag.

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- Nun existieren auch zahlreiche klinische Studien, die ebenfalls medizinische sowie gesundheitsrelevante Parameter beinhalten. Epidemiologische Studien sind jedoch anders als klinische Studien i.d.R. repräsentativ für die Aussagegesamtheit angelegt und mit einer ausreichenden Fallzahl an Probanden ausgestattet.

- Epidemiologische Studien sind über einen längeren Zeitraum angelegt. So wurde beispielsweise die Framingham-Heart-Study 1948 initiiert. Die lange Laufzeit führt zu Längsschnittdatensätzen, die für Verlaufsdatenanalysen neben der erforderlichen Größe auch die nötige „statistical power“, i.e. eine ausreichende Fallzahl an Ereignissen (Todesfälle, Erkrankungen u.ä.) beinhalten.

Vor dem Hintergrund dieser Spezifika wird der Wert epidemiologischer Studien für die Soziologie deutlich. Einige bedeutende Studien seien im folgenden kurz vorgestellt.

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Die Framingham Heart Study (Feinleib, 1985) wurde 1948 vom National Heart and Lung Institute initiiert und über einen Zeitraum von 35 Jahren durchgeführt. Die Auswahlgesamtheit umfaßte rund 5.200 Personen im Alter zwischen 30 und 59 Jahren. Die Stichprobe stammt aus der Studienregion um die Stadt Framingham nahe Boston im Osten der USA. Im Rahmen dieser prospektiven Studie wurden die Studienteilnehmer initial u.a. nach soziodemographischen Angaben und Herz-Kreislauf-Risikofaktoren befragt und in einem Zwei-Jahres-Rhythmus weiterverfolgt (Lerner & Kannel, 1986: 383).

Die American Cancer Society prospective Studies bestehen aus mehreren Teilstudien (Querschnitts- und Längsschnittstudien). Die erste Studie dieser Art, die CPS I, erstreckte sich auf die Jahre 1959-1972. Die Auswahlgesamtheit umfaßte rund 50.000 Personen im Alter über 45 Jahren aus insgesamt 25 US-Bundesstaaten. Die Studienteilnehmer wurden u.a. nach soziodemographischen Angaben und Risikofaktoren befragt. Im September 1982 startete dann eine zweite prospektive Studie in ähnlichem Design (CPS II) (Garfinkel, 1985: 49f).

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Als weitere wichtige ausländische Studien sei die britische Whitehall-Studie an rund 17.500 Probanden aus dem Großraum London genannt. Die Whitehall-Studie ist ebenfalls als prospektive Längsschnittstudie beginnend im Jahre 1969 angelegt. Die Studien erstreckte sich auf die Erfassung der Lebenslage, der Lebensbedingungen, des Lebensstils sowie auf zahlreiche gesundheitsbezogene Items (Heinzel-Gutenbrunner, 2000: 21).

Eine wichtige epidemiologische Datenquelle für die Bundesrepublik stellt die Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie DHP dar. Im Rahmen der DHP wurden u.a. von 1984 bis 1986, von 1987 bis 1988 und von 1990 bis 1991 jeweils querschnittlich angelegte Gesundheitssurveys durchgeführt, die u.a. repräsentative Prävalenzdaten zu zahlreichen Gesundheitsdimensionen lieferten. Die Datensätze umfaßten hier eine Studienpopulation von jeweils rund 8.802 Befragten.

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2.3.1.1 Soziale Schicht

- Artefakt-These

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Die Erklärung des Schichtgradienten durch Artefakte geht zum einen davon aus, daß sich Gesundheit und Status allgemein nur unzureichend operationalisieren lassen, und zum anderen, daß der gefundene Zusammenhang durch methodische Mängel bei der Datenerhebung und -aufbereitung entsteht. Speziell bei der Entstehung des Black-Reports war die Berechnung von berufsbezogenen Mortalitätsraten mit dem methodischen Problem behaftet, daß Zähler (Anzahl der Verstorbenen pro Berufsklasse) und Nenner (Zahl der Beschäftigten pro Berufsklasse) aus unterschiedlichen Quellen stammten. So wurde die Anzahl der Verstorbenen pro Berufsklasse aus den (schichtspezifisch nicht repräsentativen) Todesfallbescheinigungen und die Zahl der Beschäftigten pro Berufsklasse aus den (repräsentativen) Zensusdaten abgeleitet (Davey-Smith et al., 1990a; Elkeles & Mielck, 1997). Außerdem könne bei einer ausgeprägten Aufwärtsmobilität insbesondere der unteren Schichten ein Zeitvergleich zu dem Fehlschluß eines gleichbleibenden sozialen Gradienten führen (Townsend & Davidson, 1982: 113). Jedoch scheint der erstgenannte Einwand auf den Black-Report (und Studien mit methodisch ähnlichem Vorgehen) beschränkt zu sein, der für die übrigen Studien mit ähnlichem Ergebnis aber anderem Erhebungsdesign kaum bedeutsam ist (Steinkamp, 1999). Der letztgenannte Einwand relativiere sich außerdem angesichts der Tatsache, daß eine ausgeprägte Aufwärtsmobilität in den relevanten unteren Schichten de facto nicht stattgefunden habe (Davey-Smith et al., 1990a). Hier zeigen sich die bereits angesprochenen Probleme von sekundärstatistischen Daten (Gerhardt, 1987a: 398ff.)

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Behinderungen), während die weit häufiger zitierte soziale Selektionsthese eher mit der allgemeinen gesundheitsbedingten Beeinträchtigung für das gesellschaftliche und berufliche Fortkommen argumentiert (Townsend & Davidson, 1982). Zwar konnten für eine von der Gesundheit abhängige vertikale soziale Mobilität einige ansatzweise Belege gefunden werden, es „wird jedoch bezweifelt, daß dieser Ansatz einen wesentlichen Teil der sozioökonomischen Unterschiede im Gesundheitszustand erklären kann.“ (Elkeles & Mielck, 1997) Vielmehr führt ein suboptimales Studiendesign (z.B. Querschnittserhebungen) häufig dazu, daß bei der Kausalanalyse ein Selektionseffekt nicht ausgeschlossen werden kann.

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- Kulturell-behaviorale These

Diese These hebt die Bedeutung eines (gesunden oder ungesunden) Lebensstils hervor, der wiederum schichtabhängig sei (Feinstein, 1993: 305). Hierunter lassen sich Verhaltensweisen wie Sport, Ernährung, Vorsorgeverhalten, Alkohol- und Tabakkonsum subsumieren, die wiederum einen positiven Einfluß auf die individuelle Morbidität- und Mortalität haben (behaviorale These). Eine weiterführende Differenzierung in gesundheitsrelevante Wissensbestände einerseits (kultureller Aspekt) und individuellen Verhaltens andererseits (behavioraler Aspekt) erfolgte erst später durch andere Autoren, die sich insbesondere mit der Analyse der Sozialisationswirkung individueller Bildung beschäftigten (Townsend & Davidson, 1982: 120). Auf diese Überlegungen soll im folgenden Abschnitt eingegangen werden. Zunächst aber ist in Abb. 1 die Konzeptspezifikation zu dem Explanandum „Schichtgradient“ zusammengefaßt.

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Explanandum

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Dimensionen

Theorien

Hypothesen

Anmerkung: Die Linien dienen der Visualisierung und Strukturierung. Sie bezeichnen keine Kausalbeziehungen. Quelle: Eigener Entwurf.

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Zusammenfassung: Der Zusammenhang zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und Mortalität wie auch Morbidität ist für alle betrachteten westlichen Industrienationen typisch und in zahlreichen, methodisch unterschiedlich angelegten Studien belegt. Unterschiede bestehen allerdings in der Operationalisierung der Schichtzugehörigkeit. In der internationalen Diskussion haben sich vier Erklärungsansätze etabliert: Der erste Ansatz, die Artefakt-These, scheint speziell auf den Black-Report und die dort angewendete Methodik zuzutreffen. Nach dem zweiten Ansatz, der Selektions-These, erfolge ein sozialer Abstieg bei weniger Gesunden eher als bei Gesunden. Dagegen fußt der dritte Ansatz, die materialistisch-strukturalistische These, auf der Annahme, daß gravierende Armut bzw. gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen kausal für eine schlechtere Gesundheit verantwortlich seien. Dagegen hebt der vierte Ansatz, die kulturell-behaviorale These, auf eine schichtspezifische Struktur gesundheitsrelevanter Wissensbestände und Verhaltensweisen ab.

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Verhaltensstandards geprägt (Bourdieu, 1983). Darunter fallen zum einen eher direkte Bildungseffekte wie etwa medizinische Wissensbestände (zur Hygiene und zu Krankheiten und deren Prophylaxe), die Antizipation gesundheitsrelevanten Verhaltens (Auswirkungen von Tabakkonsum, Ernährungsgewohnheiten) und funktionaler Analphabetismus bezüglich ärztlicher Anweisungen und präventiver Maßnahmen. Zum anderen bewirkt kulturelles Kapital eher indirekte Effekte wie etwa die durch Bildung erworbene Befähigung zur Selbstdisziplinierung bezüglich gesundheitsschädlicher Verhaltensweisen, Handlungskompetenz bei persönlichen Belastungssituationen (Becker, 1998; Maas et al., 1997).

Hinzu komme eine bessere Arzt-Patient-Kommunikation zwischen Oberschichtangehörigen (Gerhardt, 1991: 222): Der Aushandlungsprozeß zwischen Arzt und Patient sei durch professionelle Dominanz und ein ungleiches Machtverhältnis gekennzeichnet. Deswegen versuche sich der Patient, durch Hinweise auf seinen sozialen Status aufzuwerten, wenn er von seinem Arzt ernstgenommen werden wolle (Gerhardt, 1981: 34). Er ist leicht nachvollziehbar, daß ein solcher Ausgleichsversuch um so schwerer fallen muß, je größer der Bildungs-/Statusunterschied zwischen Arzt und Patient ist. Auch ist der durch implizite und explizite Codes (akademische Grade, Ansehen, Kleidung, Setting usw.) vermittelte Status eines Arztes grundsätzlich nur von wenigen Personengruppen (etwa Professoren, Kollegen, sonstige Akademiker) zu neutralisieren. Elaborierte, professionsspezifische Sprachcodes der Ärzteschaft erschweren vor allem für untere Bildungsgruppen zudem die Kommunikation.

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Gegenüber anderen Indikatoren zur Operationalisierung der Schichtzugehörigkeit hat das Merkmal „Bildung“ den Vorteil, daß es sich relativ früh in der Biographie manifestiert und ab dem frühen Erwachsenenalter in den meisten Fällen unverändert bleibt (Helmert et al., 1993; Hummer et al., 1998: 560; Statistisches Bundesamt, 1998a). „Das Einkommen und die berufliche Stellung werden oftmals durch eine chronische Verschlechterung des Gesundheitszustandes negativ beeinflußt. Es ist deshalb schwierig zu entscheiden, ob niedriges Einkommen und/oder niedrige berufliche Position Ursache oder Folge eines schlechten Gesundheitszustandes sind.“ (Statistisches Bundesamt, 1998a: 108) Zwar ist nicht auszuschließen, daß die gesundheitliche Lage in jungen Jahren einen Einfluß auf die schulische Laufbahn ausübt, aber die Bedeutung eines solchen Selektionseffektes ist als eher gering einzustufen (vgl.

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dazu auch Absch. 2.3.1.1, Maas, 1997). „Beim Schulabschluß, der ja relativ früh im Lebenszyklus liegt, spielen gesundheitliche Vorschädigungen sicherlich eine deutlich geringere Rolle. (...) Daß der Schulabschluß stark mit der sozialen Stellung der Eltern und entsprechenden Lebensstilen während der Kindheit zusammenhängt, ist auch klar.“ (Schepers & Wagner, 1990) Somit wirkt Bildung langfristig bereits von Geburt an auf die Lebenserwartung (Becker & Lauterbach, 1997) und ist vom späteren Gesundheitsniveau unabhängig (Höpflinger, 1997: 164). Durch die frühe Manifestation dieses Indikators ist es außerdem möglich, auch den Status von aktuell nicht Berufstätigen zu messen (Lahelma & Valkonen, 1990: 260; Overbeek, 1982: 88), sofern die aktuelle Berufstätigkeit dabei nicht berücksichtigt werden soll.

Vor dem Hintergrund der noch immer anhaltenden Bildungsexpansion erstreckt sich der Bildungsprozeß über den ersten allgemeinbildenden Schulabschluß hinaus auch auf Abschlüsse des sekundären und tertiären Bereiches. Sofern das verwendete Datenmaterial es zuläßt, erscheint es ratsam, mit einem kombinierten Schul- und Berufsausbildungsindex zu operieren. Einen möglicherweise nachweisbaren Bildungseffekt vor allem mit bildungsspezifischen Wissens- und Verhaltensspezifika zu erklären, setzt allerdings voraus, daß Berufs- und Einkommenseinflüsse in den empirischen Analysen als eigenständige Größen mit kontrolliert sind. Aber auch um das soziologische Phänomen der Statusinkonsistenz zum erfassen, sollte die Variablenauswahl sich nicht auf die Variable „Bildung“ beschränken. „Selbst wenn man der Meinung ist, daß Bildung, berufliche Position und Einkommen auch heute noch als Indikatoren zur Erfassung der Kernstruktur sozialer Ungleichheit in modernen Gesellschaften geeignet sind, so wird aber mit der vornehmlichen Berücksichtigung nur e i n e r

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Inaktiver kontinuierlich. (Oppolzer, 1994; Statistisches Bundesamt, 1998a: 110). Auch das Inanspruchnahmeverhalten präventiver Maßnahmen ist bildungsabhängig (vgl dazu Abschnitt 2.3.3.9).

Zusammenfassung: Bildung läßt sich einerseits als Akkumulation kulturellen Kapitals sowie andererseits als eine Investition in Humankapital verstehen. Bildung in Form kulturellen Kapitals führt zum Erwerb und zur Internalisierung kultureller Wissensbestände und Verhaltensstandards. Darunter fallen medizinische Wissensbestände zu Krankheitsursachen und -verläufen, zu

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ärztlichen Anweisungen und präventiven Maßnahmen ebenso wie die durch Bildung erworbene Befähigung zur Selbstdisziplinierung bezüglich gesundheitsschädlicher Verhaltensweisen. Demgegenüber läßt sich Bildung auch als eine Investition in Humankapital, etwa in die eigene Aus- und Weiterbildung interpretieren, die per se wiederum den Erwerb gesundheitsrelevanter Wissenbestände und andererseits (die intellektuelle und finanzielle Möglichkeit für) einen gesundheitsrelevanten Lebensstil nach sich ziehen können. Empirisch ist eine Korrelation zwischen Bildung und Morbidität wie auch Mortalität in zahlreichen Studien belegt.

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Präventionsstudie wurden Äquivalenzparameter des deutschen Sozial- verwendet. Dabei wird das Äquivalenzeinkommen für Mehrpersonenhaushalte definiert als das Haushaltsnettoeinkommen dividiert durch die Summe aller (gewichteten) Haushaltsmitglieder (Helmert et al., 1997). Ein ähnliches Vorgehen wählt Reil-Held für eine Analyse des SOEP (Reil-Held, 2000). Klein (1999) und Klein und Unger (Klein & Unger, 1999) definieren das Äquivalenzeinkommen anhand eines Äquivalenzparameters, der an eine Skala der OECD angelehnt ist und vergleichsweise geringe Ersparnisse durch gemeinsames Wirtschaften unterstellt (Klein & Unger, 1999).

So führe das häufigere Vorhandensein einer privaten Zusatz- oder Krankenversicherung bei ökonomisch Bessergestellten dazu, daß diese eher in den Genuß innovativer und erfolgreicherer Behandlungs- und Heilmethoden kommen (Overbeek, 1982: 88). Hummer wie Feinstein betonen dagegen die schichtabhängige Qualität von Gebrauchsgütern wie bei der Wahl der Sportausrüstung, von Transport- und Nahrungsmitteln (Feinstein, 1993: 305; Hummer et al., 1998: 560). Eine weiterführende Überlegung bezüglich der Wirkung ökonomischer Ressourcen wäre, daß es bei gleicher Erkrankung ökonomisch Bessergestellten eher möglich ist, Maßnahmen zu ergreifen, um die aus der Erkrankung resultierenden, subjektiven Beeinträchtigungen so gering wie möglich zu halten. Als Beispiel sei die Anschaffung und/oder Installation

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geeigneter, aber evtl. teuerer Hilfsmittel angeführt (Treppen- oder Wannenlifte, qualitativ hochwertige Prothesen, Gehhilfen, Hörgeräte u.ä.). Bei ökonomisch Bessergestellten, die unter objektiven Kriterien als gleich krank respektive gesund einzustufen wären wie Befragte mit geringerer ökonomischer Ausstattung, würde sich die gleiche objektive Erkrankung demnach subjektiv weniger belastend auswirken. Hinzu kommt, daß negative Auswirkungen der Erkrankung wie Arbeitsplatzverlust und drohende ökonomische Einbußen Besserverdienern subjektiv weniger folgenreich erscheinen könnten als der Vergleichgruppe (Markides, 1979). 7 Sämtliche Argumentationen legen für Personen mit höherem Einkommen eine subjektiv positivere Einschätzung einer etwaigen Erkrankung nahe. Dieser Erklärungsansatz ist unabhängig von der Frage, für welche der Vergleichsgruppen eine realistischere Einschätzung zu vermuten ist. So ist eine subjektive Verharmlosung für die höher Gebildeten ebenso möglich wie die subjektive Dramatisierung derjenigen mit geringerer Bildung. Entscheidend ist vielmehr die mögliche somatische Wirkung einer psychischen Belastungssituation.

Marmot leitet mit den plakativen Fragen: „Is a color television better for health than a black and white one? Is a holiday in Spain better than one on the English coast?” (Marmot, 1994) zu seiner These über, daß das individuelle Einkommen

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erst unterhalb der relativen Armutsgrenze gesundheitlich bedeutsam werden dürfte. Auch bundesdeutsche Daten weisen darauf hin, daß sich der Zusammenhang zwischen Vermögen und Sterberisiko vor allem in hohen Sterbeziffern des untersten Vermögensquartil ausdrückt, während er in den oberen drei Vermögensquartilen wesentlich schwächer ist (Reil-Held, 2000: 5). Entsprechend definieren Klein (Klein, 1999), Siegrist, Frühbuß und Grebe (Siegrist et al., 1998: 77) sowie Helmert et al. (Helmert et al., 1997) ein Haushaltseinkommen, das unter 50% des Bundesdurchschnittes liegt, als Armutsschwelle bzw. relative Armut. Befragte unterhalb der Armutsgrenze haben häufiger einen ungesunden Lebensstil, rauchen häufiger, treiben seltener Sport, haben häufiger Bluthochdruck, Übergewicht und ungünstigere Cholesterinwerte. Zudem weisen sie einen vergleichsweise schlechteren Gesundheitszustand auf. Während für allergische Erkrankungen und Krebs die Prävalenzwerte für Befragte unterhalb der Armutsgrenze (etwas) günstiger sind, ist das Erkrankungsrisiko für Herz-Kreislauferkrankungen, für Krankheiten des Skelettes und für Bronchitis für diese Gruppe fast durchweg höher.

2.3.1.4 Berufliche Stellung

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Arbeitswelt verbunden. Somit operationalisiert die Variable ‚berufliche Stellung‘ am ehesten die im Black-Report formulierte strukturalistische These. Anders als die vorher besprochenen Faktoren Einkommen und Ausbildung fokussiert die berufliche Stellung also die direkte berufliche Situation, in der Erwerbstätige einen großen Teil ihres Lebens verbringen. Demnach geht es in diesem Abschnitt um die direkten Wirkungen, die „primären Effekte“ (Oppolzer, 1994) der Arbeitswelt auf die Gesundheit. „Sekundäre Effekte“ der Arbeitswelt, die über die ökonomischen Verhältnisse (Einkommen) oder die individuelle Lebensweise (bildungsabhängiger Lebensstil u.a.) wirksam werden, wurden bereits erörtert und bleiben in der Folge bei der Interpretation der Variable „Beruf“ unberücksichtigt (Oppolzer, 1994).

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Lärmtaubheit) und indirekt (erhöhter Blutdruck, Herz-Kreislauf-, Magen-Darm- auf den Körper. Mechanische Schwingungen durch Erschütterungen und Vibrationen (motorbetriebene Sägen und Schleifmaschinen, Preßluftgeräte, Fahrtätigkeit) können bspw. zu Schädigungen der Hals- und Lendenwirbelsäulen führen. Elektromagnetische Felder, radioaktive Strahlung und starke Temperaturschwankungen können ebenso gesundheitsschädigend wirken wie Dauerbelastungen der Atemluft. Dazu zählen z.B. toxische (Blei, Zink, Chrom, Cadmium), allergisierende (Zement, Chromat, Mehl, Holz), kanzerogene (Asbest, Nickel), radioaktive (Uran, Radium) oder fibrinogene (Asbest, Silikat) Stäube, die obiger Reihung entsprechend zur Schädigung innerer Organe, Dermatosen, Bronchialasthma, Krebs, Asbestose und Silikose führen können (Bannasch, 1987; Becker, 1998; Duch & Sokolowska, 1990: 347).

Gleichwohl resultieren methodische Einschränkungen zum einen aus der Tatsache, daß innerhalb einer Berufskategorie sehr unterschiedliche Arbeitsplätze subsumiert sind. So darf nicht ex ante davon ausgegangen werden, daß eine Unterscheidung in Arbeiter einerseits und Angestellte/Beamte andererseits die mortalitätsrelevanten Aspekte beruflicher Tätigkeit ausreichend abbilden (Gerhardt et al., 1993: 115). Die etablierte Unterscheidung zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten wird vor dem Hintergrund zunehmenden Wandels der

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Arbeitswelt und gesellschaftlicher Differenzierung und Individualisierung unschärfer. Gerhardt weist mehrfach darauf hin, daß Facharbeiter, Vorarbeiter und Industriemeister immer häufiger statt körperlicher Arbeit auch administrative Tätigkeiten und Kontrollfunktionen übernehmen (Gerhardt et al., 1993: 115) und überwiegend angestellte Frauen dennoch stausniedrigere Qualifikations- und Einkommensniveaus aufweisen als Teile der männlichen Arbeiter (Gerhardt, 1987a: 411). Durch die Berücksichtigung beruflicher Belastungsdimensionen (Streß, Arbeitsplatzumfeld, körperliche Belastung) wird dieser Einwand im empirischen Teil der Arbeit berücksichtigt.

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stellungsspezifischen Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken zumindest zum Teil auch auf einer unterschiedliche Belastung außerberuflich angesiedelter Risikofaktoren basieren kann. So bestätigen Mikrozensusdaten u.a. für die genannten Berufsgruppen „Hilfsarbeiter“, „Friseure“, „Küchenpersonal“, „Kellner“, „Lagerarbeiter“, „Schuhmacher“, „Spuler/Zwirner“ überdurchschnittliche Raucher-und auch Raucherinnenquoten (Borgers, 1988). Bekannt ist auch, daß Führungskräfte bzw. beruflich Höhergestellte tatsächlich eine geringere Belastung mit den bedeutendsten Risikofaktoren aufweisen als die jeweiligen Counterparts (Bormann & Schröder, 1994; Claßen, 1994; Helmert et al., 1993; Klosterhuis & Müller-Fahrnow, 1994; Korczak, 1994; Kunzendorff, 1994; Marmot, 1994). Härtel et al. (Härtel et al., 1993) berichten bezüglich der Risikofaktoren „Alkohol“ und „Zigarettenkonsum“, daß die Prävalenz dieser Risikofaktoren bei Männern uneinheitlich sei und allenfalls grob negativ mit der beruflichen Stellung korreliere.

Zusammenfassung: Mit der beruflichen Stellung und der Position innerhalb der betrieblichen Hierarchie sind typische Ungleichheiten im Hinblick auf die Belastungen in der Arbeitswelt verbunden. Gemeint sind hier also die direkten Wirkungen („primären Effekte“) der Arbeitssituation auf die Gesundheit. Belastungen in Form von körperlichen Über- und Fehlbeanspruchungen, physikalischen, chemischen und biologischen Umgebungseinflüssen sowie die psychische Beanspruchung am Arbeitsplatz sind deutlich schichtabhängig. Daraus resultiert ein negativer Zusammenhang zwischen beruflicher Stellung und Morbidität sowie Mortalität. Beim Vergleich Erwerbstätige mit Nichterwerbstätigen zeigt sich für letztere ein ungünstigerer Gesundheitszustand und ein höheres Mortalitätsrisiko. Methodisch ist stets auch ein Selektionseffekt durch Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit zu berücksichtigen („Healthy-Worker-Effekt“). Und

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schließlich kann der Zusammenhang zwischen positionsbzw. stellungsspezifischen Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken zum Teil auch auf einer unterschiedlichen Prävalenz außerberuflicher Risikofaktoren basieren.

2.3.2.1 Geschlecht

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Biologische Thesen

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Belastungs-These

Lebensstil-These

Präventions-These

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Belastungen, was zu einem Voranschreiten von Erkrankungen und einem Behandlungsbeginn zu einem therapieungünstigeren Zeitpunkt führen kann (Eickenberg & Hurrelmann, 1997: 123; Geißler, 2000; Overbeek, 1982: 86). Verstärkt wird eine höhere Inanspruchnahme präventiver Maßnahmen der weiblichen Population durch die ohnehin aus mehreren Gründen nötige regelmäßige Konsultation eines Gynäkologen. Für Lebensstil- wie Präventionsthese gilt jedoch ebenso das oben Gesagte: Eine höhere Morbidität der Frauen ist damit nicht erklärt.

Da Frauen eine relativ höhere Sensibilität und Aufmerksamkeit im Umgang mit dem eigenen Körper zugesprochen wird, mag auch die Wahrnehmung körperlicher Unregelmäßigkeiten bei Frauen ausgeprägter sein. Zimmermann (Zimmermann, 1977) vermutet als weiteren verstärkenden Effekt, daß (häufig nicht berufstätige) Frauen über bessere zeitliche Möglichkeiten verfügten, einen Arzt aufzusuchen. Beides wirke sich sowohl auf objektive Indikatoren (Anzahl bekannter Diagnosen, Anzahl an Arztbesuchen) als auch auf das subjektive Empfinden aus: Das objektive Wissen um eine entdeckte Erkrankung erhöhe die Bereitschaft, sich den subjektiven Status ‘krank’ zuzuschreiben (Zimmermann, 1977). Gekoppelt mit der Tendenz, daß Frauen eher sozialisiert werden, Emotionen und wahrgenommene körperliche Symptome zu äußern, führen die genannten Spezifika außerdem zu einer insgesamt besseren Gesundheitsvorsorge bei Frauen (Overbeek, 1982: 86). Verstärkt wird ein solcher Effekt auch durch eine größere medizinische Expertise bspw. durch die Pflege von Kindern und/oder behinderter Betagter resultieren (Eickenberg & Hurrelmann, 1997: 123). Es ist fraglich, ob die subjektiv unterschiedliche Wahrnehmung einer Erkrankung, evtl. gekoppelt mit einer objektiv häufigeren Diagnose, erklärt, daß

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Mädchen. Bereits die Säuglingssterblichkeit ist bei Jungen erheblich höher (Dinkel, 1992: 75; Höpflinger, 1997: 173). Auch im weiteren Verlauf des Kindesalters liegen die Morbidität und die Mortalität bei Jungen, bspw. aufgrund einer höheren Inzidenz für Atemwegserkrankungen, Leukämie, aber auch einer höheren Unfallhäufigkeit (insbesondere im Straßenverkehr), über derjenigen der Mädchen (Overbeek, 1982: 86). Die höhere Vulnerabilität von Jungen erstreckt sich ebenfalls auf psychische Störungen (wie etwa Neurosen, hyperkinetisches Syndrom) und aggressives ebenso wie dissoziales Verhalten (Roth, 2000: 24). Jungen haben zudem bis zum Eintritt der Pubertät eher Übergewicht (Eickenberg & Hurrelmann, 1997: 118).

Während (ab der Pubertät und im Erwachsenenalter) das weibliche Geschlecht also zumindest eine ungünstigere physische Morbiditätssituation aufweist (Dinkel,

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1992: 75; Maseide, 1990: 334), liegen in jedem Abschnitt des Lebensverlaufs die Mortalitätsraten für Männer über derjenigen für Frauen (Dinkel, 1984: 486; Eickenberg & Hurrelmann, 1997: 121). Zu diesem Ergebnis kommen auch Klein und Unger (Klein & Unger, 1999) im Rahmen einer Analyse zur aktiven Lebenserwartung mit Daten des Sozio-ökonomischen Panel. Der von den Autoren verfolgte methodische Ansatz erlaubt eine Differenzierung in aktive und passive Lebenserwartung und gleichzeitig eine Untersuchung des Erkrankungsrisikos sowie der Gesundungschance. Als Ergebnis sind die Mortalitätsraten der aktiven und der inaktiven Population jeweils für Männer höher als für Frauen, wohingegen die Erkrankungs- und die Gesundungsraten für Männer niedriger liegen. Dabei scheint die höhere Mortalität von Männern mehr auf den aktiven Gesundheitszustand bezogen als darauf, daß sie eher erkranken und deshalb eher sterben (Klein, 1999: 171ff.) Zusammenfassend läßt sich also festhalten: „Männer haben zwar absolut weniger Lebensjahre als Frauen zu erwarten, davon wird aber ein höherer Anteil frei von gesundheitlicher Beeinträchtigung verbracht.“ (ebd.) Diese Situation bleibt für den restlichen Lebensverlauf unverändert.

9 Dabei weist der Autor auf die Bedeutung der geschlechtsspezifisch möglicherweise un-

terschiedlichen, subjektiven Krankheitsperzeption hin (Roth, 2000: 25).

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Männer deutlich angestiegen (Höpflinger, 1997: 171). Demzufolge liegt die Lebenserwartung von Männern in westlichen Industrienationen derzeit ca. sieben Jahre hinter der von Frauen (Dinkel, 1992: 74; Eickenberg & Hurrelmann, 1997: 121). Die Übersterblichkeit von Männern ist heute ein weltweites Phänomen der entwickelten Nationen.

Zusammenfassung: Während ab der Pubertät und im Erwachsenenalter das weibliche Geschlecht eine ungünstigere Morbiditätssituation aufweist, liegen in jedem Abschnitt des Lebensverlaufs die Mortalitätsraten für Männer über derjenigen für Frauen. Derzeit liegt die Lebenserwartung von Männern in westlichen Industrienationen ca. sieben Jahre hinter der von Frauen. Diese Übersterblichkeit von Männern ist ein weltweites Phänomen entwickelter Industrie-und Dienstleistungsnationen. Als Ursachen für diese Geschlechtsunterschiede werden verschiedene Ansätze diskutiert: Die hormonelle und endokrinologische These betonen vor allem die hormonalen Unterschiede und deren protektive Wirkung für Frauen. Die Belastungs-These erklärt die männliche Übersterblichkeit durch ungünstigere Arbeitsplatzbedingungen. Die Lebensstil-These hebt das geschlechtspezifische Gesundheits- und Risikoverhalten hervor. Dagegen betont die Präventions-These die unterschiedliche, geschlechtsspezifische Inanspruchnahme von medizinischen und psychologische Hilfeleistungen. Schließlich spricht die Wahrnehmungs-These

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Frauen eine höhere Sensibilität und Aufmerksamkeit im Umgang mit dem eigenen Körper zu, was durch eine größere medizinische Expertise verstärkt werde.

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Unterstützung denke man an Freundschaften, Kommunikation und soziale Interaktion, die durch Kontakte zu anderen Gemeindemitgliedern entstehen können (Rodgers, 1996: 328). Bezüglich formeller Unterstützung denke man an kirchliche resp. karitative Einrichtungen, die insbesondere im Krankheitsfall, nach „life events“ oder/und im hohen Alter eine wichtige Unterstützungsfunktion ausüben (Pflegedienste, Beratung zum Umzug in stationäre kirchliche Einrichtungen, Gemeindedienste / Pargament, 1982: 166). Für Ältere oder/und Kranke sind Personen in ihrer Rolle als Gemeindemitglieder (Gemeindeschwestern, Pfarrer, Diakone) oft die einzigen „Links“ zur Kommune und zu Institutionen, in einigen Fällen leisten Kirchen auch existentielle finanzielle Unterstützung (Taylor & Chatters, 1986: 436). Dies verdeutlicht, daß der Support sowohl aus schwachen (weak ties) als auch aus starken Bindungen (close ties) resultieren kann (Granovetter, 1973; Idler & Kasl, 1992: 1053). 10

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nikotinbedingter Erkrankungen auf (Levin & Schiller, 1987: 18; Idler & Kasl, 1992: 1055).

Neben dem hier hypothetisch-strukturierend in Support- und Anomie-Effekt unterteilten Netzwerk-Effekt ist schließlich auch ein Effekt denkbar, der unabhängig von einer aktiven Integration in die kirchliche Gemeinschaft auftreten kann. So kann allein der christliche Glaube - auch ohne die Teilnahme an gemeinschaftlichen Zeremonien, sog. private Religiosität (Interiorized Religiosity oder Religiousness) versus die o.g. öffentliche Religiosität (Institutionalized Religiosity oder Church Attendence) (Idler & Kasl, 1992: 1064ff.; Levin & Schiller, 1987: 13; Zuckerman et al., 1984: 420) - stabilisierend auf die Psyche und auch auf die Physis wirken (Stabilisierungsthese): Die Kirchen vermitteln ihren Mitgliedern christliche Werte, Vertrauen auf Gott, Transzendenz, Bindung, ein positives Menschenbild (Pargament, 1982: 170) soziale Integration und Integrität (Witter et al., 1985: 332). Außerdem können Gebete als Instrument für den Umgang mit Problemen eingesetzt werden (Larson et al., 1986: 330). Levin und Schiller (Levin & Schiller, 1987: 9) sprechen in diesem Zusammenhang von „Faith that heals“ im Sinne eines Placebo-Effektes.

Diese Argumentationsstränge münden sämtlich in der These, daß konfessionell Gebundene, und hier insbesondere Katholiken, einem geringeren Morbiditäts-und Mortalitätsrisiko ausgesetzt sind als Konfessionslose (Klein, 1993b: 716).

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Anmerkung: Die Linien dienen der Visualisierung und Strukturierung. Sie bezeichnen keine Kausalbeziehungen. Quelle: Eigener Entwurf.

Witter et al. (Witter et al., 1985: 332ff.) führten eine Meta-Analyse von insgesamt 28 Studien durch, die private und/oder öffentliche Religiosität mit Indikatoren sub- jektiven Wohlbefindens in Verbindung setzten. Die Metaanalyse belegt einen posi-

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tiven Zusammenhang dieser beiden Größen bei gleichzeitigem Auftreten eines Al- und eines Kohorteneffektes. Der Einfluß der Religiosität scheint demnach mit dem Lebensalter zu- und historisch abzunehmen.

Die empirische Datenlage zum Zusammenhang zwischen Mortalität und Konfession ist uneinheitlich: Seeman et al. (Seeman et al., 1987: 717) berichten im Rahmen eines 17-Jahres-Follow-Up der Alameda-County-Studie von einem geringeren Mortalitätsrisiko für Mitglieder einer kirchlichen Gruppierung gegenüber Nichtkirchenmitgliedern. Diese Daten sprechen eher für die Gültigkeit der Anomiethese als für die Support-These, da die gleichzeitig mitkontrollierte Variable ‚Mitgliedschaft in einer anderen sozialen Gruppe (Partei, nichtkirchliche Gemeindegruppe u.ä.)’ keinen signifikanten Effekt auf die Sterblichkeit hatte. 11

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Demgegenüber berichtet Klein (Klein, 1993b: 724ff.) unter multivariater Betrachtung von einer höheren Lebenserwartung und einem geringeren Mortalitätsrisiko für Konfessionslose im Vergleich zu konfessionell Gebundenen. Unter diesen wiederum haben Protestanten gegenüber Katholiken die höhere Lebenserwartung und ein geringeres Mortalitätsrisiko.

Gleiches dürfte für Katholiken gegenüber Protestanten zutreffen, da erstgenannte Glaubensrichtung eine besonders starke Integration in die kirchliche Gemeinschaft fordert. Die empirische Datenlage ist allerdings uneinheitlich. Während US-amerikanische Studien von einer höheren Lebenserwartung und einem geringeren Mortalitätsrisiko für Konfessionslose im Vergleich zu konfessionell Gebundenen berichten, belegen deutsche Daten das Gegenteil.

11 Unter der Annahme, daß andere Gruppenzugehörigkeiten (Vereinszugehörigkeit,

(siehe folgende Seite.)

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2.3.2.3 Alter

Bezüglich der Mortalität findet sich erwartungsgemäß ein negativer Einfluß des Lebensalters (Becker, 1998; Becker & Lauterbach, 1997: 211; Klein, 1993b; Klein, 1995: 315; Klein, 1999; Klein & Unger, 1999; Schepers & Wagner, 1990: 677; Voges, 1989: 395ff).

nichtkirchliche Gruppenmitgliedschaft) eine geringere Handlungsadaption erfordern.

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Anmerkungen:

1) Soweit bekannt: Größe der in die Berechnungen eingeflossenen Teilstichprobe, anderenfalls: Gesamtstichprobengröße. 2) 0 = kein signifikanter Alterseinfluß feststellbar. Quelle: Eigener Entwurf.

Neben diesen Zusammenhängen mit den hier zu untersuchenden Abhängigen existieren des weiteren erwartungsgemäß Korrelationen mit allen anderen in Abschnitt 2.3 zu besprechenden Unabhängigen (Blutdruck, BMI, Pulsfrequenz, Einkommen, Familienstand usw., Ford et al., 1994: 1049). Deren Altersabhängigkeit, in der Medizin auch „Altersgang“ bezeichnet, wird in den zugehörigen Abschnitten detailliert erläutert und soll hier nicht wiederholt werden.

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2.3.2.4 Familienstand

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geordneteren und gesünderen Lebensstil. „Eating was now presented as necessarily more orderly, ‚sensible’ and regular; exercise should not be to intrusive into family life and certainly not result in injury; the health damaging effects of smoking became unacceptable once one had responsibilities for bringing up children; and alcohol consumption could only occasionally be excessive (…)” (Backett & Davison, 1995).

Denkbar ist auch, daß eine Partnerschaft das Wissen um den Zugang zu gesundheitlicher Versorgung mehrt (Baumann et al., 1998). Auch der soziale Support im Krankheitsfall kommt im Rahmen dieser „Protektionsthese“ zum Tragen (Baumann et al., 1998; Seeman et al., 1987). Man denke an den rettenden Hilferuf durch den Ehepartner (Klein, 1993b). Diese Faktoren mögen zusammengenommen eine längere Lebensdauer begünstigen.

Während die Argumentation einer protektiven Wirkung der Ehe vor allen für Männer zutreffen dürfte, ist es denkbar, daß diese Wirkung für Frauen aus mehreren Gründen relativiert wird (Gove, 1973). So besagt auch die These von Gove (Gove, 1973), daß Frauen vor allem psychisch weniger von der Ehe profitieren als Männer. Vor dem Hintergrund des oben Gesagten könnte insbesondere für Frauen das Argument zutreffen, daß es auch „sicher Ehepartner (gibt), die mehr sozialen Streß erzeugen als soziale Unterstützung geben“ (Klein, 1992: 100). Hibbard und Pope argumentieren weitergehend, daß das subjektive Empfinden des typischen weiblichen Rollensets, der sozialen Unterstützung, des Identitätszuwachses, der Rollenkonflikte und des resultierenden sozialen Stresses für die Wirkung der Ehe auf die Morbidität und Mortalität entscheidend sei (Hibbard & Pope, 1993). Erfolgt z.B. keine Beschäftigungsaufgabe, so können nach der Heirat berufliche Konflikte, Zusatzbelastungen durch die erweiterte

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Haushaltsführung und die Doppelbelastung durch Beruf und Familie kumulieren. Während diese Belastung durch Werner empirisch (Werner, 1992: 144) belegt ist, weisen die Befunde der Alameda-County-Study in einer andere Richtung: Hier hatten verheiratete Frauen mit Kindern im Vergleich zu Hausfrauen oder kinderlosen Berufstätigen über eine 18-Jahres-Periode geringere Mortalitätsrisiken (Kotler & Wingard, 1989: 607ff).

Damit läuft dieser Argumentationsstrang für die verheiratete Subpopulation auf die Frage hinaus, welcher Arbeits- und Lebenskontext zumindest im Idealtypus gesundheitlich abträglicher ist: Ein geregeltes Arbeitsleben eines Mannes mit regelmäßiger Unterstützung in der täglichen Freizeit bzw. bei Krankheit und einem Zugewinn an sozialen Kontakten durch die Ehefrau oder ein mehrdimensionales, dichtes Rollenset der Frau als Mutter, Hausfrau, Ehefrau,

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Pflegeperson und möglicherweise haupt- oder nebenberufliche Arbeitnehmerin, die im Krankheitsfall seitens des Ehepartners in der Regel wenig Unterstützung erfährt.

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d.h. in zahlreichen Studien ist die Lebenslaufperspektive vernachlässigt. So fanden Seeman et al. im Rahmen eines 17-Jahres-Follow-Ups der Alameda-County-Studie für 38-60jährige Verheiratete erwartungsgemäß ein signifikant geringeres Mortalitätsrisiko, während sich dieses Ergebnis für höhere Altersgruppen nicht replizieren ließ (Seeman et al., 1987) 12 . Dies mag an der Variablenerhebung zum Zeitpunkt der Baseline-Studie liegen. Unter den vormals verheirateten über 60jährigen lag der Anteil Verwitweter zum Follow-Up-Zeitpunkt zwischen 15 und 46%.

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1995; Reil-Held, 2000; Seeman et al., 1987) 13 .

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eine signifikante, risikosenkende Wirkung der Ehe feststellten. „Während offenbar bei Frauen ein geregeltes Leben der Verheirateten, ein vergleichsweise gesunder Lebensstil und emotionale Ausgeglichenheit (..) prophylaktisch wirken, gibt bei Männern die Unterstützung durch den Partner im Krankheitsfall den Ausschlag für längeres Leben der Verheirateten.“ (Klein & Unger, 1999: 175). So dürfte in der Mehrzahl ehelicher Dyaden der weibliche Part die größere medizinische Expertise ausgebildet haben, so daß kranke Ehefrauen durch die Anwesenheit eines Ehemannes nicht signifikant besser versorgt sind als Nichtverheiratete. 15 Umgekehrt profitieren Frauen häufig sofort nach der Heirat von besseren materiellen Lebensbedingungen. Die pauschale Hypothese, daß Männer stärker von der Ehe profitieren als Frauen, erscheine demnach zu undifferenziert (Klein, 1999).

Hibbard und Pope bedienen sich des Instrumentariums der Rollentheorie, um zu überprüfen, ob bei Verheirateten Rollenkonflikte und Rollenoverload zu sozialem Streß und damit erhöhter Mortalität führt oder ob das psychische Wohlbefinden und der Identitätszuwachs als positive Heiratseffekte überwiegen (Hibbard & Pope, 1993). Im Ergebnis bestätigt sich auch hier die geschlechtsspezifische Wirkung der Ehe: Während für Männer das familiale Rollenset keine signifikante Wirkung auf den Gesundheitszustand und die Sterblichkeit zeigte, wirkten bei Frauen die Variablen „eheliche Gleichberechtigung“ und „eheliche Partnerschaft“ als mortalitätsreduzierende

14 Zu den Ergebnissen für die höheren Altersgruppen vgl. die weiter oben stehenden

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Größen. Auch aus diesen Ergebnissen wird also deutlich, daß die Gove-These zu kurz greift.

Zusammenfassung: Bezüglich des Zusammenhanges zwischen Morbidität bzw. Mortalität und individuellen Familienstand wird in der Literatur eine ungünstigere Risikostruktur der Nichtverheirateten angenommen. Verantwortlich seien ein ausschweifender Lebensstil, fehlender familialer Schutz, eine geringere psychische Stabilität und eine schlechtere finanzielle Absicherung. Alternativ wird in diesem Zusammenhang außerdem die Selektionsthese angeführt, nach der gesündere Personen mit einer folglich höheren Lebenserwartung eher heiraten als Personen mit gesundheitsschädlichen, risikoaffinen Charakterzüge, Suchtverhalten, psychischen Störungen, geringem Einkommen usw. Tendenziell ist eine günstigere Risikostruktur für Verheiratete im Vergleich zu Nichtverheirateten empirisch belegt. Unter den Unverheirateten haben die Geschiedenen das höchste und die Ledigen das geringste Mortalitätsrisiko. Während die vorliegenden Befunde für Männer weitgehend in die erwartete Richtung weisen, scheinen die angeführten Erklärungsansätze angesichts einiger uneinheitlicher Befunde für Frauen allerdings nicht gänzlich ausreichend zu sein.

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Angesichts des Befundes aus der West-of-Scotland Twenty-07-Studie, daß nämlich die Klassenzugehörigkeit über alle Altergruppen positiv sowohl mit dem Gesundheitszustand als auch mit der Körpergröße korreliert, schlußfolgern Ford et al, daß die Körpergröße ein guter Indikator für zurückliegende und künftige Gesundheit sei (Ford et al., 1994). Die britische Whitehall-Studie ergab über einen 10-Jahres-Zeitraum hinweg unter Kontrolle von Alter und Status für große Personen signifikant geringere Mortalitätsraten für koronare Herzerkrankungen, andere Todesursachen und die Gesamtsterblichkeit (Marmot et al., 1984).

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Zusammenhang zwischen der Körpergröße einerseits und der Schulbildung, der zurückliegenden und künftigen Gesundheit sowie der Gesamtsterblichkeit andererseits. Angesichts des sozialwissenschaftlichen Zuschnitts der vorliegenden Arbeit sollen biologische Aspekte in den abschließenden eigenen Analysen nicht berücksichtigt werden. Der Vollständigkeit halber sollten diese Faktoren dennoch nicht unerwähnt bleiben.

In Anlehnung an Karvonen (Karvonen & Rimeplä, 1997: 1089) lassen sich drei gesundheitsrelevante Erklärungspfade ausmachen, die bei einer Einbeziehung regionaler Indikatoren in eine Morbiditäts- oder Mortalitätsuntersuchung wirksam sein können:

- Zweitens ist denkbar, daß bestimmte Regionen oder kleinräumige Aggregate kulturelle oder subkulturelle Besonderheiten aufweisen, die gesundheitlich relevant sein können. Man denke an ethnisch einseitig bevölkerte Stadtbezirke (Chinatown, türkische Wohngebiete in Berlin-Kreuzberg) oder religiöse Subkulturen (jüdische oder pietistische Viertel). Hier stünde ein regionaler Indikator für mehrfaktorielle kulturelle Disparitäten mit eventuell sehr großer Varianz innerhalb und zwischen den Indikatorkategorien (Karvonen & Rimeplä, 1997: 1089).

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- Das hier vorliegende Erkenntnisinteresse bezieht sich statt dessen eher auf die direkten und indirekten Folgen der Urbanisierung. So variieren zahlreiche gesundheitsrelevante Aspekte wie die Luftverschmutzung und Infektionsgefahren mit dem Urbanisierungsgrad (Karvonen & Rimeplä, 1997: 1090; Kunzendorff, 1994: 67). Auch aus einem höheren Kriminalitätsgeschehen und aus der Teilnahme am Straßenverkehr resultieren für die städtische Population höhere Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken. Dagegen existieren in städtischen Ballungsräumen Vorteile bezüglich der Versorgungsdichte und der Qualität medizinischer und nichtmedizinischer Infrastruktur (Overbeek, 1982: 87). Auf diesen Erklärungspfad nehmen die weiteren Ausführungen Bezug. Dabei dürften diese Aspekte vor allem im höheren Lebensalter an Brisanz gewinnen.

Verspätungsthese: Folgt man der Verspätungsthese, so lassen sich Stadt- durch historisch ungleichzeitig stattfindende Entwicklungen erklären., die tendenziell in die gleiche Richtung weisen. Dabei finde eine Art „nachholender Entwicklung“ (Garms-Homolová & Korte, 1993: 220) mit der Folge schwindender Differenzen statt. Dieser Nachholbedarf resultiere aus einem viel späteren Zugang zu weitergehender und höherer Bildung, aus einer auf niedrigerem Niveau einsetzenden Verbesserung der sozialen Sicherung durch Witwenrenten und einer bei Frauen geringeren Erwerbstätigenquote. 16

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Versorgungseinrichtungen, der Einkaufsmöglichkeiten und des öffentlichen Personennahverkehrs. Umgekehrt bleiben aber auch die sozialen Netzwerke sowie die Ausstattung mit Wohneigentum, Grund und Garten auf dem Land qualitativ besser (ebd.)

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typischen Belastungen in Ballungsräumen (Wohnsituation, Ausbildungssituation, zu Anomie tendierende Lebensbedingungen, Desintegration) negativ auf die psychische Situation (vor allem von Frauen) nieder (Gerhardt, 1991: 211f.). Aus einer gesundheitsökologischen Untersuchung des Stadtrandes (Gropiusstadt) und des Zentrums (Kreuzberg) von Berlin ist außerdem bekannt, daß zumindest zum Erhebungszeitpunkt zentral gelegene Altbauwohnungen häufig nicht altengerecht eingerichtet waren. Stolperfallen und Barrieren, schlechte Beleuchtung, Bodenunebenheiten, steile und nicht gesicherte Treppen waren in Innenstadtwohnungen vergleichsweise häufiger als am Stadtrand. Hinzu kommt, daß derartige Sturzgefahren, Verunsicherungsmomente wie schlechte Beleuchtung, aber auch eine diffuse Furcht vor Kriminalität die soziale Isolation weiter verstärken, wenn ältere Menschen „den Weg nach draußen meiden.“ (Garms-Homolová et al., 1982: 156)

Zusammenfassung: Zur Erklärung regionaler Unterschiede auf die Morbiditäts- und Mortalitätsstruktur sind die direkten und indirekten Folgen der Urbanisierung von zentralem Interesse. Vor dem Hintergrund verschiedener theoretischer Erklärungsansätze korrelieren gesundheitsrelevante Aspekte (wie Luftverschmutzung, Versorgungsdichte, medizinische und nichtmedizinische Infrastruktur, soziale Kontrolle und Unterstützung) mit dem Urbanisierungsgrad. Trotz einiger gesundheitsrelevanter Vorzüge ländlicher Wohngebiete deuten die Gesundheits- und Sterbedaten für Landbewohner zumindest für die Bundesrepublik auf ungünstigere Werte. Insgesamt ist aber eine mangelhafte

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theoretische Erschließung ebenso wie eine unzureichende Kontrolle von Alters-, Kohorten und Schichteffekten anzumerken.

2.3.3.1 Body-Mass-Index und Adipositas

BMI = Gewicht in kg (Größe in m) 2

Tab. 1: Klassifizierung des Body-Mass-Indizes

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Quelle: Eigener Entwurf.

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Bezüglich des BMI sollen zuerst die theoretischen morbiditäts- und mortalitätsrelevanten Zusammenhänge und danach dessen soziodemographische Verteilung zusammengefaßt werden:

Die Drosselung der Nahrungsaufnahme durch das Regulationsprinzip der Sättigung dient nicht dazu, die Energieaufnahme zu blockieren, sondern zu optimieren. Eine temporäre Begrenzung der Nahrungsaufnahme ist erforderlich, um den Verdauungs- und Resorptionsvorgängen den notwendigen Zeitraum für eine Aufschlüsselung der Substrate im Darm und den anschließenden Transport in die Blutbahn zu verschaffen. Diese grundlegenden Regulationsmechanismen werden sehr stark durch kognitive und sensorische Einflüsse über das Großhirn verändert. Die hedonistischen Qualitäten der Nahrung überspielen sehr schnell die Sättigungsregulation und begünstigen eine übermäßige Energieaufnahme (Schick & Schusdziarra, 1993). Ein ungünstiger Lebensstil führt insbesondere bei einer gleichzeitig vorhandenen genetischen Veranlagung über den Risikofaktor

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eines hohen BMI zu adipositasbedingten Folgeerkrankungen, die im folgenden kurz beschrieben werden sollen: Die bedeutendsten mit Adipositas in Zusammenhang stehenden Erkrankungen sind Hypertonie, Diabetes mellitus und Hyperlipidämie, die auch unter dem Begriff des metabolischen Syndroms zusammengefaßt werden (Ellrott et al., 1998).

Eine arterielle Hypertonie ist die häufigste Begleiterkrankung der Adipositas (Helmert & Greiser, 1988: 236). US-amerikanische Daten aus dem National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES-II) belegen für die Gesamtpopulation der 20- bis 75jährigen bei einem BMI über 27 eine dreimal höhere und bei jüngeren Adipösen (20 bis 45 Jahre) eine sechsmal höhere Hypertonieprävalenz (Kuczmarski et al., 1994). Gewichtsabnahme führt regelhaft zu einer Senkung systolischer und diastolischer Blutdruckwerte. Das Ausmaß der Blutdrucksenkung ist - einer Dosis-Wirkung-Beziehung entsprechend - der Gewichtsreduktion proportional (Reisin et al., 1983).

Zahlreiche epidemiologische Untersuchungen belegen einen Zusammenhang zwischen der Prävalenz von Adipositas und Diabetes mellitus Typ 2. 17 Nach den Ergebnissen der Nurses Health Study erhöht bereits ein BMI von 23-25 das Risiko signifikant, einen Diabetes mellitus vom Typ 2 zu entwickeln. Ab einem BMI über 30 ist das Diabetesrisiko im Vergleich zu schlanken Frauen mit BMI unter 22 um mindestens das Dreißigfache erhöht. Ähnliche Befunde wurden auch bei erwachsenen Männern erhoben (Colditz et al., 1990). Der pathophysiologische Zusammenhang zwischen Adipositas und Diabetes mellitus Typ 2 ist bis heute nur unvollständig geklärt. Man weiß, daß mit steigendem Körpergewicht die

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Insulinempfindlichkeit des Organismus abnimmt, was einen erhöhten Insulinbedarf nach sich zieht. Damit wird der Entwicklung eines Diabetes mellitus Vorschub geleistet (Ellrott et al., 1998).

Mit einem erhöhten BMI gehen auch erhöhte Triglyzerid-, Gesamtcholesterin- LDL-Cholesterin-Spiegel sowie eine Absenkung des HDL-Cholesterins einher. Umgekehrt bewirkt eine cholesterinarme und fettrestriktive Kost eine drastische Verbesserung dieser gesundheitlich bedeutsamen Blutparameter. (Helmert & Greiser, 1988: 236; Olefsky et al., 1974; Wood et al., 1988).

17 Eine ausführliche Erläuterung zum Krankheitsbild des Diabetes mellitus folgt unter

Abschnitt 2.3.4.3.

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Frauen kein signifikantes Ergebnis berichtet wird (Helmert et al., 1993: 128). Andere Untersuchungen belegen jedoch ein erhöhtes Schlaganfallrisiko (Hubert et al., 1983: 972; Rexrode et al., 1997; Walker et al., 1996). Daneben steigt mit zunehmendem BMI auch das Risiko für die Entwicklung des obstruktiven Schlafapnoe-Syndroms, für schlafbezogene Atmungsstörungen, für eine Hyperuricämie (Gicht) sowie für die Bildung von Gallensteinen erheblich (Ellrott et al., 1998).

Für unsere Fragestellung außerdem bedeutsam ist die Korrelation zwischen erhöhtem Körpergewicht und erhöhter Energieaufnahme einerseits und der Entstehung verschiedener Krebserkrankungen. Hier stellt sich die Befundlage uneinheitlich dar (Chu et al., 1991; Goldbohm et al., 1994; Schottenfeld & Fraumeni, 1996; Willett et al., 1985). Auch zeigen die betreffenden Studien lediglich die Korrelation zwischen Körpergewicht und dem Vorhandensein eines Karzinoms auf. Ob und inwieweit das erhöhte Körpergewicht per se, gleichzeitig erhöhte Blutfette oder die Art der übermäßig konsumierten Nahrungsbestandteile für die Entstehung des jeweiligen Karzinoms von Bedeutung ist, ist noch ungeklärt (Ellrott et al., 1998).

Verläßliche epidemiologische Daten zur Häufigkeit der Adipositas in der Bundesrepublik Deutschland gibt es erst seit wenigen Jahren vor allem von der DHP (Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie) und dem MONICA-Projekt

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In der Sekundärprävention bei einer koronaren Herzerkrankung oder nach einen Infarkt ist die dauerhafte Gewichtsreduktion ein zentraler Ansatzpunkt. Die Ergebnisse der EUROASPIRE-Studie in der Region Münster sind allerdings ernüchternd: Der BMI von ehemaligen wegen einer koronaren Herzerkrankung Behandelten lag rund zwei Jahre später bei 27,7 und damit um 1,3 Punkte über (sic) dem Ausgangswert bei Einweisung (Enbergs et al., 1997: 267).

Auffallend ist dabei, daß unter Frauen mehr Übergewichtige zu finden sind als unter Männern. Weiterhin zeigt auch der Body-Mass-Index gewisse Schichtunterschiede dergestalt, daß in der unteren Sozialschicht mehr Übergewichtige zu verzeichnen sind als in der Oberschicht. Dieser Schichtgradient ist bei Frauen noch weitaus ausgeprägter als bei Männern. Schließlich sind (unter Kontrolle des Alters und der Sozialschicht) auch Stadt-

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Land-Unterschiede dahingehend belegt, daß sich in ländlichen Gegenden etwas häufiger Übergewichtige finden als in Städten.

Tabakwaren sind in der Bundesrepublik Deutschland frei verfügbar, ein Mindestalter für die Abgabe von Tabakwaren existiert nicht. Trotz steigender steuerlicher Abgaben nahm der Zigarettenkonsum und insbesondere der Zigarillo-und Zigarrenkonsum in den letzten Jahren weiter zu (Junge & Nagel, 1999).

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gesundheitserzieherische und aufklärende Bemühungen konterkarierenden Einfluß auf die Nachkriegsgeneration. „In dem Maße, in dem traditionelle Geschlechtsrollen ihre Bedeutung verloren haben, konnten sich die Frauen über frühere Tabus (‚die deutsche Frau raucht nicht‘) hinwegsetzen. Rauchen wurde damit auch für Frauen sozial akzeptiertes Verhalten und galt mit als sichtbares Zeichen der Emanzipation.“ (Stünzner, 1991: 107). In den neuen Bundesländern hingegen nahm der Anteil rauchender Frauen vor allem seit der Wiedervereinigung stark zu. In der Konsequenz bedeutet dies, daß sich die Raucherquoten der beiden Geschlechter immer weiter annähern (Junge & Nagel, 1999).

Häufig werden als starke Raucher Personen definiert, die mehr als 20 Zigaretten pro Tag konsumieren (vgl. dazu auch unten Keil et al., 1998: 1199; Statistisches Bundesamt, 1998b: 90). Genuß- oder Streßrauchen ist in diesen Fällen nicht mehr die dominierende Motivation für den Tabakkonsum, sondern das Rauchen nimmt Suchtcharakter (Nichtaufhören-Können, subjektives Verlangen nach Nikotin) an (Statistisches Bundesamt, 1998b: 91).

In erster Linie werden kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebserkrankungen mit dem Rauchen in Verbindung gebracht: Für Lungenkrebs ist das relative Risiko bei Rauchern ca. 20mal, für Kehlkopfkrebs ca. 10mal höher (Statistisches Bundesamt, 1998b: 91). Die weiter oben beschriebene Entwicklung, daß sich die Raucherquoten der beiden Geschlechter immer weiter annähern, spiegelt sich bereits heute in den Lungenkrebssterbeziffern wider: Während diese für die Altersgruppe der 45-74jährigen Männer um 4-14% gesunken ist, ist bei den gleichaltrigen Frauen ein Anstieg um 21-87% zu beobachten (Junge & Nagel, 1999).

Multivariate, geschlechtsspezifische Längsschnittstudien zeigen außerdem für Männer ein ca. 3fach erhöhtes Myokardinfarkt-Risiko starker Raucher gegenüber Nichtrauchern (Hazard-Rate-Ratio für Raucher mit über 19 Zigaretten/Tag). Bei den Raucherinnen ist ein solcher Zusammenhang interessanterweise nicht nachweisbar: Das Myokardinfarkt-Risiko i.H.v. 1,6 gegenüber Nichtraucherinnen ist nicht signifikant (Hazard-Rate-Ratio für Raucherinnen mit über 10

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Zigaretten/Tag, Keil et al., 1998: 1204). Eine plausible Erklärung dafür existiert derzeit noch nicht (Löwel, 2000).

Signifikante statistische Zusammenhänge sind außerdem für Rauchen und das Auftreten von Magengeschwüren und Erkrankungen der Atmungsorgane bekannt. Bei Schwangeren ist eine Korrelation zwischen Tabakkonsum und einem reduzierten Geburtsgewicht wie auch plötzlichem Kindstod der Neugeborenen bekannt. Das Mortalitätsrisiko ist für Raucher bezüglich der o.g. Krankheiten ebenfalls stark erhöht (Keil et al., 1998: 1204ff.) Dennoch lassen sich die berichteten Zusammenhänge unter Verwendung von Querschnittsdaten nicht immer bestätigen: Schuster et al. berichten über einen inversen Zusammenhang zwischen der Anzahl chronischer Erkrankungen und dem Tabakkonsum. Die „bekannten kausalen Zusammenhänge konnten bezüglich des Tabakkonsums (...) nicht gefunden werden, da es sich um keine längsschnittlich angelegte, sondern um eine rein querschnittliche Untersuchung handelte, die keine direkten kausalen Schlüsse zuläßt. (...) Gesunde Menschen, die sich wohl fühlen, werden eher zum Tabakkonsum (...) neigen und unbedenklicher mit diesen Problemen umgehen als Kranke.“ (Schuster et al., 1999: 127)

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Wie bei anderen Risikofaktoren auch, kann aber auch aus anderer Perspektive bezüglich der gesundheitlichen Auswirkungen nicht von einem monokausalen oder gar deterministischen Zusammenhang ausgegangen werden. So ist die Arbeitsbelastung von Arbeitern oft sehr viel höher als die der Angestellten und Beamte. Dies gelte sowohl für Luftverunreinigungen, Hitze, Kälte, Lärm als auch für Mehr- und Akkordarbeit (vgl. dazu auch Absch. 2.3.1.4, Oppolzer, 1994: 154). Damit führt das Zusammentreffen eines spezifischen Konsumverhaltens (z.B. Tabak- und Alkoholkonsums) mit primären und sekundären Effekten der Arbeitswelt zu einem sich verstärkenden circulus vitiosus gesundheitlicher Risiken: „Die Arbeitsbelastungen, von denen die unteren Sozialschichten und Berufsgruppen besonders betroffen sind, werden in ihrem gesundheitlichen Gefährdungspotential durch persönliche Verhaltensweisen, die selbst vielfach eine Reaktion auf die Belastungserfahrungen sind, wie vermehrten Zigaretten-und Alkoholkonsum, zusätzlich verstärkt.“ (Oppolzer, 1994: 156)

So weist bezüglich des Tabakkonsums der soziale Gradient in die erwartete negative Richtung (Feinstein, 1993: 308; Gerhardt, 1991: 221): Nach Angaben des statistischen Bundesamtes zeigt sich beispielsweise unter Verwendung des Berufsstatus, daß höhere Beamte weit weniger Zigaretten rauchen als Arbeiter (Statistisches Bundesamt, 1998b). Auch Helmert et al. (Helmert et al., 1997: 281) kommen mit Daten der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie zu dem Ergebnis, daß der Tabakkonsum positiv mit dem Haushaltseinkommen korreliere. Härtel et al. (Härtel et al., 1993) berichten bezüglich des Zigarettenkonsums, daß dessen Prävalenz bei Männern wie Frauen unter Probanden mit längerer Ausbildungsdauer geringer sei.

Methodisch ist außerdem anzumerken, daß bei epidemiologischen Studien i.d.R. neben dem quantitativen Konsum (Anzahl gerauchter Zigaretten/Tag) die Qualität der Schadstoffaufnahme (z.B. die Zigarettenmarke) nicht berücksichtigt wird. 18 In Studien zum schichtspezifischen Rauchverhalten hat man bei Rauchern aus unteren Schichten eine höhere Anzahl an Zügen pro Zigarette, länger

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andauernde Züge, kürzere Zigarettenenden und damit eine höhere Nikotin- und Teeraufnahme beobachtet (Oppolzer, 1994: 155). Auch wird nur selten die geschlechtsspezifische Nikotin- und Schadstoffbelastung auf den Körper berücksichtigt: So definiert Keil et al. (Keil et al., 1998) als stärkere Raucher Männer, die mehr als 19 Zigaretten pro Tag rauchen, respektive Frauen mit einem Konsum von mehr als 10 Zigaretten.

Nach repräsentativen Erhebungen rauchen in der Bundesrepublik derzeit etwa 30% der Frauen und 40% der Männer im Alter von 18 bis 79 Jahren. Der mittlere Zigarettenkonsum für Raucher liegt für Männer bei 20 und für Frauen bei 16 Stück am Tag. Von besonderem Interesse ist der Trend, daß einerseits der Anteil rauchender Männer seit Jahren (ausgehend von einem hohen Niveau) in allen Altersgruppen sukzessive zurückgeht, während der Trend bei den weiblichen Rauchern uneinheitlich ist. Unter schichtspezifischer Perspektive zeigt sich, daß höher Gebildete seltener Raucher sind und als Raucher weniger Zigaretten rauchen. Dabei ist allerdings der Schichtgradient bei Frauen weniger deutlich ausgeprägt als bei Männern.

18 Eine Ausnahme stellt z.B. die Alameda-County-Study dar (Belloc & Breslow, 1972:

416), bei der z.B. auch die Inhalationstiefe und die chronologische Länge des Raucher- status miterfaßt wurde.

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2.3.3.3 Passivrauchen

Studien zur passiven Exposition zeigen folglich anhand verschiedener Biomarker, daß Passivraucher im Vergleich zu Nichtexponierten einer erhöhten Belastung durch toxische und kanzerogene Inhaltsstoffe des Nebenstromrauchs ausgesetzt sind. Im Nebenstromrauch sind folgende Stoffe in deutlich höherer Konzentrationen als im Hauptstromrauch nachgewiesen (Tab. 2:, Hoffmann, 1987: 107).

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Quelle: Eigener Entwurf, Zahlen nach (Schiwara, 1997)

Insbesondere die Verursachung von Bronchialkrebs durch passives Zigarettenrauchen ist epidemiologisch belegt und quantitativ ausgewiesen (Junge, 1987: 29; Schmidt, 1987). Auch einige andere Krebsarten sind, wenn auch in deutlich geringerem Maße, dem Tabakrauchen zuzuordnen. Der Nebenstromrauch kann je nach Exposition von Nichtrauchern in Mengen inhaliert und resorbiert werden, die vermehrt zu Lungenkrebs führen können (Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1998: 27). Epidemiologische Studien aus verschiedenen Ländern zeigen für Passivraucher statistisch signifikant mehr

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Lungentumore als für Nichtexponierte. Eine Dosis/Wirkungs-Beziehung zwischen der Exposition des Passivrauchers und Lungenkrebs läßt sich bis in den Niedrigdosisbereich hinein ableiten. Unter Berücksichtigung weiterer Einflußgrößen, wie der Einfluß von Ernährung und sozialem Status, kommen die Bundesregierung, die amerikanische Umweltbehörde EPA und die Weltgesundheitsorganisation WHO zu dem Schluß, daß für Passivraucher ein höheres Lungenkrebsrisiko belegt ist (Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1998: 27; Schmidt, 1987).

Junge führt vier prospektive und 16 Fall-Kontroll-Studien zur Wirkung des Passivrauchens auf. In 15 dieser 20 Studien ist ein Zusammenhang zwischen Passivrauchen und Lungenkrebs belegt (Junge, 1987: 31).

In einer weiteren Meta-Analyse zeigen Law et al., daß außerdem das Risiko einer ischämischen Herzerkrankung durch Passivrauchen erhöht ist (Law et al., 1997). Dabei wurden 19 epidemiologische sowie fünf Kohortenstudien zu Personen analysiert, die in einem gemeinsamen Haushalt mit einem Raucher lebten und an einem Herzinfarkt erkrankt waren. Die Analysen zeigten, daß Nichtraucherinnen ein um 30% höheres Herzinfarktrisiko haben, wenn sie mit einem Raucher zusammenleben. Die Autoren vermuten, daß die schädliche Wirkung des Passivrauchens auf einer erhöhten Plättchenaggregation beruhe. Allerdings weisen die Autoren auch auf spezifische Ernährungsgewohnheiten von

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Passivrauchern hin, die zum Teil für das höhere Herzinfarktrisiko verantwortlich zu sein scheinen.

Während also im Erwachsenenalter das Risiko für ein Bronchialkarzinom und für ein koronares Herzleiden bei mit Tabakrauch belasteten Nichtrauchern (im Vergleich zu nicht exponierten Nichtrauchern) deutlich erhöht ist, verursacht oder verschlechtert das Tabakrauchen der Eltern im Kindesalter insbesondere Erkrankungen der oberen Luftwege (Junge, 1987: 29). Aber auch Mittelohrentzündungen, abdominelle Koliken im Säuglingsalter und der plötzliche Kindstod treten häufiger bei Passivrauchbelastung auf (Agency, 1992; Mörike, 1996; Said, 1984; Strachan et al., 1989)

Schließlich bleibt außerdem noch das embryonale Risiko rauchender Mütter zu erwähnen, das sich in vermindertem Geburtsgewicht, Entwicklungsstörungen und erhöhter Abortgefahr manifestiere (Schmidt, 1987). Analog zum aktiven Primärkonsum ist auch das Passivrauchen unter niedrigeren sozialen Schichten weiter verbreitet (Feinstein, 1993: 309).

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Von 1950 bis 1980 stieg der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch in der BRD (alte Bundesländer) von ca. 3l reinen Alkohols auf ca. 12l kontinuierlich an und hat sich seitdem auf diesem Niveau stabilisiert. Bezogen auf die Bevölkerungsgruppe der 15- bis 70jährigen ergibt sich ein durchschnittlicher Alkoholkonsum von 36g pro Tag. Gesteigerter und chronischer Alkoholkonsum kann zu einer Vielzahl von Gesundheitsstörungen und Schädigungen führen. Die Gefährdung ist im wesentlichen über den Alkoholmißbrauch gegeben, der über eine akute Vergiftung hinausgeht. Ein dauerhafter Tagesverbrauch von mehr als 40g für Männer bzw. mehr als 20g reinen Alkohols für Frauen wird im Gesundheitsbericht der Bundesregierung als starker Konsum, verbunden mit einer gesundheitlichen Gefährdung, definiert (Statistisches Bundesamt, 1998b).

Allerdings weisen zahlreiche epidemiologische Großstudien darauf hin, daß leichter bis moderater Alkoholkonsum mit einer Reduktion der Gesamtmorbidität

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und -mortalität assoziiert ist (Boffetta & Garfinkel, 1990; Keil et al., 1997; Kotler & Wingard, 1989; Renaud & Lorgeril, 1992; Renaud et al., 1998; Renaud et al., 1999; Thun et al., 1997). Daß dieser Effekt primär auf einem Rückgang des Risikos koronarer Herzkrankheiten basiert, verdeutlicht die Notwendigkeit einer ursachenspezifischen Betrachtung: Vereinfachend läßt sich der Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und koronarer Herzerkrankung als L-förmig 19 , derjenige zwischen cerebrovaskulärer Erkrankung und Alkoholkonsum als U-förmig beschreiben ist (Boffetta & Garfinkel, 1990: 345; Keil et al., 1997: 151; Renaud et al., 1999). Dagegen tritt der Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen und Alkoholkonsum meist J-förmig auf. Innerhalb der Krebserkrankungen steigt insbesondere das Risiko für die alkoholassoziierten Krebsformen HNO- und Speiseröhrenkrebs stetig an.

Insgesamt resultiert daraus ein typischerweise insgesamt U-förmiger Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Gesamtmorbidität sowie - mortalität, wobei mit einem moderaten Alkoholkonsum von ca. 20-30g Alkohol pro Tag (ca. 0,25l Wein oder 0,5l Bier) das geringste Mortalitätsrisiko einhergeht (Keil et al., 1997: 154; Kotler & Wingard, 1989: 609; Renaud et al., 1998: 187). Der hinter diesem Effekt stehende Mechanismus ist vielfältig: So wirkt Alkohol offenbar vor allem durch seinen gerinnungshemmenden Effekt. Dies stellt auch einen - wenn auch im Hinblick auf andere westeuropäische Mittelmeer-Anrainerstaaten nicht ausreichenden - Erklärungsansatz für das sog. ‚French Paradox’ dar (Renaud & Lorgeril, 1992): Damit wird der in Frankreich (und abgeschwächt auch in der Schweiz) beobachtete Effekt geringerer KHK-Mortalität bei gleichzeitig im Vergleich zu anderen europäischen Staaten (wie der BRD, Großbritannien, den Benelux-Staaten sowie den skandinavischen Ländern) ähnlichem, d.h. methodisch konstant gehaltenem Fett- und Alkoholkonsum beschrieben. Als Erklärung wird zum einen die typische mediterrane Ernährung angeführt. Zum anderen scheint der insbesondere in Frankreich hohe Weinkonsum, der typischerweise regelmäßig zu den Mahlzeiten stattfindet, für das ‚French Paradox’ verantwortlich zu sein: Anders als zwischen oder nach den

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Mahlzeiten getrunkene Spirituosen oder Bier werde Weinalkohol so langsamer absorbiert. Er wirke somit länger und gerade zum Zeitpunkt eines (durch hohe Blutfettwerte) erhöhten Gerinnungsrisikos. Dazu paßt auch die Beobachtung einer zeitversetzt höheren Sterblichkeit nach exzessivem Alkoholkonsum (sog. Rebound-Effekt, Renaud & Lorgeril, 1992: 1525).

Im Gegensatz zum Tabakkonsum ist der Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Alkoholkonsum weniger eindeutig. Korczak (Korczak, 1994: 274) berichtet von repräsentativen bayerischen Daten, die bezüglich des Risikofaktors Alkohol keinen Schichteffekt aufweisen. Ähnliche Ergebnisse zeigen die Daten der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie: Unter Heranziehung der Daten zum täglichen Alkoholkonsum ist weder für Männer noch für Frauen ein schichtspezifisches Muster erkennbar (Helmert et al., 1997: 281). Auch in Studien anderer Nationen ist der Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Alkoholkonsum innerhalb der Geschlechter uneinheitlich (Karvonen & Rimpelä, 1996: 1472; Piperno & Di Orio, 1990: 311).

Zusammenfassung: Gesteigerter und chronischer Alkoholkonsum kann zu einer Vielzahl von Gesundheitsstörungen und Schädigungen führen. Neben alkoholbedingten Krankheiten (wie Alkoholabhängigkeit, Alkoholpsychosen, Alkohol-Hepatitis, alkoholtoxische Leberzirrhose, Malignome der Verdauungsorgane sowie Krankheiten des Herzens und des Kreislaufs) ist mit ihm darüber hinaus häufig eine Störung sozialer Bindungen verknüpft. Eine

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weitere bedeutende Gefahr übermäßigen Alkoholkonsums liegt in der verminderten Kontrollfähigkeit als Verkehrsteilnehmer. Allerdings weisen zahlreiche epidemiologische Großstudien darauf hin, daß leichter bis moderater Alkoholkonsum mit einer Reduktion der Gesamtmorbidität und -mortalität assoziiert ist. Insgesamt resultiert daraus ein typischerweise U-förmiger Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Gesamtmorbidität sowie - mortalität, wobei mit einem moderaten Alkoholkonsum von ca. 20-30g Alkohol pro Tag das geringste Mortalitätsrisiko einhergeht. Von 1950 bis 1980 stieg der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch in der BRD (alte Bundesländer) von ca. 3l reinen Alkohols auf ca. 12l kontinuierlich an und hat sich seitdem auf diesem Niveau stabilisiert. Bezogen auf die Bevölkerungsgruppe der 15-70jährigen ergibt sich ein durchschnittlicher Alkoholkonsum von 36g pro Tag. Im Vergleich zu anderen Lebensstilkomponenten ist der Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Alkoholkonsum weniger eindeutig. Mit Blick auf zahlreiche Studien sind weder für Männer noch für Frauen einheitliche Schichtunterschiede des Alkoholkonsums erkennbar.

Physische Aktivität in Form sportlicher Betätigung nimmt als potentieller Beitrag zur Förderung der Gesundheit verschiedene, wichtige Funktionen ein: Er vermag einerseits die physische und psychische Gesundheit zu erhalten und die Inzidenz gesundheitlicher Beeinträchtigungen positiv zu beeinflussen sowie andererseits bereits vorhandene Beschwerden zu mindern oder zu kurieren. Während der erste Prozeß die Primärprävention im Sinne einer Verringerung des Erkrankungsrisikos fokussiert, zielt der zweitgenannte auf die Tertiärprävention gemäß einer Erhöhung der Gesundungschance. Außerdem können durch Sport gesundheitsrelevante soziale Ressourcen gestärkt werden, die das Individuum bei der Bewältigung zukünftiger Belastungen unterstützen können (Klein, 1992; Lippke, 1999: 2ff.; Röthlisberger & Calmonte, 1995).

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Bevor die soziologisch interessierende Schichtabhängigkeit sportlicher Betätigung näher betrachtet wird, soll zunächst auf die morbiditäts- und mortalitätsspezifische Wirkung physischer Aktivität eingegangen werden:

Aus dem empirischen Material hervorzuheben ist die vielzitierte epidemiologische Untersuchung von Paffenbarger, die als Langzeit-Follow-Up-Studie an ehemaligen Harvard-Absolventen durchgeführt wurde (Paffenbarger et al., 1978). Paffenbarger et al. haben zwischen 1962 und 1978 rund 16.000 ehemalige männliche Harvard-Studenten untersucht und deren gesamte körperliche Aktivität in Beruf und Freizeit in Energieeinheiten umgewandelt (Opper, 1998: 71; Paffenbarger et al., 1978).

Auf ihr basiert die heute noch vielzitierte Empfehlung für die optimale körperliche Aktivität, die im Bereich eines durch sportliche Betätigung zusätzlich bedingten Kalorienverbrauches von 2000-3000 kcal pro Woche oder 300-400 kcal pro Tag liegt. Letzteres entspricht 30 Minuten Joggen oder 60 Minuten sportlichem Gehen. Eine Ausnahme stellt lediglich der Bereich höchster körperlicher Belastung (3500-5000 kcal pro Woche zusätzlicher Verbrauch durch sportliche Betätigung) dar (Opper, 1998: 71). Die Daten von Paffenbarger zeigen

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weiterhin, daß die eigentlich entscheidende Meßgröße - der bewegungsbedingte Kalorienverbrauch - auch durch viele Formen allgemeiner körperlicher Bewegung sichergestellt werden kann (z.B. Gehen oder Treppensteigen, Undeutsch, o.J.). Dies bedeute auch, daß die günstige Wirkung bereits durch gering belastende Bewegungen im Rahmen der Alltagsaktivitäten, in der Freizeit und im Berufsleben erzielt werden kann (Undeutsch, o.J.).

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Intensität und Häufigkeit des Trainings wies bei beiden Geschlechtern, die Dauer des Trainings nur bei Männern einen signifikanten Zusammenhang mit den Ruhepulswerten auf. Es läßt sich also resümieren, daß alle drei Aktivitätsgrößen für ein insgesamt besseres kardiovaskuläres Risikoprofil von Bedeutung zu sein scheinen (Mensink et al., 1997a).

Weitere wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen positive Auswirkungen von regelmäßiger sportlicher Aktivität auch auf die psychische Gesundheit, wenngleich die diesbezügliche Forschung wesentlich geringer ausgeprägt und die Effektgrößen schwach sind (Opper, 1998: 77; Winkler, 1997). Dabei könne sportliche Tätigkeit zum einen soziale Unterstützung (social support) und zum anderen allgemeine Copingstrategien zur Streßreduktion vermitteln (Klein, 1992: 99; Röthlisberger & Calmonte, 1995). In einer schweizer Longitudinalstudie ließ sich zeigen, daß sportlich Aktive adaptivere gesundheitspsychologische Persönlichkeitswerte aufwiesen, zufriedener mit ihrer physischen und psychischen Gesundheit waren und sich weit weniger sozial belastet fühlten. Sportlich Aktive hatten (unter bivariater Perspektive) signifikant mehr Freunde, nahmen ihr Leben sinnerfüllter wahr und fühlten sich insgesamt wohler. Insbesondere erlebten sich Befragte mit hohem biographischem Risiko (intrafamiliale Konflikthäufigkeit) dann weniger individuell belastet, wenn sie regelmäßig Sport trieben („Pufferwirkung von Sport“, Röthlisberger & Calmonte, 1995). „Diese Unterschiede erscheinen jedoch nicht als spezifische Effekte von sportlichen Aktivitäten, sondern sie können genauso gut durch soziale Unterstützungsvariablen bewirkt werden.“ (ebd.) „Es dürfte sich hier also in erster Linie um einen indirekten, dafür sicher

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nicht weniger wichtigen, Einfluß auf die Gesundheit handeln (über Social Support, Self Support und als eine Form der Streßreduktion), der auch symbolischen Gewinn verschafft (Sinngewinn für Lebensdeutungen, Teilnahme an und Zugehörigkeit zu gesellschaftlich hoch besetzten Werten und Symbolbeständen).“ (Klein, 1992: 101ff) Hierzu zählen zunehmend auch Modewellen des Sporttreibens, die auf weite Kreise der Bevölkerung übergegriffen haben, ohne erst den Selektionsfilter der organisierten Sportbewegung (Vereine, Verbände) zu durchlaufen (ebd.) Gemeint sind hier Sportarten wie Inlineskaten, Biken und Skifahren, Hiking und Walking.

Die deutlichste Wirkung körperlicher Aktivität manifestiert sich i.a. in einer Senkung des Ruhepulses (vgl. oben). Ein Unterschied von jeweils 20 zusätzlichen Schlägen pro Minute führte nach einer weiteren Studie zu einem relativen Gesamtmortalitätsrisiko von 1.7 (95% KI 1.4-2.2) bei Männern bzw. von 1.4 (95% KI 1.1-1.8) bei Frauen. Entsprechend ergab sich für die Herz-Kreislauf-Mortalität ein Risiko von 1.7 (95% KI 1.2-2.6) für Männer und von 1.3 (95% KI 0.9-2.0) für Frauen bei Konstanthaltung anderer kardiovaskulärer Risikofaktoren (Mensink & Hoffmeister, 1997).

Da die gesundheitsfördernden Wirkungen sportlicher Betätigung nach Kontrolle zahlreicher weiterer Variablen (Alter, Rauchen, soziale Schicht, Jahreszeit - monatliche Außentemperatur-, Body-Mass-Index, Wohnsitz Stadt/Land, Alkohol-

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und Flüssigkeitskonsum, Aufnahme von gesättigten Fettsäuren und Gesamtfettkonsum, körperliche Aktivität im Beruf und anderen Freizeitaktivitäten) bestehen bleiben, ist von einem eigenständigen Effekt auszugehen (Gibbons et al., 1983; Undeutsch, o.J.). „Körperlich Aktive erleiden nicht nur weniger Herzinfarkte, weil sie weniger rauchen, sondern weil sie sich mehr bewegen.“ (Undeutsch, o.J.)

Sport und schichtspezifischer Lebensstil

Insgesamt zwanzig von Opper zusammengetragene Untersuchungen zeigen, daß Oberschichtangehörige eher und häufiger Sport treiben als Unterschichtangehörige (Opper, 1998: 91f.). So kommen Helmert et al. (Helmert et al., 1997) mit gepoolten Daten der drei DHP-Surveys zu dem Ergebnis, daß die aktive Sportausübung positiv mit dem Haushaltseinkommen korreliere. Auch für die ehemalige DDR ließ sich sowohl für Stadt- als auch für Landbewohner nachweisen, daß physische Aktivität in Form regelmäßiger sportlicher Betätigung positiv mit den Variablen Schulbildung, Familieneinkommen und beruflicher Position korreliert (Kunzendorff, 1994). Anhand der Daten des dritten DHP-Surveys (1990-1991) analysierte Mensink et al. die Wechselbeziehungen vonFreizeitaktivitäten, anderen gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen und

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soziodemographischen Merkmalen. Die Ergebnisse zeigen, daß körperlich aktive Personen im allgemeinen jünger, häufiger alleinstehend waren und eher in größeren Städten lebten als nichtaktive. Männer und Frauen aus hohen sozioökonomischen Schichten waren drei- bis viermal häufiger in ihrer Freizeit körperlich aktiv als Personen aus unteren Schichten. Außerdem waren körperlich aktive Personen seltener Raucher, hatten einen niedrigeren Body-Mass-Index, frühstückten regelmäßiger, hatten seltener das Bedürfnis, früh schlafen zu gehen, aßen häufiger Obst, Salat und Vollkornbrot und nahmen häufiger Vitaminpräparate als nichtaktive. Sie konsumierten seltener Weißbrot und Fleisch und hatten einen höheren Flüssigkeitskonsum. Insgesamt wurde erhöhte körperliche Freizeitaktivität mit einem allgemein gesünderen Lebensstil assoziiert (Mensink et al., 1996b; Mensink et al., 1997b).

In jüngster Zeit wird zunehmend auch der Zusammenhang zwischen sportlicher Aktivität und funktionellen orthopädischen Beschwerden beachtet. Weitere Datenquellen bestätigen positive Auswirkungen von regelmäßiger sportlicher Aktivität auch auf die psychische Gesundheit. Folglich ist auch die Sterblichkeitsrate von sportlich aktiven Personen niedriger als die von Nicht-Sporttreibenden. Die deutlichste Wirkung körperlicher Aktivität manifestiert sich in einer Senkung des Ruhepulses. Da die gesundheitsfördernden Wirkungen sportlicher Betätigung nach Kontrolle zahlreicher weiterer Variablen bestehen bleiben, ist von einem eigenständigen Effekt auszugehen. Regelmäßige sportliche Betätigung ist ein deutlich schichtabhängiges Verhaltensmuster. Im Hinblick auf andere gesundheitsrelevante Merkmale sind körperlich aktive Personen

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außerdem seltener Raucher und haben einen niedrigeren Body-Mass-Index als nichtaktive.

Die Funktion des Schlafes für den menschlichen Organismus ist äußerst komplex und nur in Ansätzen bekannt (Belloc & Breslow, 1972: 411; Benca & Quintans, 1997: 1034). Charakteristisch ist die Absenkung bestimmter Vitalfunktionen im Körper: Blutdruck und Puls nehmen leicht ab, Stoffwechselfunktionen und Körpertemperatur werden heruntergesetzt. Die Reaktion des Körpers auf äußere Reize ist reduziert. Unterschieden werden während des Schlafes REM- und Non-REM-Phasen: Während der Non-REM-Phasen nimmt die Frequenz der Gehirnaktivität ab. Einen Tiefpunkt der Frequenz erreicht man nach ca. 40 Minuten. Traumaktivitäten gibt es nicht. Charakteristisch für die REM-Phase (REM = Rapid Eye Movement) ist das deutlich beobachtbare Bewegen der Augen. Eine REM-Phase dauert ca. 20 bis 60 Minuten und kann sich 4 - 6mal in der Nacht wiederholen. Die Frequenz der Gehirntätigkeit steigt wieder etwas an, um dann erneut in einer weiteren Non-REM-Phase abzusinken.

Unbestritten ist, daß Schlafdefizite ebenso wie massive Störungen des Schlafverhaltens „Risikofaktoren für psychische und somatische Erkrankungen (sind)“ (Hecht et al., 1992: 5) Dabei sind die Zusammenhänge zwischen der Qualität und Quantität des Schlafes und gesundheitlich bedeutsamen Größen komplex (Belloc & Breslow, 1972: 411; Benca & Quintans, 1997: 1027) und ihre Kausalität insbesondere unter Verwendung von Querschnittsdaten nicht immer eindeutig (Smith, 1994: 425). So ist beispielsweise bekannt, daß Krankheiten, insbesondere Infektionskrankheiten, ein höheres Schlafbedürfnis nach sich

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Schlafbedürfnis eines schlafgesunden erwachsenen Menschen zwischen 4 und 12 Stunden mit Durchschnittswerten bei 7-8 Stunden (unter Bedacht des o.g. Alterseinflusses, Hawkins & Duncan, 1991: 831f.; Phillips & Danner, 1995: 735). 20

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Rahmen einer Studie an 126 Senioren bei einer täglichen Schlafdauer von sieben bis acht Stunden die signifikant günstigsten Werte bezüglich verschiedener gesundheitlicher und psychischer Indikatoren (Hawkins & Duncan, 1991: 831f). Aus Untersuchungen zur Schichtarbeit ist bekannt, daß ein früher Schichtbeginn meist nicht durch ein entsprechend früheres Zubettgehen ausgeglichen wird, was regelmäßig verkürzte Schlafzeiten und daraus resultierende gesundheitliche Beeinträchtigungen zur Folge hat (Beermann et al., 1990: 16). Wenn überhaupt, so wird die Schlafdauer in der epidemiologischen Literatur nicht isoliert sondern als Bestandteil eines Summenindizes zur Morbiditäts- oder Mortalitätsanalyse herangezogen (Belloc & Breslow, 1972: 419; Höhn & Pollard, 1992: 424; Wiley & Camacho, 1980: 13), so daß über einen Zusammenhang mit der Schichtzugehörigkeit nur spekuliert werden kann.

2.3.3.7 Netzwerkdichte und -qualität

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Zunächst soll eine theoretische Erschließung der Begrifflichkeiten sowie der Wirkungsmechanismen und daran anschließend eine Zusammenfassung der Befundlage zu persönlichen Netzwerken sowie deren Bedeutung für die Mortalität erfolgen:

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Psychischer und emotionaler Support: Zunächst befriedigen Netzwerke basale emotionale Bedürfnisse wie etwa soziale Integration, Selbstvertrauen, Bestätigung, Wertschätzung, Intimität und Unterstützung (Hibbard & Pope, 1993: 218; Shye et al., 1995: 935; Steinkamp, 1993: 116; Stroebe et al., 1992: 254). Stroebe (Stroebe et al., 1992: 254) vermutet, auch als Resultat eigener Forschung, daß soziale Interaktionen einen direkten Einfluß auf Emotionen ausübe, einen positiven Affekt induziere und so Depressionen und Angst entgegenwirke. Dies wiederum könne einen positiven Effekt auf das körpereigene endokrine und immunologische System und somit auf den Gesundheitsstatus haben (Seeman et al., 1987: 722; Shye et al., 1995: 936). Auch Simmon (Simmon, 1993: 35) macht für den Effekt, daß sich alleinstehende bzw. alleinlebende Personen merklich kranker fühlen (Statistisches Bundesamt, 1991: 72), psychosomatische Effekte verantwortlich: „Wer unter Alleinleben leidet, fühlt sich zugleich subjektiv kranker.“

Instrumenteller und finanzieller Support: Auch bedeutet eine geringe Anzahl an Bezugspersonen eine geringere Chance auf Bereitstellung informeller Hilfeleistungen (Baumann et al., 1998: 191; Shye et al., 1995: 936). Im Gegensatz zu der Argumentation bezüglich des Einflusses des Familienstandes ist hier der rettende Hilferuf durch Freunde und Bekannte zwar ebenfalls relevant, jedoch weniger bedeutsam als etwa sozialer Support und instrumentelle wie finanzielle Ressourcen im Krankheitsfall (Berkman & Syme, 1979: 186; Steinkamp, 1993: 116). Wie beim psychisch-emotionalen Support ist auch hier ein allgemeiner Dauereffekt (bspw. die mittel- oder langfristige Pflegeleistung eines Freundes oder Verwandten) oder ein Puffereffekt während eines „stressful life events“ (Berkman & Syme, 1979: 186) denkbar (bspw. instrumentelle Hilfe bei einem

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Todesfall oder die finanzielle Unterstützung im Falle einer sonst nicht finanzierbaren Behandlung, vgl. dazu Abb. 4).

Änderung des individuellen Gesundheitsverhaltens (Baumann et al., 1998: 191). Personen mit günstiger Netzwerkstruktur seien einer stärkeren sozialen Kontrolle ausgesetzt, die vor allem eine stärkere Nutzung präventiver Maßnahmen und ein gesundheitsbewußteres Verhalten nach sich ziehe (Seeman et al., 1987: 722; Shye et al., 1995: 935). Während sich gemäß der Protektionsthese die Wirkung eines Ehepartners beispielsweise auf ein geregelteres und gesünderes Essen, auf günstigere Wohnverhältnisse und einer höhere Compliance bei der Einnahme von Medikamenten (Baumann et al., 1998; Klein, 1993b) bezieht, könnte sich die Wirkung eines ausgeprägten Freundes-und Bekanntenkreises hier eher in häufigeren, gemeinsamen Aktivitäten (Sport, Wandern, Bildung) und einem bewußteren Ernährungsstil (gemeinsame Verabredungen zum Essen statt Fast-Food) äußern.

Als Alternativthese zu den o.g. Erklärungsansätzen läßt sich auch hier wieder eine Selektionsthese anführen (Berkman & Syme, 1979: 191; Shye et al., 1995: 936). Demgemäß haben nämlich gerade gesündere Personen (z. B. Personen mit einer gesundheitsfördernden Körperpflege entsprechend dem aktuellen Schönheitsideal usw.) Vorteile beim Aufbau des persönlichen Netzwerkes, während dies für kranke Personen mit ungünstigerem Risiko (z.B. Bettlägerige, chronisch Kranke, Beeinträchtigte usw.) mit mehr Problemen verbunden sein dürfte. Gleiches dürfte auf Personen mit abträglichem Lebensstil zutreffen: Obgleich beispielsweise ein maßvoller Alkohol- und Tabakkonsum während sozialer Zusammenkünfte (noch) akzeptiert wird, kann gerade ein exzessives Trink- und Rauchverhalten eine Ursache für zurückgehende Sozialkontakte (und

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unabhängig davon auch für eine höhere Mortalität) sein. Ebenso können auto- extroaggressives Verhalten, risikoaffine Charakterzüge, Suchtverhalten sowie psychische Störungen selektiv wirken.

Ende der Leseprobe aus 315 Seiten

Details

Titel
Lebensbedingungen, Lebensstil und Mortalität
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Note
1
Autor
Jahr
2001
Seiten
315
Katalognummer
V186049
ISBN (eBook)
9783656999515
ISBN (Buch)
9783867468282
Dateigröße
1463 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
lebensbedingungen, lebensstil, mortalität
Arbeit zitieren
Dr. Sven Schneider (Autor:in), 2001, Lebensbedingungen, Lebensstil und Mortalität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186049

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