Anarchismus als Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft


Studienarbeit, 2004

31 Seiten, Note: 1


Leseprobe


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1. Einleitung

Was ist eigentlich Anarchismus? Die Antwort auf diese Frage wird häufig so gefaßt, daß der Begriff des Anarchismus als Bezeichnung für gefährliche, abwegige, die Zivilisation bedrohende Ideologien schlechthin dienen kann. „In jeder Tasche eine Bombe, angefüllt mit Dynamit, den Mordstahl in der einen, die Brandfackel in der anderen Hand - so stellt sich ein Gegner des Anarchismus in der Regel einen Anarchisten vor. Er erblickt in ihm einen Menschen, der, halb Narr, halb Verbrecher, nichts weiter im Sinn hat als die Ermordung eines jeden, der nicht seiner Meinung ist, und dessen Ziel der allgemeine Wirrwarr, das Chaos ist.“ 2 Diese Worte des Anarchisten Johann Most scheinen immer noch die Vorstellung dessen, was ein Anarchist ist zu prägen. Deshalb soll im folgenden erörtert werden, was Anarchismus wirklich bedeutet. Da man sich zum Verständnis des Anarchismus nicht auf eine Strömung innerhalb der Theorie-Richtungen beschränken kann, werden hier die verschiedenen Strömungen kurz vorgestellt. Außerdem wird die Geschichte des Anarchismus beschrieben und es werden einige der bekanntesten Anarchisten kurz vorgestellt.

2. Ideale des Anarchismus

Beim Anarchismus handelt es sich um eine Philosophie der Freiheit. Anarchismus und Anarchie sind begrifflich dahingehend zu unterscheiden, daß sich „Anarchie“ meist auf einen gesellschaftlichen Zustand bezieht und „Anarchismus“ mehr auf die Ideen und die Bewegung 3 . Die Grundidee des Anarchismus ist die herrschaftsfreie Gesellschaft. Das Ziel der Abschaffung des Staates beinhaltet die Idee der absoluten Freiheit 4 . Im Anarchismus wird eine Gesellschaft als ideal angesehen, die durch ein Fehlen von Autorität und Macht gekennzeichnet ist. Durch freie Vereinbarungen von Gruppen und Organisationen soll die Nutzung der Produktion und Konsumption zur Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse der Menschen garantiert werden 5 .

2 Diefenbacher(1996): Anarchismus -die verlorene Utopie?, S. 9. , dort zit. nach: Most (1889): Der communistische Anarchismus. In: Diefenbacher (Hrsg.): Anarchismus

3 Lehning (1977): Anarchismus, S. 10. In: Lehning/ de Jong/ Bourdet: Marxismus und Anarchismus-Band 2

4 Bartsch (1975): Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus, S. 41

5 Lehning (1977): Anarchismus, S. 11. In: Lehning/ de Jong/ Bourdet: Marxismus und Anarchismus-

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verschiedenen Strömungen: Diese reicht vom Bekenntnis zur völligen Gewaltlosigkeit bis hin zur begeisterten Zustimmung zu terroristischen Gewaltakten als Vorbedingung zur Ermöglichung revolutionärer Umwälzungen! Stark unterschiedliche Auffassungen gibt es auch hinsichtlich des notwendigen Organisationsgrades und der Zusammenarbeit mit anderen politischen Gruppen, also mit Sozialisten und Kommunisten 11 .

3. Strömungen des Anarchismus

3.1. Individual-Anarchismus

Die bedeutendsten Vertreter diese Schule waren William Godwin(1756-1846) und Max Stirner (1806-1856).

Godwins Ziel war eine Einheit von sozialer Gerechtigkeit und individuellem Glück. Er nahm die Formbarkeit des Individuums durch Ideen an und lehnte jeden Zwang und jede Gleichmacherei ab. Die Freiheit sei so unlösbar an das Individuum gebunden, daß mit diesem auch die Gesellschaft in Fesseln liegt. Er lehnte die Staatsgewalt ab nicht ohne zu begreifen, daß sie sich nur in einer mündigen Gesellschaft erübrigen kann. Jede Zusammenarbeit über das Notwendige hinaus ist seiner Meinung nach freiheitsbeschränkend. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen sollten auf ein Minimum beschränkt werden, um ihren Konfliktstoff maximal zu entschärfen. Selbst die Familie sollte aufgelöst werden. In seinem Hauptwerk „Untersuchung über politische Gerechtigkeit“ (1793) erwog er die Abschaffung des Privateigentums, aber nicht zur gemeinschaftlichen Nutzung, sondern nur um es den sozial Bedürftigen zugänglich zu machen: „Alles, was man gewöhnlich unter Kooperation versteht, ist in gewissem Maße von Übel... Wir können nicht in den Gleichklang von Uhren gezwungen werden.“ 12 . Max Stirner trieb den Individual-Anarchismus noch weiter. Nur der zum einzigen gesteigerte Einzelne könne sein eigener Schöpfer statt nur ein Geschöpf sein. Statt sich für eine fremde Sache aufzuopfern soll der Mensch lieber ein Egoist sein, der jenseits von Gut und Böse steht. Jede äußere Herrschaft sei von einer inneren Herrschaft und jeder Zwang von freiwilliger Knechtschaft begleitet und nur wenn die Knechtschaft überwunden wird, läßt sich auch die Herrschaft abwälzen. Er kritisiert, daß das

11 Diefenbacher (1996): Anarchismus-die verlorene Utopie?, S. 12. In: Diefenbacher (Hrsg.): Anarchismus

12 Bartsch (1975): Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus, S. 42, dort zit. nach Godwin (1793): Un- tersuchung über politische Gerechtigkeit

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eigentlich Persönliche zur reinen Privatsache gemacht wird: „Das Bürgertum ist nichts anderes als der Gedanke, daß der Staat, alles in allem, der wahre Mensch sei, und des Einzelnen Menschenwert darin bestehe, ein Staatsbürger zu sein.“ 13 . Der Individual-Anarchismus war am weitesten in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, Frankreich und Deutschland verbreitet und 1919/20 bildete sich weitgehender Organisationsfeindlichkeit zum Trotz eine individualanarchistische Internationale, die zwei europäische Konferenzen durchführte 14 .

3.2. Sozial-Anarchismus

Der bedeutendste Vertreter dieser Strömung ist Pierre Proudhon (1809-1865). Er meinte, daß Eigentum Diebstahl sei, wollte aber nicht den Besitz an sich, sondern nur den privilegierenden Eigentumstitel vernichten. Er vertrat die Ansicht, daß die freie Organisation der Arbeit nötig sei und die Vorraussetzungen dafür der Sturz des Kapitals und der politischen Macht seien. Die Aufhebung des Staates sei auch wichtig zur Beseitigung des Militarismus. Das Prinzip der Revolution, die Freiheit, ist das einzige, woraus die Revolution ihr Recht zur Gewalt bezieht. Die revolutionäre Aktion ist aber nicht als Mittel zur sozialen Umgestaltung der Gesellschaft geeignet. Nicht das Chaos sollte das Ziel sein, sondern ein neuer Gesellschaftsaufbau geprägt durch Anarchie und Ordnung auf föderativer Basis: „Immer diesselbe Sucht, regiert zu werden, immer derselbe Kommunismus. Wer endlich wird zu sagen wagen: alles für das Volk und alles durch das Volk, selbst die Regierung?“ 15 .

3.3. Anarcho-Kommunismus

Vertreter dieser Richtung des Anarchismus sind Michael Bakunin (1814-1876) und Peter Kropotkin ( 1842-1921).

Bakunin sah im Gottesbegriff die Wurzel aller Autorität und auch die Wurzel des Staates. Gott und Freiheit waren für ihn völlig unvereinbar weswegen er eine „zweite Schöpfung“ anstrebte, einen völligen Neubeginn der Menschheit, der durch restlose

13 Bartsch (1975): Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus, S. 43, dort zit. nach: Stirner (1845): Der Einzige und sein Eigentum.

14 Bartsch (1975): Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus, S. 43

15 Bartsch (1975): Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus, S. 43, dort zit. nach: Proudhon (1849): Be- kenntnisse eines Revolutionärs.

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Zerstörung der bestehenden Verhältnisse ermöglicht werden sollte. Er bekannte sich zur materialistischen Weltanschauung, lehnte aber die Leugnung der Willensfreiheit ab. Bakunin war gegen eine Herrschaft der Wissenschaft: „Eine Herrschaft der Wissenschaft und der Männer der Wissenschaft, selbst wenn sie sich Positivisten, Schüler August Comtes, nennen, oder selbst Schüler der doktrinären Schule des deutschen Kommunismus, kann nur lächerlich, unmenschlich, grausam, unterdrückend, ausbeutend und verheerend sein.“ 16 .

Im Gegensatz zu Bakunin, der sich mehrfach deutlich vom Kommunismus distanzierte, bejahte Kropotkin diesen grundsätzlich. Kropotkin verstand darunter aber etwas anderes als Marx, nämlich eine Tendenz in der bestehenden Gesellschaft, die zur sozialen Gleichheit aller dränge und der nur noch die Abschaffung des Privateigentums zur vollen Entfaltung fehlt. Kropotkin versuchte auch die Schaffung eines wissenschaftlichen Anarchismus auf der Basis der gegenseitigen Hilfe. Die kommunistische Tendenz der damaligen Zeit wird nach Kropotkin von einer anarchistischen begleitet, die sich in der Bildung von zahlreichen freien Gruppierungen zu sozialen Zwecken zeigt. Die Verzahnung von Anarchie und Kommunismus wird von Kropotkin als Vereinigung von individueller Freiheit und sozialer Gleichheit gesehen: „Die Anarchie führt zum Kommunismus, und der Kommunismus zur Anarchie...“ 17 . Kropotkins Richtung setzte sich ab 1876 bis nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Anarcho-Kommunismus in vielen Ländern wieder hinter andere Vorstellungen zurückgedrängt wurde, in weiten Teilen der anarchistischen Bewegung durch. Von 1954 bis 1956 gab es eine eigene anarcho-kommunistische Organisation, die „Internationale des freiheitlichen Kommunismus“ 18 .

3.4. Anarcho-Pazifismus

Vertreter dieser Richtung ist Leo Tolstoi (1828-1910). Seine anarchistische Haltung ging zum Teil aus der Wurzel des Antimilitarismus hervor. Die Hauptursache von Unterdrückung und Unrecht wurde nicht im Kapital oder Bürgertum, sondern in der Existenz von zum Krieg bereitstehenden Heeren gesehen. Tolstoi war christlichen

16 Bartsch (1975): Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus, S. 44, dort zit. nach: Bakunin (1871): Gott und der Staat.

17 Bartsch (1975): Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus, S. 45, dort zit. nach: Kropotkin (1921): Die Eroberung des Brotes.

18 Bartsch (1975): Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus, S. 45

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Glaubens und maß dem Gebot der Nächstenliebe große Bedeutung zu. In Tolstois Verständnis des Anarchismus ist das Gottesreich nur durch eine staatenlose Ordnung des Zusammenlebens auf den Grundlagen der Selbstverleugnung, des Gemeineigentums an Grund und Boden, der sozialen Gerechtigkeit und der Gewaltlosigkeit zu erreichen. Gewalt ist für Tolstoi (im Gegensatz zu Kropotkin und Bakunin) ein untaugliches Mittel, welches nur zur weiteren Stärkung des Staates führt 19 .

3.5. Anarcho-Sozialismus

Diese Strömung des Anarchismus ging aus den sozialistischen Parteien hervor und wurde von Gustav Landauer (1870-1919) begründet. Die sozialistische Idee der Genossenschaft sollte mit den Gedanken der Herrschaftslosigkeit und Selbstbefreiung verknüpft werden. Die Anarchie wurde als Überbau der sozialistischen Ordnung gesehen. Landauer propagierte den Austritt aus dem Bestehenden und rief zur Bildung von Initiativgruppen auf. Diese Gruppen sollten Land erwerben, siedeln und Genossenschaften bilden und durch diesen Aufbau freiheitlicher Genossenschaften sollte die soziale Umwälzung eingeleitet werden. Auf anderem Wege würde diese Umwälzung niemals kommen. Für Landauer bedeutete die Anarchie eine von unten geschaffene Ordnung durch Bünde der Freiwilligkeit auf der wirtschaftlichen Grundlage von gleichzeitigen Produktiv- und Konsumgenossenschaften. Landauer war ein Todfeind des Marxismus: „ Was der Nationalbourgeois aus dem deutschen Studenten gemacht hat, haben die Marxisten aus weiten Schichten des Proletariats gemacht: feigherzige Leutchen ohne Jugend, ohne Wildheit, ohne Wagemut, ohne Lust am Versuchen, ohne Ketzerei, ohne Originalität und Absonderung.“ 20 . Anarchosozialistische Gedanken flossen z.B. bei der Besiedlung Israels in die Kibbuz-Bewegung ein.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Anarchismus als Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft
Hochschule
Hochschule Mittweida (FH)
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
31
Katalognummer
V186312
ISBN (eBook)
9783869437835
ISBN (Buch)
9783656993391
Dateigröße
666 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
anarchismus, idee, gesellschaft
Arbeit zitieren
Jasmin Becker (Autor:in), 2004, Anarchismus als Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186312

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