Kritische Betrachtung von Islam und Moderne in der Türkei


Hausarbeit, 2006

35 Seiten, Note: 2


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Geschichtlicher Hintergrund

3. Modernisierungstendenzen in der Türkei
3.1 Theoretische Grundlagen
3.2 Auswirkungen auf ausgewählte Bereiche
3.2.1 Wirtschaft
3.2.3 Gesundheitswesen
3.3 Zwischenfazit

4. Auswirkungen auf die Entwicklung des Islam
4.1 Säkularisierung
4.1.1 S ä kularisierung als Staatspolitik- Laizismus
4.1.2 S ä kularisierung als gesellschaftliches Ph ä nomen
4.2 Individualisierung

5. Fazit

Literaturverzeichnis

Internetverzeichnis

Anhang

Anlangenverzeichnis

Anhang 1 : Wichtige geschichtliche Daten auf einen Blick

Anhang 2 : Länderprofil Türkei

Anhang 3: Entwicklung des Analphabetismus

Anhang 4: Verteilung der Bevölkerung auf Stadt und Land

Anhang 5: Anzahl von Menschen pro Arzt

Anhang 6: Bruttoinlandsprodukt pro Kopf

Anhang 7: Arbeitsmarkt

Anhang 8: World Values Study

Anhang 8. 1 How often do you attend religious services?

Anhang 8. 2 Would you say you are a religious person?

Anhang 8. 3 Do you believe in God?

Anhang 8. 4 Do you believe in Life after Death?

Anhang 8. 5 Politicians who do not believe in God are unfit for public office?

1. Einleitung

Diese Hausarbeit untersucht die Rolle des Islams in der Zeit der Modernisierung in der Tür- kei.

Wie beeinflussen islamisches Gedankengut, Traditionen und Bräuche die politische Kultur in der Türkei und wie wirken diese wiederum auf die Modernisierungsprozesse? In der Türkei als einem Land, welches seine Werte und Normen aus der Religion ableitet, ist die Religion die Schlüsselvariable zur Erläuterung der Modernisierung.1

Zur Erklärung von Zusammenhängen wird in Punkt 2 die politische Geschichte der Türkei herangezogen von der Zeit der Kolonisierung um 1918 bis heute. In Punkt 3 wird anhand der ausgewählten Bereiche Wirtschaft, Bildung und Gesundheitswesen auf Aspekte der Moderne in der Türkei eingegangen. Anschließend werden in Punkt 4 die Theorien der Säkularisierung und der Individualisierung auf den Islam angewendet, um zu prüfen, in welchem Maße die Theorien auch auf den Islam übertragbar sind. „[…] modern man has lost God through secula- risation.“2 Gilt diese Aussage auch für den Islam in der Türkei? Können wir überhaupt von einer Säkularisierung sprechen? Und wenn ja, wie beeinflusst diese das Denken und Handeln der Gläubigen? Auf diese Fragen will die Hausarbeit Antworten geben. Es soll die Verbin- dung zwischen den existierenden Denkweisen, Traditionen und Bräuchen des Islams und den Modernisierungsansätzen des Staates aufgezeigt werden. Eine abschließende Betrachtung der Problematik erfolgt in Punkt 5.

2. Geschichtlicher Hintergrund

Das Zusammenspiel von Moderne und Religion in der Türkei ist eng verwoben mit der geschichtlichen Entwicklung, insbesondere der Phase nach dem ersten Weltkrieg, die im Folgenden mit den wichtigsten Ereignissen aufgeführt ist.

Die weitreichendsten Reformen gehen auf Mustafa Kemal Atatürk zurück, den Staatspräsi- denten der Türkei von 1923 bis 1938. Nach dem ersten Weltkrieg löste dieser einen Befrei- ungskrieg aus und gewann ihn als einziger Feldherr des osmanischen Reiches. Er erwarb da- durch ein so gewaltiges Prestige, dass er im neu gegründeten Staat den Laizismus durchsetzen konnte.3

Atatürk führte weitreichende Reformen durch, die vom Ansatz her politischer Natur waren, jedoch weitreichende Folgen für die Religion hatten. Das Ziel war es, das türkische Volk aus der Abhängigkeit und Unterentwicklung heraus zu holen und die volle Souveränität zu erlan- gen. Dies wollte er mit umfassender Modernisierung erreichen, was eine Abkehr von der is- lamischen Tradition bedeutete, da er diese als Hindernis für gesellschaftlichen Fortschritt sah.4 Er schaffte das Sultanat ab, welches sich als religiöses Amt immer in Staatsangelegen- heiten einmischte. Anfang März 1924 wurde dem ehemaligen Sultan auch die religiöse Würde des Kalifen abgesprochen und der Islam unter die zentrale Verwaltung des staatlichen Diyanet leri Ba kanlı ı, dem Präsidium für Religionsangelegenheiten, gestellt.5 Dieses staatliche Amt für Religion verwaltet die islamischen Einrichtungen. Es regelt die Ausbildung der etwa 100.000 Imame und Muezzine, bezahlt und erhält die Moscheen und gibt landesweit den Inhalt der zu haltenden Predigten vor. Wie in Artikel 1 von Gesetz Nr. 633 „Gesetz in bezug (sic!) auf die Gründung und Aufgaben der Präsidentschaft für die Reli- giösenangelegenheiten (sic!)“ werden deren Aufgaben wie folgt beschrieben: „Die Glaubens- grundlagen des Islam, die Pflichtenlehre und die moralischen Grundsätze betreffenden Auf- gaben ausführen, die Gesellschaft in religiösen Sachen aufklären und die Gebetshäuser füh- ren.“6 Das Präsidium für Religionsangelegenheiten ist institutionell fest an den kemalistischen Staat gebunden und dem Laizismusprinzip unterworfen. Der religiöse Bereich ist demnach nicht autonom und darf nicht mit europäischen Vorbildern verwechselt werden. Der Islam wurde somit institutionell entmachtet und seiner Einflussmöglichkeit auf Politik und Gesell- schaft beraubt. Die Religion wurde in den Privatbereich verwiesen.7

Zusammen mit der Aufhebung des Kalifats mussten auch alle Medresen, die traditionellen religiösen Schulen, ihre Pforten schließen.8

Der Hauptgrund für diese Maßnahmen war es, die Macht des Fanatismus des islamischen Konservativismus zu brechen. Vielen Leuten fiel es schwer, zwischen Religion und Politik zu unterscheiden. Der Staat übernahm Aufgaben wie Bildung und Öffentlichkeitsarbeit, die zu- vor von kirchlichen Funktionären oder Gemeinschaften unterstützt wurden.9 Die Reformen hatten jedoch wenig Bedeutung in der Wertestruktur der ländlichen Bevölke- rung. Der Staat bedrohte das traditionelle Wertesystem der islamischen Gesellschaft ohne jedoch ein neues ideologisches Konzept zu präsentieren, welches die breite Masse angespro- chen hätte.10 Die neue Denkweise setzte sich durch bei der Bürgerschaft, den Staatsangestell- ten und Offizieren, jedoch erreichte sie kaum die Dörfer des anatolischen Hinterlandes. Dies wurde deutlich, als es in der Türkei nach Ende des Atatürk Regimes 1950 zu demokratischen Wahlen kam. Die damalige Oppositionspartei schlug die Staatspartei Atatürks mit 420 gegen 68 Sitzen. Seitdem gab es in der Türkei eine immer stärker werdende Re- Islamisierungstendenz, worunter eine Wiedereinführung von islamischen Vorstellungen und Regeln in das gesellschaftliche und zum Teil sogar staatliche Leben zu verstehen ist.11 Der Islam erfährt eine Wiederbelebung, der durch die Verwestlichungsprozesse und Reformen zurückgedrängte Islam wird revitalisiert.12 Der Religionsunterricht wurde an öffentlichen Schulen wieder eingeführt, Moscheenbesuche nahmen wieder zu und es entstand ein neuer Markt für religiöse Literatur. Der Islam wurde als Element der nationalen Identität wieder entdeckt und sollte so zur Abschwächung gesellschaftlicher Spannungen dienen.13 Die Re-

Islamisierung setzt sich bis in die heutige Zeit durch. Langsam kehren islamische Werte auch in öffentlichen Institutionen zurück. Ein Beispiel hierfür ist die so genannte „türban“-Krise Ende der 80er Jahre. An den Universitäten wurde verstärkt das eigentlich nicht erlaubte Kopftuch getragen, so dass das Parlament ein Verbot erließ. Dies führte zu starken Protesten von islamischen Gruppen. Das Verfassungsgericht entschied schließlich, dass an Universitäten Kleidungsfreiheit herrsche.14 Das Tragen von Kopftüchern an Schulen und Hochschulen ist jedoch weiterhin ein politisch strittiges Thema.15

Insgesamt werden zwei große Tendenzen in der Entwicklung der Türkei sichtbar: auf der einen Seite gibt es die Gruppen, die die Gestaltung der türkischen Gesellschaft verstärkt nach islamischen Prinzipien fordern, während auf der anderen Seite die laizistischen Gruppen ihre Position beständig verteidigen.16

3. Modernisierungstendenzen in der Türkei

Der Begriff der Moderne ist ein komplexes Phänomen.17 Daher sollen in Punkt 3.1 nur einige wichtige Bereiche aufgeführt werden. Punkt 3.2 untersucht die Situation konkret anhand von Beispielen.

3.1 Theoretische Grundlagen

Als wesentliche Elemente der Moderne werden angesehen:

Die Industrialisierung, insbesondere der Übergang von der manuellen, handwerklichen Ferti- gung zu Massenproduktion durch Maschinen, damit auch die Ablösung der feudalen Gesell- schaft durch Kapitalismus und Demokratie; der Fortschrittsglaube; die Rationalität, d. h. der Glaube an die Vernunft und die Vorherrschaft rationaler Überlegungen. Auf kultureller Ebene manifestiert sich die Moderne in kultureller Pluralisierung, auf Ebene der sozialen Beziehun- gen treten Individualisierungs- und Freisetzungsprozesse auf.18 Ein weiteres wichtiges Merk- mal ist die Autonomie gesellschaftlicher Bereiche, wie Ethik, Politik, Recht und Wirtschaft und die damit verbundene funktionale Differenzierung.19 Dabei lösen sich einzelne Bereiche aus der Wirkungssphäre des Religiösen.20 Wird eine Gesellschaft in eigenständige Institutio- nen segmentiert - z.B. Religion, Politik, Wirtschaft - werden die Normen innerhalb der ein- zelnen Bereiche stark rationalisiert, da sie verstärkt den funktionellen Anforderungen der In- stitutionen gerecht werden müssen.21

Die Politik kann den Modernisierungsprozess vorantreiben durch soziale und ökonomische Reformen. Modernisierung bedeutet Transformation. Die Geschichte der Türkei zeigt, dass die kemalistische Politik es sich zur Aufgabe machte, die Modernisierung mit Hilfe von Reformen und dadurch ausgelöster Transformation voranzubringen.

Religion hat historisch betrachtet und auch gegenwärtig einen gewaltigen Einfluss auf Entwicklungsprozesse. Weitgehend wird angenommen, dass die Religion im Allgemeinen ein Hindernis für die Modernisierung darstellt.22

3.2 Auswirkungen auf ausgewählte Bereiche

In den folgenden Abschnitten werden bestimmte Bereiche, die das Leben in der Türkei entscheidend beeinflussen, auf ihre Modernisierungstendenzen untersucht.

3.2.1 Wirtschaft

Wie bereits im Punkt 3.1 erwähnt, ist ein wichtiger Indikator der Moderne die wirtschaftliche Entwicklung bzw. das Wirtschaftswachstum.

Die Kultur eines Landes kann die wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen durch seinen Effekt auf Persönlichkeitsmerkmale wie Ehrlichkeit, Arbeitsmotivation, Offenheit gegenüber Fremden etc.23 Die Religion wird nach den staatlichen Zwecken gesteuert. So ist die höchste Tugend in der kemalistischen Religionspädagogik die Arbeit. Das Wohl des Landes wird hervorgehoben und der religiöse Verdienst, den harte Arbeit bewirkt.24

Der Einfluss der Religion auf das Wirtschaftswachstum wurde in einer wissenschaftlichen Studie von Barro und Mc Cleary untersucht. Sie kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Anzahl der Kirchenbesuche - mit steigendem Wirtschaftswachstum abnimmt, aber bei höhe- rem Glauben, wird das Wirtschaftswachstum positiv beeinflusst. Eine hohe Rate an religiö- sem Glauben stimuliert das Wachstum, da sie individuelles Verhalten verstärkt, welches der Produktivität förderlich ist. Dies wurde, wie oben schon dargestellt von den Kemalisten zu- gunsten der Entwicklung des Landes ausgenutzt. Barro und Mc Cleary argumentieren, dass eine höhere Zahl der Kirchenanwesenheit Wachstum unterdrückt, da dies höhere Ressourcen- nutzung der Kirchen bedeutet.25 Der Glaube kann angesehen werden als der Output des reli- giösen Sektors, während Kirchenbesuche einen Inputfaktor darstellen. Hier fragt sich, welche Tendenz stärker ausgeprägt ist. Für den betrachteten Fall der Türkei sieht es so aus, als ob die Kirchenbesuche zumindest in den Jahren zwischen 1990 und 2001 relativ konstant blieben26, was bedeutet, dass auch die Wirtschaft hier keinen zusätzlichen Input erfahren hat. Auf der anderen Seite weist die Einschätzung der Religiosität der Menschen eine leichte Aufwärtsbe- wegung auf.27 Geht man von den Ergebnissen aus, zu denen Barro und Mc Cleary kamen, so sollte die Wirtschaft innerhalb der Zeit zwischen 1990 und 2001 durch den gestärkten religiö- sen Glauben stimuliert worden sein. Daher nun ein Blick auf die Wirtschaft:

Die Entwicklung des BIP in der Türkei war innerhalb der letzten Jahre sehr volatil, was unter anderem an hohen Inflationsraten, Naturkatastrophen, öffentlichem Defizit und Staatsver- schuldung lag.28 In Anhang 6 ist dieser volatile Verlauf graphisch dargestellt, wobei gleich- zeitig ersichtlich ist, dass die Tendenz trotzdem aufwärts gerichtet ist. Die Jahre 1990 bis 2001 weisen in den ersten Jahren einen steilen Verlauf der Kurve auf, ab 1999 jedoch einen drastischen Abfall. Die Türkei durchlebte im November 2000 und im Februar 2001 zwei schwere Wirtschafts- und Finanzkrisen. Die Kosten dieser Krisen und der nachfolgenden Transformation der Wirtschaft waren beträchtlich. Die Nettoverschuldung des öffentlichen Sektors gemessen am Bruttosozialprodukt verdoppelte sich nahezu innerhalb eines Jahres und die Wirtschaft erfuhr ihren schwersten Rückgang seit dem 2. Weltkrieg. Die Wirtschaftstätigkeit ging zurück und die Arbeitslosigkeit wuchs. Infolge dieser Entwicklung wurde im April 2001 ein ökonomisches Reformprogramm angekündigt.29

Der starke Abfall ist auch in der Grafik in Anhang 6 zu erkennen mit darauf folgenden steilen Aufschwung, ausgelöst durch das strenge Reformprogramm. Die wirtschaftlich positive Ent- wicklung könnte allerdings in den ersten Jahren der betrachteten Periode positiv durch die gestiegene Religiosität beeinflusst worden sein. Jedoch ist kritisch anzumerken, dass dies nur ein kleiner Faktor ist, die wirtschaftliche Entwicklung bzw. das BIP ist von so vielen Variab- len abhängig, dass der Einfluss von Religiosität nur einer von vielen ist. Nachdem das durchschnittliche Wachstum in den 10 Jahren von 1993 bis 2002 bei nur 2,8% lag, war die Türkei in der Lage, 2003 eine Wachstumsrate von 5,9% zu erreichen. Die Wachs- tumsrate des letzten Jahres betrug 9,9%, eine der höchsten auf der Welt.30 Die Entwicklung nach 2002 ist sehr positiv anzusehen, hier ist ein deutliches Merkmal der Moderne erkennbar. Ein wichtiger Einflussfaktor der Türkei in der Moderne ist die angestrebte EU- Mitgliedschaft. Die damit verbundenen starken Bemühungen um Erfüllung der Konvergenz- kriterien kurbeln die Wirtschaft an, es kann hier also von einem Fortschrittsglauben ausge- gangen werden, was die großen Fortschritte in der jüngsten Vergangenheit auch belegen. Ein Beispiel dafür ist der Beginn der Beitrittsverhandlungen zwischen Türkei und EU im Oktober 2005.31 Die Westorientierung ist Staatsprogramm der Türkei. Der Beitritt zur Europäischen Union wird als Krönung des Atatürkschen Reformwerks betrieben. 63-75% der Bevölkerung stehen dem möglichen Beitritt zur EU positiv gegenüber. Seit 1995 ist die Türkei mit der EU in einer Zollunion assoziiert,32 was sie öffnet für kulturelle Einflüsse aus Europa, es kann hier von einer kulturellen Pluralisierung ausgegangen werden.

Die funktionelle Differenzierung zeigt sich zum Beispiel am türkischen Banksystem, welches nicht auf muslimischen Grundsätzen gebaut ist. Ein nach islamischen Grundsätzen geführtes Bankwesen wäre ohne jegliche Zinsabgaben oder Zinsgewinne. Das Zinsnehmen stellt nach dem Koran eine besondere Form der Ausbeutung dar. Dies sei Ausdruck des Verstoßes gegen die Funktion, die Vermögen nach dem Wille Allahs zu erfüllen habe: die freiwillige und un- entgeltliche Unterstützung der Bedürftigen durch die, die einen Vermögensüberschuss besit- zen.33 Das Bankwesen ist vollkommen unabhängig von der Religion, wodurch es die Möglichkeit hat, effektiver zu arbeiten und sein System zu rationalisieren. Nach Saeed gibt es eine direkte Verbindung zwischen Demokratie und der ökonomischen Entwicklung, die sich zum Beispiel in Industrialisierung, Urbanisierung, Wohlstand und Bildungsniveau34 ausdrückt. Die Türkei ist - gemäß ihrer Verfassung von 1982 - eine demokratische, säkulare, soziale und rechtsstaatliche Republik.35

Ein wichtiger Aspekt der Moderne bezieht sich allgemein auf Wohlstand und materielle Gü- ter.36 Bis in die heutige Zeit ist in der Türkei Landflucht zu beobachten. Auch heute noch wol- len nahezu 78% der ländlichen Bevölkerung in die Stadt abwandern, da sie landlos und arm sind und sich in der Stadt bessere Arbeitsmöglichkeiten und ein besseres Leben im Allgemei- nen erhoffen.37 Wie in Anhang 2 deutlich wird, wuchs der Anteil der städtischen Bevölkerung von 62,1% in 1995 auf 66,8% im Jahr 2004. Graphisch verdeutlicht wird dies in der Abbil- dung in Anhang 4. Ein Viertel aller Farmer besitzt 70% des Landes. Dies ist ein Indikator für die soziale Ungleichverteilung von Vermögen in der Türkei. Wohlstand ist demnach nur einer kleineren Gruppe gegeben. Dies kann eher als negativer Faktor gewertet werden.

Der größte Anteil an der Beschäftigungsstruktur in der Türkei ist im Landwirtschaftsbereich tätig. Dieser hat seine Bedeutsamkeit bis in die heutige Zeit beibehalten. Der Übergang zur industriegesellschaftlichen Moderne, die aus der Agrargesellschaft hervorgeht, hat sich hier noch nicht vollständig vollzogen. Nach offiziellen Statistiken sind 40% der Berufstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt.38 2001 hat die Landwirtschaft jedoch nur zu 16% zum BIP beigetragen, was darauf hindeutet, dass weitere strukturelle Anpassungen in der Zukunft vor- genommen werden müssen.

Trotz einiger Erfolge sieht sich die Türkei vielen Herausforderungen gegenüber. Eine der größten ist die Arbeitslosigkeit, die von 1996 bis 2003 von 6,5% auf 10,5% angestiegen ist. Die Zahlen der erwerbstätigen Personen stiegen zwar ebenfalls an, kompensierten jedoch nicht, das hohe Bevölkerungswachstum von ca. 2,25% im Jahr.39 Es wird geschätzt, dass ein jährliches Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 6,25% nötig wäre um die Arbeitslosig- keit konstant zu halten.40

3.2.2 Bildung

Im Bereich der Bildung hat die Türkei große Fortschritte gemacht. Der Anteil der Bevölkerung, der Lesen und Schreiben kann, stieg zwischen 1965 und 1998 von 53% auf 84%.41 Wie im Anhang 2 zu erkennen ist, betrug die Analphabetenquote im Jahr 2004 nur noch 11,7%. In Anhang 3 ist diese positive Entwicklung graphisch dargestellt. Es wird jedoch deutlich, dass der Anteil der Frauen unter den Analphabeten deutlich höher ist als der der Männer, wobei jedoch eine Annäherung seit den 80er Jahren erkennbar ist. Dennoch wird die immer noch bestehende soziale Ungleichbehandlung der Frau deutlich.

Alle Indikatoren im Bildungsbereich haben sich deutlich verbessert in den letzten 20 Jahren. Dennoch schneidet die Türkei im internationalen Vergleich verhältnismäßig schlecht ab. Sie liegt unter dem Durchschnitt für Länder mit mittlerem Einkommen. Weiterhin ist auch die Qualität der Bildung sehr unterschiedlich. Besonders in ländlichen Gebieten sind die Schulen sehr schlecht ausgestattet. 1997 startete die Türkei eine weit reichende Reform des Schulsystems, was die Indikatoren deutlich verbesserte.42

3.2.3 Gesundheitswesen

Die Daten zum Gesundheitswesen zeigen zwischen 1989-2003 Fortschritte. Die Zahl der Krankenbetten erhöhte sich von ca. 133.000 auf 180.797. 2003 betrug die Geburtenrate 20,9%, die Sterberate dagegen 0,70%. Der Geburtenanstieg verringerte sich auf 2,4%. Außerdem stieg die Zahl der Arbeitskräfte im Gesundheitswesen an. 2003 betrug die Anzahl der Krankenhäuser, einschließlich der Beiträge des privaten Sektors, 1.172. Die Bettenkapazität ist zu 61,3% ausgelastet.43

Die Kennziffern im Bereich Gesundheit im Anhang 2 weisen eine positive Entwicklung auf. Die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit und Soziales stiegen von 7,6% des BIP auf 9,1% im Zeitraum von 1995 bis 2004. Die Einwohner pro Krankenbett und pro Arzt nahmen ab, während jedoch bestimmte Krankheitsfälle wie zum Beispiel AIDS häufiger wurden. Anhang 5 zeigt die deutliche Verbesserung der medizinischen Versorgung. Die Anzahl der Einwohner pro Arzt nahm seit den 70er Jahren kontinuierlich ab.

Die Lebenserwartung stieg zwischen 1965 und 2000 von 53 auf 70 Jahre. Die Säuglingssterb- lichkeit sank von 10,3% auf 3,8% in der Zeit von 1980 bis 2000. Doch auch hier sind die Ra- ten deutlich unter denen anderer vergleichbarer Entwicklungsländer.44

3.3 Zwischenfazit

Die einzelnen Prozesse der Moderne erstrecken sich über längere Zeiträume, sie vollziehen sich nicht immer gleichzeitig.45 Das erklärt, warum in der Türkei auf der einen Seite Aspekte gefunden werden können, die auf die Moderne hinweisen und auf der anderen Seite auch Aspekte, die gegen die Modernität sprechen.

Bei den aufgeführten Bereichen sind deutliche Entwicklungen zu erkennen. Die Modernisierung ist in der Türkei weit hinter der Europas. Auch wenn exakte Vergleiche einer bestimmten Periode für alle Bereiche nicht möglich waren, so ist dennoch eine Entwicklung in Richtung zu mehr Modernität erkennbar. Die Frage, die sich stellt, ist eher inwieweit die Türkei überhaupt vergleichbar mit den europäischen (insbesondere westeuropäischen) Staaten ist. Deutlich ist geworden, dass die Moderne in der Türkei noch nicht so weit vorangeschritten ist. Aber die Türkei steht nicht still, sie befindet sich in einem Entwicklungsprozess mit deutlichen Tendenzen in Richtung Moderne. Der Unterschied zu anderen Ländern ist dabei weniger entscheidend als der Unterschied zu früheren Epochen in der Türkei. Dementsprechend sind deutliche Fortschritte in den ausgewählten Bereichen zu vermerken.

4. Auswirkungen auf die Entwicklung des Islam

Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit zwei der wichtigsten Theorien der Religionswissen- schaft: die Säkularisierung und die Individualisierung. Die allgemeinen theoretischen Grundlagen der Thesen vorangestellt46, soll geprüft werden, inwieweit sich diese Theorien auch auf den Islam in der Türkei anwenden lassen.

4.1 Säkularisierung

Hier soll eine Unterscheidung getroffen werden zwischen den Säkularisierungsmaßnahmen des Staates und der klassischen Säkularisierung als gesellschaftliches Phänomen.

4.1.1 S ä kularisierung als Staatspolitik- Laizismus

Ein sehr wichtiger Aspekt in der Türkei ist die Säkularisierung als Staatspolitik. Seit Verkün- dung der Republik 1923 ist die Türkei offiziell säkular.

[...]


1 Vgl. Saeed (1994), S. 3.

2 Saeed (1994), S. 12, zitiert nach Sederberg, Peter, „The Betrayed Ascent: the crisis and transubstantiation of the modern world“, erschienen in The Journal of Developing Areas 13, no. 2 (Januar 1997), S. 135-136.

3 Laizismus bedeutet die Zurückweisung des islamischen Lebens aus dem der Gesellschaft und des Staates, vgl. Hrsg. Weiss (2002), S. 178f.

4 Vgl. Pitzer-Reyl (1996), S. 56f.

5 Vgl. Seufert (2004), siehe Internetverzeichnis.

6 Vgl. Amt für religiöse Angelegenheiten in der Türkei (2006), siehe Internetverzeichnis.

7 Vgl. Pitzer-Reyl (1996), S. 59f.

8 Vgl. Seufert (2004), siehe Internetverzeichnis.

9 Vgl. Saeed (1994), S. 160f.

10 Vgl. Saeed (1994), S. 165.

11 Vgl. Hrsg. Weiss (2002), S. 179.

12 Vgl. Tibi (1991), S. 172.

13 Vgl. Pitzer-Reyl (1996), S. 65ff.

14 Vgl. ebenda, S. 69f.

15 Vgl. Auswärtiges Amt (2005), siehe Internetverzeichnis.

16 Vgl. Pitzer-Reyl (1996), S. 71.

17 Grundlegende Kenntnisse werden vom sachkundigen Leser vorausgesetzt. Hier sollen nur einige Aspekte beleuchtet werden, die für die Fragestellung besonders relevant sind. Zur weiteren Information siehe zum Beispiel Wagner (1995).

18 Vgl. Könemann (2002), S. 36.

19 Vgl. Wagner (1995), S.23ff.

20 Vgl. Pitzer-Reyl (1996), S. 15.

21 Vgl. Saeed (1994), S. 26.

22 Vgl. ebenda, S. 22ff.

23 Vgl. National Bureau of Economic Research Digest (2003), S.1f., siehe Internetverzeichnis.

24 Vgl. Pitzer-Reyl (1996), S. 64.

25 Vgl. National Bureau of Economic Research Digest (2003), S.1f., siehe Internetverzeichnis.

26 Siehe Anhang 8.1, weitere Ausführungen in Punkt 4.1.2.

27 Siehe Anhang 8.2, weitere Ausführungen in Punkt 4.1.2.

28 Vgl. United Nations Development Programme Turkey (2004), S. 18, siehe Internetverzeichnis.

29 Vgl. Botschaft der Republik Türkei in Berlin (2005), siehe Internetverzeichnis.

30 Vgl. ebenda.

31 Europäische Kommission (2005), EU-Nachrichten Nr. 35, S. 5.

32 Vgl. Auswärtiges Amt (2005), siehe Internetverzeichnis.

33 Vgl. Khoury (1988), S. 188ff.

34 Eine nähere Erläuterung zum Bildungsniveau erfolgt in Punkt 3.2.2.

35 Vgl. Auswärtiges Amt (2005), siehe Internetverzeichnis.

36 Vgl. Saeed (1994), S. 9.

37 Vgl. ebenda, S. 188ff.

38 Vgl. United Nations Development Programme Turkey (2003), S. 16, siehe Internetverzeichnis.

39 Vgl. Anhang 7.

40 Vgl. Saeed (1994), S. 188ff.

41 Vgl. United Nations Development Programme Turkey (2004), S. 19, siehe Internetverzeichnis.

42 Vgl. ebenda, S. 19, siehe Internetverzeichnis.

43 Vgl.Amt für Presse und Information der türkischen Regierung (2004), S. 372, siehe Internetverzeichnis.

44 Vgl. United Nations Development Programme Turkey (2004), S. 19f, siehe Internetverzeichnis.

45 Vgl. Wagner (1995), S. 23.

46 Zur weiteren Information siehe zum Beispiel Pollack (2003).

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Kritische Betrachtung von Islam und Moderne in der Türkei
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Note
2
Autor
Jahr
2006
Seiten
35
Katalognummer
V186427
ISBN (eBook)
9783869437125
ISBN (Buch)
9783656993865
Dateigröße
883 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kritische, betrachtung, islam, moderne, türkei
Arbeit zitieren
Susanne Voigt (Autor:in), 2006, Kritische Betrachtung von Islam und Moderne in der Türkei , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186427

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