Das Phänomen Le Parkour

Subkulturelle Bewegungsform mit kulturindustriellem Marktpotential und pädagogischen Verwertungschancen


Examensarbeit, 2008

101 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Le Parkour - zwischen Philosophie und Sport
2.1 Zur Person David Belle
2.2 Entwicklung von Le Parkour
2.3 Grundelemente des Parkour
2.4 Kommerzialisierungs- und Institutionalisierungsprozesse
2.5 Philosophie oder Sport?

3 Trendsportarten im Fokus gesellschaftlichen Wandels
3.1 Definition Sport und Trend
3.1.1 Der Terminus Sport
3.1.2 Der Terminus Trend
3.1.3 Anmerkungen zur Trendforschung
3.2 Gesellschaft und Jugendkultur im Wandel
3.2.1 Gesellschaft im Wandel
3.2.2 Generation X - die moderne Jugendkultur
3.3 Trendsport als Lebensstil
3.4 Stilbildende Aspekte im Trendsport
3.5 Die Genese von Trendsportarten
3.6 Kulturindustrielle Verwertung von Trendsportarten
3.7 Zwischenfazit

4 Le Parkour - Medienhype oder echte Trendsportart?

5 Der Trendsport Le Parkour in der Schule
5.1 Legitimation des Sportunterrichts
5.2 Trendsportarten im Sportunterricht
5.3 Vermittlung von Trendsportarten
5.4 Wagniserziehung im Sportunterricht
5.5 Le Parkour im Sportunterricht
5.5.1 Legitimation von Le Parkour durch den Lehrplan
5.5.2 Zielsetzungen
5.5.3 Eine Unterrichtsreihe Le Parkour

6 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Selbstständigkeitserklärung

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Passement

Abb. 2: Demi-Tour

Abb. 3: Saut de chat

Abb. 4: Saut de bras

Abb. 5: Saut de pr é cision

Abb. 6: Tic Tac

Abb. 7: Trendportfolio

Abb. 8: Modell des Produktlebenszyklus

Abb. 9: Adidas Traceur

Abb. 10: Pädagogische Perspektiven

Tabellenverzeichnis

Tab.1: Phasen der Genese von Trendsportarten

Tab.2: Argumente für und gegen Trendsport im Schulsport

1 Einleitung

„Die Morgensonne taucht die Stadt in ein warmes, orangefarbenes Licht. Ganz ruhig liegt sie da, einzelne Hochhäuser ragen aus ihr empor, die Straßen sind gespickt mit Mauern, Zäunen, Treppen und Geländern. Gespickt mit Hindernissen. Mit Hindernissen, die sie belasten, die den Geist des Menschen belasten. Hindernisse, die überwunden werden wol- len. Behutsam fasst sich der Traceur ein Ziel, eine Herausforderung. Eine persönliche He- rausforderung, die es zu überwinden gilt. Dann läuft er los. (HOMANN 2008: Abs. 1)“

Im Sommersemester 2007 entstand die Idee zu dieser Arbeit. Erstmals wurde an der Phillips- Universität Marburg die Fachwerkstatt mit dem Titel Sportunterricht ohne Sporthalle angebo- ten. Die Seminargruppe widmete sich dem Problem der begrenzten räumlichen Kapazitäten an Marburger Schulen, die sich in anderen Teilen Deutschlands mit Sicherheit ähnlich darstel- len. Im Zuge des Seminars sollten Alternativen zum Sportunterricht in der Sporthalle gefun- den werden. Ich schloss mich der Gruppe Le Parkour - Laufen, Springen, Wagen in der Stadt an, obwohl ich Le Parkour1 vorher noch nicht bewusst wahrgenommen hatte. In der Vorberei- tung auf die Seminarstunde wurde das Internet durchsucht und machte Lust auf mehr. Die Videos und Technikbeschreibungen animierten geradezu nach draußen zu gehen und die ra- santen Läufe einfach selbst auszuprobieren. Die Erfahrungen und Eindrücke, die schon inner- halb kürzester Zeit gesammelt wurden, waren überwältigend. Nach nur zwei Treffen erschien die Stadt nicht mehr als ein Kulturraum mit Bänken, Treppen, Geländern und Mauern, son- dern als ein Sportgelände mit zahlreichen Hindernissen, die es zu bewältigen galt.

Inspiriert von der praktischen Durchführung ist diese Examensarbeit entstanden. Fasziniert von der Idee mehr über diesen Trend aus Frankreich zu erfahren, entwickelte ich die Idee Parkour aus zwei didaktisch vollkommen unterschiedlichen Vermittlungspositionen zu be- trachten und anhand von praktischen Beispielen Vor- und Nachteile aufzuzeigen. Doch bevor die praktischen Ideen beispielsweise in einer weiteren Examensarbeit umgesetzt werden, ist eine theoretische Untersuchung von Le Parkour erforderlich, die sich auf folgende Fragestel- lungen stützt. Worin liegt das Wesen von Parkour? Diese Frage wird beantwortet, indem die Ursprünge und die Umstände der Entwicklung von Parkour analysiert sowie die Entwicklung der Bewegung bis hin zu aktuellen Kommerzialisierungstendenzen verfolgt wird. In einem zweiten Schritt wird die theoretische Basis für diese Arbeit gelegt. Dieser Teil beschreibt aus soziologischer und sportwissenschaftlicher Sicht, was eine Trendsportart ist und endet mit einem für diese Arbeit relevanten Trendsportterminus. Anschließend wird das vorgestellte Bewegungsphänomen Parkour auf seinen Trendgehalt anhand des entwickelten Trendsport- terminus analysiert. Im vierten und letzten Teil erfolgt eine didaktische Diskussion, in der ausgehend von einer allgemeinen Debatte um Trendsportarten in der Schule verschiedene Vermittlungsansätze erörtert und ausgewertet werden.

Das Phänomen Parkour ist relativ neu, vor allem auf sportwissenschaftlicher Ebene. Insofern ist der Stand der Literatur, die sich explizit auf Parkour bezieht, sehr niedrig. Lediglich drei kurze Artikel in den einschlägigen sportwissenschaftlich relevanten Schriftenreihen finden sich mittlerweile. Auch auf internationaler Ebene gibt es erst ein Buch, das sich mit dem Phä- nomen Parkour beschäftigt. Dies begründet den hohen Teil an Zeitungsartikeln und kurzen Texten aus dem Internet. Trendsport allgemein hingegen ist auf Grund seines aktuellen Be- zugs ein sehr gut untersuchtes Feld. Daher habe ich mich für einen theoretischen Teil ent- schieden, der auf den ersten Blick sehr umfangreich wirken mag. Auch der große soziologi- sche Anteil bei der Trendsportuntersuchung ist bewusst gewählt, um die Entwicklung von Trendsportarten nachvollziehen zu können. Nur so ist es meiner Meinung nach möglich, eine Trendsportart aus allen Perspektiven betrachten und verstehen zu können. Denn aus den Kenntnissen über andere Trendsportarten lässt sich für Parkour viel ableiten und eine zukünf- tige Entwicklung in Aussicht stellen, wie es am Ende der Arbeit getan wird.

2 Le Parkour - zwischen Philosophie und Sport

Ein Mann rennt um sein Leben. Es scheint, als könne ihn kein Hindernis aufhalten. Keine Mauer ist hoch genug, kein Spalt zu eng. Selbst ein Baukran kann den vermeintlichen Böse- wicht nicht aufhalten. In schwindelerregender Höhe bewegt sich der Mann balancierend, aber in hohem Tempo auf dem Kran, springt artistisch auf einen zweiten Kran und klettert auf und ab. Nur mit Mühe und weitaus weniger leichtfüßiger Eleganz folgt ihm der Geheimagent Ja- mes Bond. Diese Szene aus dem Film Casino Royale fordert Daniel CRAIG als Darsteller alles ab. Denn sein Gegenspieler wird gespielt von Sébastien FOUCAN, einem der Pioniere des Par- kour (vgl. BECK 2007: Abs. 3). Szenenwechsel. Im 2007 erschienen Film Mr. Bean macht Ferien läuft der Hauptdarsteller Rowan ATKINSON in einer Szene quer durch Paris und pas- siert dabei Hindernisse wie Fußgänger und Autos scheinbar teilnahmslos. Er läuft zielgerich- tet von A nach B, der einzige Unterschied zum vorherigen Beispiel sind die fehlenden artisti- schen Sprünge und Spezialeffekte. Viele Anhänger des Parkour vermuteten eine Parodie auf ihre Bewegungskultur. Stellt sich also die folgende Frage, wann genau das sture Geradeaus- laufen Merkmale des Parkour zu tragen beginnt (vgl. KEDVES 2007: 20).

Eben solche Merkmale sind genauso Bestandteil dieses Kapitels wie die Entwicklung des Parkour von seinen Anfängen bis hin zu aktuellen Kommerzialisierungs- und Institutionalisie- rungsprozessen. Dem wird eine Betrachtung der Person David BELLE vorangestellt, der als Erfinder des Parkour gilt und daher eine tragende Rolle für die Entwicklung spielt. Die ab- schließende Diskussion befasst sich mit der zweiseitigen Interpretation des Parkour zum einen als Philosophie und Lebenseinstellung sowie zum anderen als Sport und Bewegungsform.

2.1 Zur Person David Belle

Um das wahre Parkour verstehen zu können, ist es meines Erachtens sehr interessant, hinter den Mythos des Erfinders zu schauen und mehr als nur den wohl besten Traceur der Welt zu sehen. Denn wer versucht die Person David BELLE zu verstehen, der entwickelt ein Verständ- nis von Parkour, das über die sensationellen Sprünge und beeindruckenden Bilder hinaus- reicht.

David BELLE wurde 1973 in Frankreich geboren und von seinem Großvater aufgezogen, der ihm viele Geschichten über BELLEs Vater, Raymond BELLE, erzählte. In einem Interview be- schreibt David BELLE diese Geschichten als Spiderman und Tarzan-Geschichten, die in ihm den Wunsch weckten, einmal wie Spiderman durch die Lüfte zu schwingen (vgl. WILKINSON 2007: 1). Raymond BELLE war das große Vorbild des jungen David. Geboren 1939 in Indo- china, dem heutigen Vietnam, wurde er auf Grund der Rebellion kommunistischer Kräfte ge- gen die französische Kolonialmacht von seiner Familie getrennt und in einem Waisenlager als Kindersoldat ausgebildet. Er erfand eine Methode, um schnell und effizient durch den Dschungel zu flüchten. Mit 19 Jahren kam Raymond BELLE als ausgebildeter Soldat zurück nach Paris. Er wollte sein Bewegungskönnen weiterhin einsetzen und ging zur Sapeurs Pompiers, einer Eliteeinheit der Pariser Feuerwehr (vgl. DETTWEILER 2007: Abs. 10ff.). Er nutzte sein Bewegungsrepertoire für spektakuläre Rettungsaktionen, wie z. B. 1965, als er einer suizidgefährdeten Frau das Leben rettete, indem er sich vom Kamin des Hauses abseilte und in das Zimmer der Frau sprang (vgl. STAUDE 2007: 37). Nur vier Jahre später erschien er erneut in den Schlagzeilen, als er 1969 von einem Hubschrauber abgeseilt eine Fahne der Vietkong von der Turmspitze der Notre Dame entfernte (vgl. WILKINSON 2007: 1). „Ein Junge kann ein schlechteres Vorbild haben“ (STAUDE 2007: 37).

Schon in jungen Jahren konnte David BELLE nicht still vor dem Fernseher sitzen, trainierte ständig und widersetzte sich jeglichem System. Er wollte einfach sein Leben leben. Mit 14 Jahren zog er zu seiner Mutter in den Pariser Vorort Lisses und sein älterer Halbbruder Jeff BELLE, ebenfalls Feuerwehrmann wie der gemeinsame Vater, kümmerte sich um ihn, zeigte ihm Techniken der Feuerwehrmänner. An der Kletterwand Dame du Lac erprobte BELLE mit seinem Vater Klettertechniken und entwickelte eigene Formen der Fortbewegung. Später folgte David BELLE seinem Vater und seinem Bruder in die Feuerwehr. Eine Zwangspause nach einer Handgelenksverletzung nutzte er zum Nachdenken und erkannte, dass der Beruf des Feuerwehrmanns mit zu vielen Regeln bei zu wenig Action verbunden war. Er ging zur Marine, doch auch dort fand er nicht die erhoffte Befriedigung. Deshalb verließ BELLE die Einheit und daraufhin Frankreich für sechs Monate, um nach Indien zu gehen und dort seine Bewegungen in den Wäldern zu trainieren. An einem von Bäumen umringten Wasserfall ereignete sich ein Schlüsselerlebnis für BELLE. In diesen Bäumen lebten Affen, von Zäunen und Barrieren umgeben. BELLE stieg über die Zäune und spielte mit den Affen (vgl. WILKIN- SON 2007: 4ff.).

„After that, I watched them all the time, learning how they climbed. All the techniques in parkour are from watching the monkeys.“ (ebd.: 6)

David BELLE kupferte sein Parkour von den Bewegungen der Affen ab. Er entwickelte und perfektionierte die Techniken und kehrte 24-jährig nach Frankreich zurück, ohne zu wissen, wie es in seinem Leben weiter gehen soll. Und auch heute wirkt er oft nachdenklich. Seine Familie nutzte diese körperlichen Fähigkeiten für ihre Tätigkeiten, doch er stellt sich nach wie vor die Frage, warum er das tut und welche Bedeutung die Bewegung für ihn hat (vgl. ebd.: 5).

In Interviews wirkt David BELLE oftmals wie ein schüchterner Junge, „der brav mit den Eltern am Tisch […] sitzt, aber viel lieber draußen Fußball spielen will“ (DETTWEILER 2007: Abs. 8). Werbeveranstaltungen und Interviews kann er nicht leiden, denn er spricht nur ungern über sich und versucht, das öffentliche Interesse an seiner Person lieber auf seine Kunst zu lenken (vgl. ebd.: Abs. 9). David BELLE lebt bei seiner Mutter, denn entgegen vieler Vermutungen macht Parkour ihn (noch) nicht reich. Trotzdem lehnte er das Angebot ab, für den aktuellen Spiderman-Film das Stuntdouble zu spielen (vgl. WILKINSON 2007: 6). Dabei war es doch immer sein Traum, einmal Spiderman zu sein. Doch BELLE bleibt bescheiden und tourt durch die Welt, um sein Parkour, das echte Parkour zu verbreiten.

2.2 Entwicklung von Le Parkour

Derzeit gibt es in Deutschland nach Schätzungen etwa 2.000 Traceure, so nennen sich die Läufer/innen, die sich ihren Weg durch die Stadt von A nach B so effizient wie möglich bah- nen (vgl. WOLFSGRUBER 2007: 178). Traceur/se bedeutet so viel wie den Weg ebnend (vgl. BECK 2007: Abs. 3) oder Spurensucher (vgl. DEWITZ 2007: Abs. 4). Es trifft allerdings auch die Beschreibung von Jeff BELLE zu, der sagt, dass ein/e Traceur/se jemand ist, „who traces David’s footsteps, the way David traces our father’s“ (WILKINSON 2007: 1). Inspiriert wurde David BELLE durch die Bewegungsmethode seines Vaters Raymond BELLE, die dieser sich im Dschungel angeeignet hat und die ihm ermöglichte jederzeit effizient zu flüchten (vgl. DETT- WEILER 2007: Abs. 10 & 11). Die Bewegungen basierten auf der vom französischen Sportwis- senschaftler Georges HÉBERT (*1875; †1957) entwickelten m é thode naturelle. HÉBERT stellte in Studien in Afrika fest, dass die in freier Natur lebenden Menschen gesünder und stärker seien als die Europäer, die durch die moderne Bequemlichkeit (wie z. B. Fahrstühle) körper- lich zunehmend schwächer werden. Daraufhin entwickelte er eine Trainingsmethode, die Körper und Geist, Mut und Disziplin im Einklang mit der Natur trainieren sollte (vgl. WIL- KINSON 2007: 6).

Im Jahr 1987 zog David BELLE in den Pariser Vorort Lisses, der mit seiner öden Infrastruktur (vgl. ROSENFELDER 2005: 48) nur wenig Bewegungsmöglichkeiten bot und das Bedürfnis nach Abenteuer nicht befriedigen konnte. BELLE übertrug die Bewegungsmethode seines Va- ters auf die Architektur der Ballungsräume und erprobte seine Techniken an einer Kletter- wand in der Nähe des Vorortes - der heute legendären Dame du Lac, die für Traceure aller Welt ein reisewürdiger Mythos ist (vgl. WILKINSON 2007: 1). Neben der Dame du Lac gilt eine Kastanie in Lisses als mythischer Ursprung des Parkour, von wo aus die Bewegung sich weltweit verbreitete (vgl. ROSENFELDER 2005: 48). BELLE begann allein zu trainieren und suchte nach Wegen, „die Mauern, die uns umgeben, zu überwinden“ (KASSOVITZ 2008: Abs. 10) und meint mit Mauern die physischen wie auch die im übertragenen Sinn. Sein Bruder Jeff beauftragte ihn im Jahr 1997 damit, eine Gruppe zusammen zu stellen, die für ein Feuer- wehrfest eine Choreographie mit den Bewegungen aufführen sollte. Daraufhin organisierte er zwei seiner Cousins sowie einige Freunde, darunter auch Sébastien FOUCAN und gründete die Gruppe Yamakasi. Die Show wurde ein voller Erfolg und BELLE erhielt weitere Aufträge für Stuntshows und Kurzfilme. Ein erstes Internetforum gründete sich, in dem sich die Traceure in Lisses zum Training verabredeten (vgl. WILKINSON 2007: 5). Sein Bruder war es auch, der als erstes Vertrauen in die Fähigkeiten von David BELLE steckte, der sein volles Engagement seinen Bewegungen widmete, damit jedoch kein Geld verdienen konnte. Bis Jeff BELLE auf die Idee kam, die Läufe mit der Kamera aufzuzeichnen und einem Fernsehsender anzubieten (vgl. FÖRSTER 2007: Abs. 6). David BELLE gab seiner Bewegung einen Namen und wandelte das französische Wort parcours, das eine Hindernisstrecke im ritterlichen Wettkampf be- schreibt ab und ersetzte das c im Wort bewusst durch ein k. Le Parkour wurde zur offiziellen Bezeichnung des artistischen Laufs durch die Stadt über alle Hindernisse hinweg (vgl. STAU- DE 2007: 37). Um seine Bewegungskunst zusätzlich vom parcours abzugrenzen ergänzte er Le Parkour mit dem Begriff der L ’ Art du Deplacement, also der Kunst der Fortbewegung (vgl. ROSENFELDER 2005: 48). Durch erste Berichte im Fernsehen und einen spärlichen Inter- netauftritt begannen erste Jugendliche in Frankreich auf die artistischen Bewegungen und spektakulären Läufe der Traceure aufmerksam zu werden. Mit der Präsentation im Internet bestand von Beginn an die Möglichkeit, „der Kunst eine Plattform zu geben und sie der Öf- fentlichkeit zugänglich zu machen“ (BELLE 2007, zit. in FÖRSTER 2007: Abs. 6).

Schnell schwappte die neue Bewegung auch nach Großbritannien über, wo sie dem heute bekanntesten amerikanischen Traceur Mark TOOROCK im Jahr 2002 zuerst begegnete. Kollegen redeten über den Verrückten, der in einer Fernsehwerbung über Häuserdächer springt. Er suchte im Internet nach BELLE und stieß auf das französische Parkourforum. Doch in dem Forum war TOOROCK als englischsprachiger Mann anscheinend nicht gern gesehen, denn die Teilnehmer des Forums fürchteten die schnelle Verbreitung über das Internet und damit eine Verfälschung ihrer Idee (vgl. WILKINSON 2007: 2).

Diese Grundidee des Parkour ist die schnellstmögliche und effizienteste Fortbewegung von einem Punkt A zu einem Punkt B. Hindernisse wie Bänke, Geländer und Garagen werden in den Lauf eingebunden und überwunden, statt sie zu umgehen (vgl. WESTHOFF 2008: 40). Die Stadt mit ihren postmodernen Antilandschaften bietet zahlreiche Herausforderungen, die im Idealfall mit fließenden Bewegungen passiert werden (vgl. ROSENFELDER 2005: 48). Traceure folgen dabei zwar nicht festgeschriebenen, aber dennoch allgemein bekannten Maximen. Die zu überquerenden Hindernisse sollen nicht verändert werden, der eigene Körper und die Um- welt, Privateigentum inklusive, sollen mit Respekt behandelt werden (vgl. HOMANN 2008: Abs. 4). Dazu gehört vor allem der Respekt vor Höhen, Distanzen und vor Abgründen (vgl. BECK 2007: Abs. 8). Vor einem Sprung wird das Hindernis inspiziert und der Sprung sorgfäl- tig vorbereitet (vgl. WESTHOFF 2008: 40). Um die Verletzungsgefahr so gering wie möglich zu halten und die eigenen körperlichen Grenzen nicht zu überschreiten, ist sich ein/e Tra- ceur/se vor dem Sprung zu einhundert Prozent sicher, dass er/sie den Sprung schafft. Um ein derartiges Körpergefühl zu erzielen, braucht es viel Training und Erfahrung (vgl. HOMANN 2008: Abs. 6). BELLE antwortet auf die Frage, wann ein Sprung zu gefährlich wird, dass sein Körper intuitiv weiß, wann er den Sprung nicht schafft. Und er fügt hinzu, dass er kein Risiko eingeht, da sein Leben ihm zu viel bedeuten würde (vgl. WILKINSON 2007: 6). Insofern ist für Parkour vor allem mentale Stärke zur Überwindung von Hindernissen vonnöten. Ist sich ein/e Traceur/se bei einem Sprung unsicher und führt ihn nicht aus, so wird er/sie nicht von der Gruppe ausgestoßen, sondern mit Respekt behandelt, dass er/sie vernünftig statt unvorsichtig ist. Diesem Gedanken folgend, erscheint es nur logisch und konsequent, dass im Parkour ver- geblich nach Wettbewerben und Meisterschaften gesucht wird (vgl. HOMANN: Abs. 4). Effi- zienz ist eine Frage der Balance zwischen In- und Output. Daher ist es immer von Bedeutung, die eigenen Fähigkeiten angemessen einzuschätzen und stets die Kontrolle über den eigenen Körper zu behalten. Der in der Szene bekannte österreichische Traceur Andreas KALTEIS sagt dazu:

„Beim Parkour geht es darum, sich effizient forzubewegen [sic], effizient zu sein, wenig reinzustecken und viel rauszubekommen. Und im Krankenhaus zu landen ist nicht sehr effizient.“ (zit. in HOMANN 2008: Abs. 6)

Unfälle im Parkour treten nicht häufiger auf als in anderen Sportarten, trotzdem hat das Fern- sehen in Deutschland anfangs nur das Bild einer lebensmüden Stuntkultur verbreitet (vgl. RO- SENFELDER 2005: 48). Um nicht als Konkurrenz von US-Formaten wie Jackass zu enden, muss jeder Anfänger sich bewusst sein, dass die Videos im Internet, die bewusst auf Tempo geschnitten sind, nur ein kleiner Teil von Parkour sind (vgl. KEDVES 2007: 20). Mehr noch folgen viele der Videos nicht allen Maximen der Bewegung und vernachlässigen die Effizienz zu Gunsten von Artistik und unökonomischen Elementen (vgl. STAUDE 2007: 37). Anfän- ger/innen, die diese Videos sehen, wollen die Sprünge selbst ausführen, unterschätzen dabei aber oft die Höhen und Distanzen der Sprünge. Darüber hinaus übersehen sie meist das harte Training, das hinter den rasanten Filmen steckt. Denn Parkour heißt Training und Wiederho- lung. Der amerikanische Traceur Ryan FORD meint dazu, dass es in den USA noch keine/n Traceur/se gäbe, der/die das Level von David BELLE erreicht habe. Nicht weil es keine Talen- te gäbe, sondern weil BELLE seit knapp zwanzig Jahren seine Bewegungen trainiert habe. In den USA hat noch keine/r dieses Niveau erreichen können, da Parkour dort erst seit wenigen Jahren existiere. In der Tat zeigen die Internetvideos nur einen Bruchteil des jahrelangen Trainings der Traceure, denn das Training besteht daraus, die einzelnen Elemente immer und immer wieder zu wiederholen. Wer beispielsweise von einem hohen Punkt springen will, der muss zuerst die Rollen üben, anfangs auf dem Boden, dann aus einer geringen Höhe. Wenn einhundert Rollen von einhundert Versuchen erfolgreich waren, dann kann die Schwierigkeit gesteigert werden. David BELLE hat sein Können erreicht, weil er immer wieder trainiert hat, denn Parkour folgt dem Prinzip der Allmählichkeit. Die Grundelemente des Parkour müssen mit Zähigkeit trainiert werden, um die Verletzungsgefahr und die Belastung der untrainierten Gelenke und Muskeln so gering wie möglich zu halten (vgl. WILKINSON 2007: 2; STAUDE 2007: 37). Wer dies nicht beachtet, dem droht das gleiche Schicksal wie den zwei englischen Jugendlichen, die im Jahr 2005 beim Versuch einen Sprung aus einem Video zu kopieren in den Tod stürzten (vgl. WINKLER 2006: 91).

Auch wenn sich Parkour für David BELLE selbst in den Jahren kaum geändert hat, sind Wei- terentwicklungen schon jetzt zu beobachten und auch für die Zukunft nicht auszuschließen (vgl. WILKINSON 2007: 6). Im Jahr 2002 trennte sich die Gruppe Yamakasi und spaltete sich in die Gruppen Yamakasi und Traceurs, die anschließend unterschiedlichen Interpretationen von Parkour folgten (vgl. ROSENFELDER 2005: 48). Während David BELLE weiter mit den Traceurs trainierte, ging sein langjähriger Weggefährte Sébastien FOUCAN seinen eigenen Weg und gründete die Sportart Freerunning, die im Grunde auf Parkour basiert. Allerdings gehören zum Freerunning auch Salti und andere akrobatische Elemente, die im Parkour als ineffizient angesehen werden (vgl. KEDVES 2007: 20; ROSENFELDER 2005: 48).

Parkour hat sich in den letzten Jahren stark verbreitet und gerät zunehmend in den Fokus der Medien und Wirtschaft. WOLFSGRUBER (2007: 179) gibt an, dass sich im Internet 6,1 Millio- nen Treffer zum Thema Parkour befinden. Eine eigene Suche des Autors mit Hilfe der Such- maschine Google am 29. August 2008 ergab im Internet rund 11,7 Millionen Treffer, also nahezu eine Verdopplung der Einträge innerhalb des letzten Jahres. Ebenso erschien es dem Verfasser dieser Arbeit so, dass sich die Printmedien vor allem seit Beginn des Jahres 2007 zunehmend und ausführlicher mit dem Thema Parkour beschäftigten als in den Jahren zuvor, in denen die Bewegung noch sehr kritisch betrachtet wurde. Auch Fernsehberichte stellen Traceure nicht mehr als lebensmüde Jugendliche dar, die über weite Schluchten springen, sondern blicken hinter die Bewegungskunst. Inwieweit einsetzende Institutionalisierungs- und Kommerzialisierungsprozesse Parkour weiter beeinflussen, wird in Kapitel 2.4. ausführlich thematisiert.

2.3 Grundelemente des Parkour

Im vorangegangenen Kapitel wurden Aspekte der Bewegung und des Trainings angesprochen. Die Ergebnisse des langen Trainings werden in den spektakulären Videos festgehalten, in denen die rund ein dutzend Grundelemente des Parkour miteinander verbunden werden. Dafür braucht es ein Training, in dem die Bewegungen in ständiger Wiederholung eingeübt und gefestigt werden. Diszipliniertes Training ermöglicht fließende Bewegungen, die für den Betrachter schön oder ästhetisch wirken. Für BELLE ist Ästhetik ein Zeichen der Liebe, zu den Bewegungen und zum Sport. Er meint darüber hinaus, dass es eher „die Kraft ist, die eine Bewegung schön aussehen lässt […]. Wenn der Puma einen Fluss überspringt, sieht das einfach schön aus. Und er versucht dabei nicht, schön auszusehen, sondern so exakt wie möglich zu springen. Am Anfang muss man vor allem an den effizienten Aspekten arbeiten.“ (KASSOVITZ 2008: Abs. 8)

Erlaubt sind im Parkour alle Fortbewegungsformen. Sie sollten den Maximen der Effizienz, Schnelligkeit und Flüssigkeit folgen. Wie die folgende Auflistung zeigen wird, erinnern zahlreiche der zwölf Grundbewegungen an Elemente des klassischen Turnens. Die Bewegungen werden allerdings mit einer anderen Sinnorientierung belegt. Nicht die technisch korrekte Ausführungen der Bewegungen, sondern Effizienz und Schnelligkeit entscheiden. Die beschriebenen Elemente werden als Grundelemente des Parkour verstanden. Parkour im Außengelände erfordert immer auch eine Anpassung des individuellen Bewegungskönnens an die räumlichen Gegebenheiten (vgl. ROSENFELDER 2005: 48; PAPE-KRAMER 2007: 170). Die Techniken tragen der Herkunft des Parkour zufolge alle einen französischen Namen und werden in den Quellen zum Teil unterschiedlich übersetzt.

Die grundlegendste Bewegung ist die roulade (1) oder Rolle. Sie wird eingesetzt, um die Stoßwirkung gerade aus hohen und weiten Sprüngen zu senken und damit die Verletzungsge- fahr einzudämmen. Sie dient aber auch dem Überspringen von Objekten, vergleichbar mit einer Hechtrolle. Die roulade ist einer der wichtigsten Bewegungen und sollte von Anfängern zuerst erlernt werden.

Passement (2) oder Ü berwindung ist eine Art einhändiger Schritt- hocksprung über ein Hindernis. Die Traceure laufen über das Hindernis, indem sie sich mit einer Hand darauf abstützen. Alter- nativ können die kleinen Hindernisse wie Bänke, Tonnen, niedri- ge Mauern und Geländer auch überlaufen werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Passement Quelle: bearbeitet nach SCHILD (2008)

Zwei weitere grundlegende Elemente sind das l â ch é (3) bzw. Loslassen sowie das planche (4) oder Hochziehen. Das Loslassen geschieht aus einer hängenden Position um entweder zu fallen oder sich mit Schwung an einem weiteren Objekt wieder aufzufangen, z. B. von Ast zu Ast zu schwingen. Das Hochziehen beginnt ebenfalls in einer hängenden Position. Ziel ist es mit eigener Kraft aus der hängenden in eine stützende Position zu gelangen, beispielsweise an einer Stange oder an einer Mauer.

Die demi-Tour (5) oder Halbe Drehung ist ein Hocksprung über ein Hindernis, allerdings mit halber Drehung, sodass der/die Tra- ceur/se auf der anderen Seite des Hindernisses in einer kontrollier- ten Position landet. So kann beispielsweise ein höheres Geländer überwunden werden und anschließend das Laufen fortgesetzt wer- den.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Demi-Tour Quelle: bearbeitet nach

MEYER/KALTEIS (2007b)

Der saut de chat (6) oder Katzensprung eignet sich besonders für weite oder präzise Sprünge. Er ähnelt der Sprunghocke aus dem Turnen, wurde aber dem Parkour angepasst, indem die hohe Anf- lugphase wegfällt und die Beine nach dem Durchhocken nach vorn gestreckt werden. Der Sprung benötigt einen schnellen Anlauf und explosiven Absprung. Die Landung erfolgt durch ein weiches Ab- federn oder in einem Armsprung.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Saut de chat Quelle: bearbeitet nach EES (2006)

Der saut de bras (7) oder Armsprung dient der Überwindung von Lücken zwischen zwei Hindernissen. Der Sprung an ein Objekt wird aus dem Stehen oder der Bewegung heraus durchgeführt. Die Beine erreichen das Objekt zuerst, um die Bewegung nach vorn und den Aufprall abzubremsen. Gleichzeitig wird so ein sicheres und kontrolliertes Greifen des Objekts ermöglicht. Mit einem plan- che kann das Objekt dann bestiegen werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Saut de bras Quelle: bearbeitet nach

STREETPARKOUR (2008)

Eine Variante des saut de bras ist passe muraille (8), die Mauerüberwindung. Vom Boden aus wird ein höheres Hindernis, wie beispielsweise eine Mauer angesprungen. Mit den Füßen stoßen sich die Traceure aktiv von der Mauer ab, sodass sie die Energie nutzen um an Höhe zu gewinnen und mit den Händen an den oberen Rand des Hindernisses zu greifen. Mit einem planche ziehen sie sich auf das Hindernis.

Der saut de pr é cision (9) bzw. Präzisionssprung ist einer der ans- pruchsvollsten Sprünge im Parkour. Aus dem Stand springen die Traceure vorwärts oder rückwärts über eine Lücke und landen präzi- se auf einer Stange, Mauer oder Kante. Die Landung erfolgt federnd in den Hüft- und Kniegelenken. Für eine höhere Präzision und Kont- rolle wird eine Landung auf den Zehen bzw. Fußballen empfohlen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: Saut de pr é cision Quelle: bearbeitet nach GOMES (2006)

Ein saut de d é tente (10) oder Weitsprung dient der Überbrückung weiter Distanzen und ist ein einbeiniger Sprung mit Anlauf, der meistens mit einer Rolle aufgefangen wird. Der Tic Tac (11) wird bei instabilen Hindernissen angewendet, wenn der Winkel, in dem ein/e Traceur/se auf das Hindernis trifft, ungünstig oder das Hindernis zu hoch ist. Dann genügt ein ge- wöhnlicher passe muraille nicht, sodass die Traceure sich an einem oder mehreren Objekte abstoßen, um an Höhe und Distanz zu ge- winnen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6: Tic Tac Quelle: bearbeitet nach BBC (2005)

Der franchissement (12) oder Durchbruch gleicht einem Felgunterschwung am Reck. Aus der Bewegung heraus durchbrechen die Traceure eine Lücke zwischen Ästen oder Stangen. Je nach Anlauf und Bewegungsausführung kann der franchissement direkt oder seitlich ausge- führt werden.

Diese zwölf Grundtechniken nach MEYER/KALTEIS (2007a) und PAPE-KRAMER (2007: 171f.) sollten Traceure beherrschen und für Anfänger/innen ein erster Schritt in den Sport Parkour sein. Es soll an dieser Stelle noch einmal betont sein, dass die Beschreibung der Techniken eher einer Empfehlung gleicht, da die technisch saubere Ausführung hinter die Aspekte der Effizienz und Geschwindigkeit rückt. Bei der Ausübung im Freien geben die Grundelemente eine Art Orientierung, jede/r Traceur/se kombiniert die Elemente und fügt neue hinzu, sodass sich individuell ein eigener Stil entwickelt. „Man fängt ganz klein an, erst muss man gehen lernen, bevor man springen lernt“ (MARKERT 2008: 20), fasst einer der ersten Stuttgarter Traceure den langen Weg bis zu den gewagteren Sprüngen zusammen.

2.4 Kommerzialisierungs- und Institutionalisierungsprozesse

In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Traceure in Deutschland stark vergrößert. Darüber hinaus zeigt die häufiger werdende Thematisierung in den Medien, dass Parkour in Deutschland ins Bewusstsein gelangt. „Nun haben Verbände und Forscher die Bewegung entdeckt. Den Individualisten drohen Kommerz und Mainstream“ (WOLFSGRUBER 2007: 178). Mit Individualisten sind die Traceure gemeint, die durch das gestiegene Interesse und den damit verbundenen Vermarktungsinteressen um die Werte ihrer Bewegungskunst fürchten. Dieses Kapitel zeigt Tendenzen auf wirtschaftlicher wie institutioneller Ebene auf und gibt einen Einblick in die mögliche Zukunft des Parkour.

In zahlreichen Musikvideos, Filmen und Werbespots laufen, springen und fliegen bekannte Traceure heute über die Kinoleinwände und Fernsehbildschirme. Die Sängerin MADONNA engagierte Traceure für ihr Musikvideo zum Song Jump und für ihre Welttournee. Zahlreiche Firmen drehen Werbespots mit Traceuren. So haben beispielsweise Nissan, Nike und Canon David BELLE dafür bezahlt, dass er über Häuser springt, Wände hinaufklettert und durch die Stadt rennt - im Namen ihrer Marke (vgl. DETTWEILER 2007: Abs. 15). Die Wirtschaft ent- deckt die Coolness der Bewegungskunst für sich und nutzt das sportliche, jugendliche und in gewisser Weise rebellische Image von Parkour, um das eigene Image für die entsprechenden Zielgruppen anzupassen (vgl. STAUDE 2007: Abs. 9). In Deutschland stieg die Kaugummi- marke Airwaves in die Kommerzialisierung des Parkour ein und veranstaltete am 30. August 2007 die erste Airwaves Big Box PARKOUR Night in der noch stillgelegten U-Bahnstation am Reichstag in Berlin, um Parkour in Deutschland weiter bekannt zu machen. Eingeladen wur- den die besten Traceure Europas und natürlich der Erfinder, David BELLE. Der wurde ange- kündigt mit den Worten: „In einer atemberaubenden Inszenierung wird David Belle die Sportart Parkour zu einem noch nie dagewesenen Erlebnis machen“ (KEDVES 2007: 20). Zu Recht fragt KEDVES (2007) was das Showspektakel, Muskelspiel und der Stuntthrill noch mit dem Grundgedanken von Parkour gemeinsam hätten, zumal BELLE auftrat, nur einen Sprung zeigte, um anschließend die zum Teil enttäuschten Zuschauer wieder zu verlassen (vgl. DETTWEILER 2007: Abs. 7). Ob an diesem Abend tatsächlich Parkour im Mittelpunkt stand, bleibt weiter fraglich, wenn in einer Presseerklärung des Kaugummiherstellers fast beiläufig folgende Aussage steht:

„Im Rahmen der Veranstaltung stellte Wrigley seine neue Airwaves Big BoxGroßpackung mit 55 Kaugummi-Dragees vor. Mit der Big Box kann man immer wieder Durchatmen und ist somit frei für neue Herausforderungen … und bestens vorbereitet für PARKOUR.“ (HEYNE 2007: Abs. 4)

Auch die Computerindustrie entdeckt Parkour zunehmend für sich. Die diesjährige Compu- termesse Cebit wurde mit einer Performance von Traceuren eröffnet, denn die „Traceure ste- hen genau für das, was wir mit der Cebit wollen: Grenzen überwinden, neue Wege beschrei- ben und mit dem Zeitgeist gehen“ (PANITZ 2008: 62). Parkour passe auch zur Computerwelt, weil die Traceure die Grenze zwischen der virtuellen und der realen Welt zunehmend ver- schwimmen lassen (vgl. ebd.: 62). Doch die Computerindustrie entdeckt Parkour auch für den Softwaremarkt nicht nur für das Aufpolieren des Images. Eines der neuesten Computerspiele vom Softwaregiganten Ubisoft mit dem Namen Assassin ’ s Creed versetzt den Spieler in längst vergangene Zeiten. Doch die Bewegungen der Hauptfigur, die über Dächer springt, Mauern erklimmt und sich nach weiten Sprüngen abrollt, erinnern sehr an die Videos im Internet. Und tatsächlich haben Traceure bei der Entwicklung des Spiels mitgewirkt. Bisher unveröffentlicht, aber schon beworben wird das neue Spiel von EA Games, das Mirror ’ s Edge heißt. Die Heldin steuert der/die Spieler/in aus einer innovativen Sicht, die Bewegungen der Figur, die Sprünge und Landungen sind sehr eng an Parkour angelehnt. Mehr noch gilt das Spiel als das erste Spiel, das nicht nur die Bewegungen sondern auch die Idee hinter Parkour mehr oder weniger in das Spiel einbaut. Denn es geht darum, in der Städtelandschaft dem roten Faden so schnell und effizient wie möglich zu folgen, um sich in eine Art Flow, also den Zustand der fließenden Bewegungen zu spielen (vgl. HEUSER 2008).

Traceure, die sich z. B. für die Entwicklung solcher Computerspiele anbieten, sind meist pro- fessionell organisiert, so wie eine der größten Zusammenschlüsse von Traceuren in Europa, der Gruppe Urban Freeflow, die nicht nur für die Werbespots zu buchen ist (vgl. STAUDE 2007: 37). Die Gruppe zeigt auf ihrer Internetseite2, mit welchen Werbepartnern sie bereits zusammengearbeitet hat. Zu den bekanntesten gehören Mercedes, Toyota, Sony, Nokia, der Filmproduzent Miramax und etliche mehr. Als offizielle Partner der Gruppe präsentieren sich stolz unter anderem Adidas, Nokia und Red Bull. Selbst einen eigenen Onlineshop hat die Gruppe, in dem T-Shirts, Pullover und Zubehör verkauft werden. Doch zeigt die Gruppe Ur- ban Freeflow nicht nur Parkour und bezeichnet sich selbst als die weltgrößte Parkour/Freerun Organisation. Hier liegt der Unterschied, denn das aus Parkour hervorgegangene Freerunning, das BELLEs ehemaliger Freund Sébastien FOUCAN entwickelte, scheint für wirtschaftliche Interessen zugänglicher zu sein. Das erste Computerspiel mit dem Namen Freerunning er- schien bereits im April 2007, der Schuhhersteller K-Swiss entwickelte sogar einen eigens für den Sport konzipierten Schuh mit dem Werbeslogan Over. Under. Through. (vgl. KEDVES 2007: 20). Die Firma Camp Ramps aus Deutschland verkauft im Internet neben den anschei- nend traditionellen Komponenten Skateparks und Kletterwände mittlerweile komplette Free- running- und Parkour-Trainingsstätten für die Indoor- wie Outdoor-Nutzung an Privatkunden und öffentliche Einrichtungen. Angepasst an den Kunden werden individuelle Geräte verbaut, die es ermöglichen sollen, jeden Trainingsbereich des Freerunning und Parkour abzudecken. Die Firma ist einer der führenden Hersteller für Parkour-Parks (vgl. DREßEN 2007).

Doch auch die traditionellen Traceure versuchen dem Freerunning in nichts nachzustehen. Eine Gruppe Leipziger Traceure, darunter einer der bekanntesten deutschen Traceure Alex LORENZ, kann mittlerweile für Auftritte, Werbefilme und Stunts gebucht werden (vgl. WES- THOFF 2008: 40). Und auch David BELLE hat in dem jüngst fertig gestellten Film Babylon A.D. bereits seine zweite Hauptrolle nach dem Film Ghettogangz gespielt. Trotzdem entsteht für viele Traceure an diesem Punkt ein Zwiespalt. Denn diese Art der Kommerzialisierung widerspricht eigentlich der Idee des Parkour, in der es eben nicht um die gute Show geht, sondern um das Erkennen der eigenen körperlichen Grenzen. Doch die professionellen Tra- ceure müssen irgendwie Geld verdienen. Einer der besten Schweizer Traceure, Steven KÄSER, meint deshalb, dass in Filmen und Werbespots doch eher die Profis mitspielen sollten, um die Aussage des Sports unverfälscht vermitteln zu können (vgl. HULLIGER 2007: 42). Ähnlich sieht das der Erfinder des Parkour. Er versteht, dass Leute „auftauchen und Strukturen auf- bauen, Geld machen wollen“ (FÖRSTER 2007: Abs. 14). Ihn störe es nicht, wenn andere schon, er aber nicht mit Parkour reich werden würde, denn er wisse, wo er herkomme und dass es ihm um etwas anderes ginge. Er sieht in der Zukunft des Parkour viele neugegründete Zentren und Vereine, auch durch ein gesteigertes Medieninteresse (vgl. ebd.: Abs. 14ff.). Doch letz- tlich sagt er: „Mir ist am wichtigsten, dass der wahre Parkour sich durchsetzt“ (ebd.: Abs. 16). Um das garantieren zu können, gründete er 2005 den Weltverband Parkour Worldwide Asso- ciation (P AWA), dessen Ziel es ist, die wahre Philosophie des Parkour zu verbreiten (vgl. WINKLER 2006: 91). Auch in Deutschland gibt es eine Vertretung des Weltverbandes, der Parkour Association e.V., der sich als Repräsentant des Parkour in Deutschland positioniert. Zwar ist erwünscht, dass sich Parkour in jedem Land individuell entwickelt, doch die Parkour Association versucht einheitliche Grundsätze festzusetzen. Ziel ist es, Parkour und die Kunst der Fortbewegung in der Gesellschaft zu etablieren. Das Wort Parkour soll fester Bestandteil in Wörterbüchern werden und über seinen Kunst- und Sportaspekt definiert werden. Die Par- kour Association präsentiert Parkour in Deutschland und plant, einheitliche Trainings- und Ausbildungssysteme zu entwickeln, die Aspekte wie Gesundheit und Sicherheit in den Vor- dergrund stellen. Darüber hinaus plant die Parkour Association ein deutschlandweites Trai- ningsnetzwerk. Dazu gehören Workshops (bereits 28 bis Ende 2007) für zahlreiche Interes- sengruppen, die in verschiedenen Städten stattfinden. Des Weiteren schloss die Parkour Asso- ciation zahlreiche Kooperationen mit der Sporthochschule Köln, Lehrerverbänden, Schulen, Kultusministerien, Sportorganisationen und -ärzten sowie Fachverbänden und öffentlichen wie privaten Einrichtungen. Die Parkour Association sieht sich als Bindeglied zwischen Sport, Kunst und Wirtschaft. Die Visionen des Verbandes, allen voran von David BELLE, rei- chen bis hin zu einer Parkour-Welttour, die auf allen Kontinenten die Facetten der Bewegung mit den jeweiligen Eigenschaften der Kulturen und Landschaften zusammenbringen soll. Letztlich ist die PAWA derzeit auf der Suche nach einer Organisationsstruktur, die die Parkour Community wachsen lassen soll. Geleitet wird die Parkour Association Deutschland von Tra- ceuren, um den wahren Geist des Parkour nicht durch rein wirtschaftliche Interessen zu ver- lieren. Die Präsidentin der Association ist Sandra HESS, ehemalige Weltmeisterin im Freesty- le-Karate und seit nunmehr fünf Jahren Traceuse, die beste Deutschlands. Dazu wurde ein Team ausgewählt, zu dem die besten und erfahrensten Traceure Deutschlands zählen. Im De- zember 2007 verließ David BELLE die von ihm gegründete PAWA und gründete die neue Or- ganisation Parkour by David Belle, mit der die Parkour Association Deutschland eng zusam- menarbeitet (PARKOUR ASSOCIATION 2008). Der Verband trifft in der Parkourszene nicht nur auf Zustimmung, viele Traceure wollen nicht mit der Parkour Association verbunden werden. „Die wollen cool sein, mehr nicht. Sie sind vom Glauben abgefallen“ (HAEMING 2006: 13) reden junge Berliner Traceure abschätzig über die Arbeit von Sandra HESS und ihre Kollegen. Nach meiner Auffassung ist die Verbreitung eines homogenen, authentischen Parkourtermi- nus insofern wichtig, da die Vermischung des Parkour mit immer neuen Varianten die Gefahr birgt, dass das echte Parkour verloren geht. Parkour findet nach wie vor ohne Wettbewerb statt. Doch in München fand im Juni 2007 die erste Parcouring-WM statt. Der Unterschied zu Parkour ist für den Laien kaum zu erkennen. Ein vorgegebener Kurs musste mit zum Teil vorgegebenen Techniken überwunden werden, so schnell wie möglich. Am Ende gab es einen dritten, zweiten und natürlich ersten Platz (vgl. WOLFSGRUBER 2007: 179). Viele Traceure sehen ihre Ideale verraten. „Parkour ist Selbstfindung und Selbsteinschätzung, nicht Egotrip und Wettbewerb“ (ebd.: 179) klagt ein junger Münchner Traceur. Deshalb blieben die welt- besten Traceure diesem Wettbewerb auch fern. Neben der Wirtschaft entdeckt auch das päda- gogische Feld zunehmend Parkour für sich. David BELLE kümmerte sich schon früh um Ju- gendliche ohne Perspektive und wollte ihnen zeigen, dass Hindernisse im sportlichen und übertragenen Sinne überwunden werden können (vgl. HAEMING 2006: 13). Darüber hinaus findet auch die deutsche Sportpädagogik zunehmend Interesse am Parkour. Verschiedene Au- toren wagen sich didaktisch wie methodisch an das Thema Parkour heran und einige erste erfolgreiche Projekte aus deutschen Schulen gelangen über das Internet oder die Printmedien vorsichtig in die Kreise interessierter Beobachter. Auch diese Herangehensweise findet nicht unter allen Traceuren Zuspruch (vgl. WOLFSGRUBER 2007: 179). Doch im Sinne der Parkour Association kann eine schulische Auseinandersetzung mit der wahren Philosophie und dem Sport Parkour nur erwünscht sein.

2.5 Philosophie oder Sport?

Parkour wird in den Medien oft mit sehr schwammigen Termini wie Philosophie, Körper kunst, Lifestyle oder Trendsportart beschrieben. David BELLE versucht derartige Einordnungen seiner Bewegung zu vermeiden und beschreibt Parkour als eine Körperertüchtigung, die einem selbst und anderen Menschen helfen kann (vgl. DETTWEILER 2007: Abs. 17). In einem Interview im Vorfeld der Veranstaltung im U-Bahntunnel am Berliner Reichstag beschreibt BELLE seine Fähigkeiten wie folgt: „Wenn Sie mir sagen, dass hier in dreißig Sekunden eine Bombe hochgeht, weiß ich genau, wie ich rauskomme“ (ebd.: Abs. 17).

Was ist Parkour nun wirklich? Ist es bloß eine Fortbewegungsmethode, klassischer Sport oder eine Lebensphilosophie? Die folgende Betrachtung gibt einen Überblick über die Diskussion, die innerhalb der Traceure nicht einheitlich beantwortet wird.

WILKINSON (2007: 1) vergleicht Traceure mit Jazzmusikern. In Jazzkreisen heißt es, dass ein Anfänger zuerst alles über sein Instrument lernen muss und dann alles über Musik, um an- schließend alles wieder zu vergessen und zu erfahren wie man spielt. Ähnlich wie im Parkour sind die Besten ihres Faches diejenigen, die improvisieren und nicht einem Standardbild fol- gen. Nur so ist es einem/r Traceur/se möglich, fließende Bewegungen zu erzielen. WILKINSON (2007) meint also die beschriebenen Grundelemente im Parkour seien für Anfänger zwar wichtig, stünden einem Traceur in starrer Ausführung in seinem Flow aber eher im Weg.

Die Präsidentin der Parkour Association, Sandra HESS, hält von der Aussage einiger Traceure, Parkour sei so etwas wie eine Religion und dem restlichen Gerede über Philosophie nur we- nig. Sie sagt: „Wir philosophieren nicht drüber, wir tuns einfach“ (HAEMING 2006: 13). Doch sie betont auch, dass aus dem Sport Parkour mit der Zeit eine Kunst, sogar eine Lebensphilo- sophie werden kann, die den eigenen Blickwinkel für die Umgebung und das Leben verändert (vgl. MARKERT 2008: 20). Dabei ist Parkour nicht die erste Jugendbewegung, die der Idee der Zurückeroberung des urbanen Raumes folgt (vgl. PAPE-KRAMER 2007: 169). Schon die Inli- neskater und Skateboarder haben sich die städtischen Nichtlandschaften zu Eigen gemacht, allerdings ohne eine Philosophie dahinter und meistens mit phlegmatischem Herumhängen verbunden, eingebettet in eine Partykultur. Diese verträgt sich mit den Grundsätzen des Par- kour nur schwer. Im Vergleich zu früheren Jugendbewegungen basiert Parkour stark auf En- gagement und Selbstdisziplin, bezüglich des Trainings und der eigentlichen Ausübung. Die Regeln während des Trainings und der Läufe sind selbstgesetzt (vgl. WINKLER 2006: 91; RO- SENFELDER 2005: 48). „Eine eher anstrengende Rebellion also“ fasst WINKLER (2006: 91) die Idee hinter Parkour zusammen. Belohnt wird die Rebellion lediglich mit der Anerkennung untereinander. Die Motivation, die sich Traceure selbst setzen, lautet besser zu sein als die Woche zuvor (vgl. PAPE-KRAMER 2007: 170). Dementsprechend wird ein überzeugter Tra- ceur niemals den Standpunkt erreichen, an dem er sagt: „Jetzt kann ich alles.“ Denn der Kern von Parkour ist Bescheidenheit (vgl. HULLIGER 2007: 42). Dass selbst der Erfinder und un- gekrönte Meister des Parkour bei einem Sprung fällt, zeigt, warum Parkour mit so viel Trai- ning verbunden ist, aber dennoch mehr als nur die Bewegung dahintersteckt. Denn wenn man im Internet auf den Videoportalen als Suchbegriff David Belle fall3 eingibt, dann erscheint dieses eine Video in verschiedenen Varianten. BELLE versucht in dem Video einen Katzens- prung über eine Treppe, die zu einer Tiefgarage führt. Die Entfernung zwischen den zwei Treppenwänden beträgt ungefähr vier, fünf Meter. Am Boden der Treppe liegt ein Kamera- mann, um den Sprung von unten zu filmen. Der Höhenunterschied beträgt rund drei Meter. In dem Video sieht man wie BELLE die Distanz und Höhe untersucht, er bereitet sich auf den Sprung vor. Als er springt, bekommt er die Mauer nicht zu fassen und rutsch ab. Er fällt mit dem Kopf zuerst in Richtung der zweiten Wand. Doch im Flug dreht er sich, sodass er mit der Schulter an der Wand ankommt und es dazu noch schafft nicht auf dem Kameramann zu lan- den (vgl. WILKINSON 2007: 1). BELLE erkundigt sich nach dem Kameramann, steht auf, grinst und sagt: „Das! Das ist das wahre Parkour!“ Dafür lebe er, das sei die Realität, dadurch merke er, dass er lebe, dass das Leben unvorhersehbar sei. Und er besteht darauf, dass das Video im Internet verbreitet wird, damit jeder sehen kann, dass auch er nur ein Mensch sei und fallen könne. Außerdem sollte jeder dadurch gewarnt sein, dass selbst einem einfachen Sprung im- mer mit Respekt begegnet werden sollte.

Unter anderem im Hinblick auf seinen Sturz, aber auch im Bezug auf den Tod der zwei jun- gen britischen Traceure betont BELLE, dass es wichtig ist, Angst zu haben. Denn die Angst übernehme eine Kontrollfunktion. Jeder Sprung soll immer wieder darauf überprüft werden, ob er die eigenen Fähigkeiten nicht übersteigt (vgl. WINKLER 2006: 91). Die Suche nach Hindernissen, die zufällig den Weg kreuzen, nach neuen Spots, wie die Trai- ningsplätze heißen und das Schlendern zwischen den Sprüngen macht die Traceure zu Fla- neuren des 21.Jahrhunderts (vgl. HAEMING 2006: 13). Die Traceure lernen sich selbst kennen und so wird Parkour zu einer Lebenseinstellung, die es einem ermöglicht über den eigenen Schatten zu springen. Sie lernen nicht nur die physischen Hindernisse zu überwinden, sondern auch im übertragenen Sinne die Hindernisse im Leben mit Entschlossenheit zu meistern (vgl. Homann 2008: Abs. 7).

Wie viel Sport steckt denn nun in der Philosophie? Selbst auf die Frage, ob Parkour für ihn eine Kampfsportart ist, antwortet BELLE: „Lediglich in der Philosophie von Parkour“ (KAS- SOVITZ 2008: Abs. 6) und meint damit die Konfrontation mit einem Hindernis. Im Kampf- sport muss der Gegner bekämpft und besiegt werden, um Stärke zu demonstrieren. Im Par- kour begegnet man sich selbst und kämpft folglich gegen sich selbst (vgl. ebd.: Abs. 6). Man nimmt David BELLE diese Überzeugung von seiner Bewegung ab, zumal er laut seinem Bru- der sogar Nächte auf der legendären Kletterwand Dame du Lac verbringt; ausnahmsweise liegend und in Ruhe (vgl. WILKINSON 2007: 5). David BELLE sagt, es sei schwer zu erklären, was er tut. Es kann lediglich trainiert werden (vgl. ebd.: 7). Für ihn kommt es darauf an, dass er schnell fliehen und helfen kann. Und so beendet er ein Interview mit den tiefgreifenden Worten: „Ich hätte Schuldgefühle, wenn ich nicht eingreifen könnte“ (DETTWEILER 2007: Abs. 19).

Dieses Kapitel zeigt, wie viel Philosophie hinter den ein Dutzend Grundtechniken und den zahlreichen Videos im Internet tatsächlich steckt. Entscheidend ist meines Erachtens der Punkt, dass aus dem Sport eine Lebenseinstellung werden kann. Diese wird sich bei Anfän- gern/innen aber nur einstellen, wenn sie sich neben den spektakulären Videos im Internet auch mit der Entstehungsgeschichte, der Entwicklung und den wichtigsten Personen beschäf- tigen. Die weltweiten Organisationen sollen dieses wahre Parkour verbreiten. Parkour ist meiner Meinung nach in erster Linie eine Körperertüchtigung. Umgangssprachlich würde man Parkour mit Sicherheit als Sport bezeichnen, doch kann Parkour nicht von seiner Philo- sophie getrennt betrachtet werden.

3 Trendsportarten im Fokus gesellschaftlichen Wandels

Parkour wurde immer wieder im Zusammenhang mit Termini wie Trend, Sport oder Trend- sport genannt. Zahlreiche Autor/innen, darunter SCHWIER (1998, 2000, 2004), SCHILDMA- CHER (1998) sowie LAMPRECHT und STAMM (1998) haben sich mit dem Gegenstand Trend- sport und dessen Genese beschäftigt. Nahezu alle Autor/innen sind sich einig, dass sich Trendsportarten in den letzten Jahren zu einem bedeutenden Thema in der Sportwissenschaft entwickelt haben. Doch bei genauerer Betrachtung ist der Terminus des Trendsports sehr ver- schwommen und daher kaum homogen definierbar. Denn hinter dem Terminus Trendsport steckt mehr als nur die Wortzusammensetzung von Trend und Sport. Dieses Kapitel nähert sich dem Terminus des Trendsports über einen Definitionsversuch der Termini Trend und Sport und bettet die Entwicklung des modernen Sports in den Wandel der Gesellschaft und den damit verbundenen Herausforderungen für die Jugend ein. Anschließend werden charak- teristische Merkmale der Trendsportarten zusammengefasst und ein Modell der Trendsportar- tenentwicklung vorgestellt. Dieser Teil der Arbeit dient als theoretische Grundlage, um Le Parkour als Gegenstand in die sportwissenschaftliche Diskussion einzugliedern und dessen Position innerhalb der Trendsportarten zu bestimmen.

3.1 Definition Sport und Trend

Die Termini Sport und Trend werden im umgangssprachlichen Gebrauch nahezu selbstverständlich genutzt und deren Bedeutung scheint allgemein bekannt zu sein. Trotz alledem sind beide Termini nicht eindeutig zu definieren, wodurch gerade im Bezug auf den Trendterminus die Grenzen zu anderen Termini wie beispielsweise Mode stellenweise verschwimmen. Daher werden im Folgenden einzelne Merkmale der beiden Termini erörtert, ohne aber den Anspruch einer allgemeingültigen Definition zu erheben.

3.1.1 Der Terminus Sport

Sport ist kein homogenes Phänomen. Der Terminus ist individuell mit verschiedenen Assozia- tionen und Erfahrungen verbunden und entzieht sich daher weitgehend einer eindeutigen De- finition. Etymologisch geht der Terminus auf das lateinische Wort deportare zurück, was so viel wie fortbringen bedeutet. Daraus entwickelte sich eine im Vulgärlateinisch-Römischen spezielle Bedeutung des Wortes portare, das für zerstreuen, vergnügen oder amüsieren steht. Das daraus entstandene altfranzösische desport bedeutet ebenfalls sich vergnügen bzw. sich zerstreuen. Daran orientierte sich das englische disport, welches in der Kurzform sport ge- sprochen wird und seine Bedeutung ebenfalls in Vergnügen, Zeitvertreib oder auch Spiel fin- det. Mit dem modernen Wettkampfsport erhielt das Wort seine heutige Bedeutung (vgl. BREUER/SANDER 2003: 42f.). Der Terminus etablierte sich durch den Wettkampfsport des beginnenden 19. Jahrhunderts, als dieser sich international zu verbreiten begann. Durch die Entstehung des Freizeitsports Ende des 20. Jahrhunderts verlor der Wettkampfcharakter des Sports zunehmend an Bedeutung, sodass Sport heute als „eine einfache körperliche Aktivität, die als ein wichtiger Bestandteil der Kulturen der Gesellschaft gilt“ (STUMM 2004: 60) be- schrieben wird. Insofern hält RÖTHIG (1992) fest, dass das Verständnis von Sport weniger wissenschaftlichen Analysen folgt, als „weit mehr vom alltagstheoretischen Gebrauch sowie von den historisch gewachsenen und tradierten Einbindungen in soziale, ökonomische, politische und rechtliche Gegebenheiten bestimmt“ (RÖTHIG 1992: 420; zit. in BREUER/SANDER 2003: 43) wird.

Um sich diesem individuell geprägten Sportterminus zu nähern, unterscheidet WOPP (2006) zwischen einem engen und weiten Sportverständnis, denn im Mittelpunkt seiner Betrachtun- gen steht nicht der Gegenstand Sport, sondern der handelnde Mensch. Demnach definiert WOPP (2006) sportliches Handeln als die Lösung von Bewegungsaufgaben (ebd.: 23). Jedoch kann nicht jedes Bewegungshandeln zur Lösung von Aufgaben als Sport definiert werden. Daher ist in einem engen Sportverständnis jedes Bewegungshandeln im Rahmen traditioneller Sportarten als sportliches Handeln zu verstehen. Dieses Handeln ist durch eindeutig definier- te, messbare Ziele sowie ein international geltendes Regelwerk geleitet. Sportliche Leistungs- vergleiche werden meist in Wettkämpfen organisiert. Ein weites Sportverständnis hingegen schließt die handelnden Menschen und sportliches Handeln außerhalb der tradierten Sportar- ten ein. So ist Sport „die Lösung von Bewegungsaufgaben, die von den Handelnden als Sport bezeichnet werden.“ (ebd.: 24). Dass bedeutet, dass beispielsweise die Fahrt zur Arbeit mit dem Fahrrad von einer Person als Sport definiert wird, von einer anderen Person als Notwen- digkeit. Sportliches Handeln wird neben der Sportwissenschaft und den Medien im weiten Sportverständnis vor allem vom handelnden Individuum definiert. Das weite Sportverständnis führt zum Verschwimmen von Grenzen zwischen sportlichem, alltäglichem und nichtsportli- chem Handeln. Der Sport wird einer Entgrenzung unterzogen, da er nicht mehr zwangsläufig „durch eindeutige Ziele, Handlungs-, Organisationsformen oder Handlungsorte begrenzt ist“ (ebd.: 24). WOPP (2006) versucht dennoch eine Grenzziehung, indem er Sport nach den Teil- nehmerzahlen differenziert. Während im Spitzen- und Leistungssport nur wenige Kön- ner/innen Bewegungsaufgaben lösen können, folgt der Freizeitsport der Idee vom Sport für alle. Spitzensport und Freizeitsport entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen. Während ersterer zunehmend Teil der Unterhaltungsindustrie wird, ist letzterer ein wesentlicher Teil der Konsumgüterindustrie (vgl. ebd.: 24f.).

Bewegungshandeln wird individuell als Sport definiert, ebenso wie Sport aus individuellen Beweggründen betrieben wird. BREUER/SANDER (2003: 44) nennen diese Motivationen für das Sporttreiben Sinnrichtungen, wie z. B. Bewegung, Leistung, Gesundheit, Spaß, Entspannung, Abenteuer, Geselligkeit und Kommunikation. Sport dient zur Erfüllung dieser Sinnrichtungen, die einzeln oder in Kombination durch körperliche Betätigung erfüllt werden können. Sport ist nach diesem Verständnis als „eine nach bestimmten Verhaltensweisen, aus Freude an Bewegung und Spiel, zur physischen Ertüchtigung und aus psychosozialen Motiven heraus ausgeübte Betätigungsform zu verstehen“ (ebd.: 44).

Eine homogene Definition von Sport soll an dieser Stelle nicht gegeben werden. Meines Erachtens ist es entscheidend, dass man Sport in einem engen und weiten Verständnis betrachtet. Einerseits ist Sport der traditionelle Wettkampfsport, andererseits ist Sport ein individuell geprägter Terminus.

Darüber hinaus wird eine starre Definition dadurch erschwert, dass sich Sport wie die gesamte Kultur einer Gesellschaft ständig verändert. Sport als Kulturobjekt ist an das materielle Substrat Bewegung gebunden, das Träger von Sinn und Ausdruck ist. Insofern sind einzelne Bewegungskulturen innerhalb des Sports immer wieder bestrebt das traditionelle Geflecht aufzubrechen und neue Bewegungsmuster einzubringen. Sport ist demnach nicht starr, sondern unterliegt einem stetigen Wandel (vgl. ebd.: 44).

3.1.2 Der Terminus Trend

Etymologisch betrachtet, wurde das deutsche Wort Trend dem englischen Verb to trend ent- lehnt, was sich neigen, sich erstrecken oder etwa in einer bestimmten Richtung verlaufen bedeutet und laut DUDEN als Grundrichtung einer Entwicklung bezeichnet wird (vgl. BREUER/SANDER 2003: 42). Auf diese Definition geht das quantitative Verständnis von Trend zurück, das vor allem im wirtschaftlichen Kontext verwendet wurde und eine Entwicklung anhand statistisch belegbarer Merkmale beschreibt (vgl. STUMM 2004: 61). In diesem Sinne betrachtet man einen Trend als „Daten in einer Zeitreihe, die eine Entwicklungstendenz an- zeigen“ (SCHILDMACHER 1998: 63). Allerdings weichen die relative und absolute Nachfrage- steigerung als Indikator für Trendsportarten stark voneinander ab, wie das am Beispiel des Laufens gezeigt wird. In absoluten Zahlen hat das Laufen viele Teilnehmer in den letzten Jah- ren hinzugewonnen.

[...]


1 Die offizielle Bezeichnung für das Bewegungsphänomen lautet Le Parkour. Aus Gründen der Vereinfachung wird in dieser Arbeit die verkürzte und ebenso zulässige Version Parkour benutzt.

2 www.urbanfreeflow.com

3 Quelle des Videos: http://de.youtube.com/watch?v=7Kh8NeG9wf8 (Zugriff am 05. September 2008)

Ende der Leseprobe aus 101 Seiten

Details

Titel
Das Phänomen Le Parkour
Untertitel
Subkulturelle Bewegungsform mit kulturindustriellem Marktpotential und pädagogischen Verwertungschancen
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Note
1
Autor
Jahr
2008
Seiten
101
Katalognummer
V186616
ISBN (eBook)
9783869435947
ISBN (Buch)
9783869433141
Dateigröße
3137 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
phänomen, parkour, bewegungsform, marktpotential, verwertungschancen
Arbeit zitieren
Thomas Bauer (Autor:in), 2008, Das Phänomen Le Parkour, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186616

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