Das Thema des Romans, der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der
Bundesrepublik Deutschland, „entfaltet sich gegen das reißerische Potential einer Liebesgeschichte“
1: Ein Teenager hat eine leidenschaftliche Affäre mit einer zwanzig Jahre älteren
Frau, die sich später als NS-Täterin entpuppt. Deren Schuld relativiert sich aber, da
sie als Analphabetin ins Licht einer Mitläuferin gerückt wird.
In vorliegender Arbeit soll die Beziehung der beiden Hauptfiguren Michael Berg und
Hanna Schmitz zueinander betrachtet werden. Claus-Ulrich Bielefeld urteilt in der
Süddeutschen Zeitung dazu folgendermaßen:
Mit enervierender Selbstgewissheit, ohne je zu stocken, wird über alles hinwegerzählt.
Nichts spüren wir von der angeblich fortwirkenden Liebe des Ich-Erzählers, die ihm
andere Beziehungen unmöglich macht.2
Die Beziehung zwischen Hanna und Michael, die immerhin den ganzen ersten Teil des
Buches und, am Textvolumen gemessen, sogar den größten ausmacht, wird im weiteren
Verlauf des Buches tatsächlich nur noch wenig direkt erzählt. Aber wie auch? Die inhaltsschweren
Themen, der Umgang mit der NS-Vergangenheit, Schuldbewältigung und Analphabetismus
werden jetzt eingeführt. Es bleibt schlicht kein Raum, um die Beziehung
erzählerisch weiter auszubreiten. Im ersten Teil des Buches musste aber die Liebesgeschichte
breit angelegt werden, denn gerade diese Beziehung bildet die Basis, auf der hier
die einzigartige Perspektive beruht: Die altbekannten Themen werden aus Sicht der Nachkriegsgeneration
beleuchtet, die, nicht wie erwartet, durch Elternliebe, sondern durch eine
partnerschaftliche Liebesbeziehung, emotional eng mit der Tätergeneration verknüpft ist.
Mag die Beziehung später erzählerisch auch in den Hintergrund treten, so kann nicht in
Frage gestellt werden, dass Michaels Dilemma, zwischen Zuneigung und Verurteilung hinund
hergerissen zu sein, die Liebe zu Hanna ständig indirekt thematisiert. Zu fragen ist
doch vielmehr, ob es sich überhaupt um Liebe handelt, was die Beziehung ausmacht, oder
ob Michael in ein Hörigkeitsverhältnis gezogen wird, das ihn schließlich am Leben scheitern
lässt.
1 Küpper, Mechthild: Liebe zum Täter. In: Wochenpost vom 31.08.1995
2 Bielefeld, Claus-Ulrich: Die Analphabetin. In: Süddeutsche Zeitung vom 04. / 05.11.1995
Inhaltsverzeichnis
1. Der Vorleser – Eine Liebesgeschichte?
2. Hanna und Michael, das „Liebespaar“
2.1. Zwei völlig unterschiedliche Figuren
2.1.1. Michael, der pubertierende Teenager
2.1.2 Die dominante Hanna Schmitz
2.2. Liebesbeziehung oder Hörigkeit
2.2.1. Sex und Abhängigkeit
2.2.2. Intensivierung der Abhängigkeit
2.2.3. Hanna zeigt Gefühle
3. Michael zwischen Verdrängung, Erinnerung und Erkenntnis
4. Aufarbeitung, Annäherung und Freigabe
4.1. Michaels Weg zur Vergangenheitsbewältigung
4.2. Bewältigung und Aufarbeitung bei Hanna
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
1. Der Vorleser – Eine Liebesgeschichte?
Das Thema des Romans, der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland, „entfaltet sich gegen das reißerische Potential einer Liebes-geschichte“[1]: Ein Teenager hat eine leidenschaftliche Affäre mit einer zwanzig Jahre äl-teren Frau, die sich später als NS-Täterin entpuppt. Deren Schuld relativiert sich aber, da sie als Analphabetin ins Licht einer Mitläuferin gerückt wird.
In vorliegender Arbeit soll die Beziehung der beiden Hauptfiguren Michael Berg und Hanna Schmitz zueinander betrachtet werden. Claus-Ulrich Bielefeld urteilt in der Süddeutschen Zeitung dazu folgendermaßen:
Mit enervierender Selbstgewissheit, ohne je zu stocken, wird über alles hinwegerzählt. Nichts spüren wir von der angeblich fortwirkenden Liebe des Ich-Erzählers, die ihm andere Beziehungen unmöglich macht.[2]
Die Beziehung zwischen Hanna und Michael, die immerhin den ganzen ersten Teil des Buches und, am Textvolumen gemessen, sogar den größten ausmacht, wird im weiteren Verlauf des Buches tatsächlich nur noch wenig direkt erzählt. Aber wie auch? Die inhalts-schweren Themen, der Umgang mit der NS-Vergangenheit, Schuldbewältigung und An-alphabetismus werden jetzt eingeführt. Es bleibt schlicht kein Raum, um die Beziehung erzählerisch weiter auszubreiten. Im ersten Teil des Buches musste aber die Liebesge-schichte breit angelegt werden, denn gerade diese Beziehung bildet die Basis, auf der hier die einzigartige Perspektive beruht: Die altbekannten Themen werden aus Sicht der Nach-kriegsgeneration beleuchtet, die, nicht wie erwartet, durch Elternliebe, sondern durch eine partnerschaftliche Liebesbeziehung, emotional eng mit der Tätergeneration verknüpft ist.
Mag die Beziehung später erzählerisch auch in den Hintergrund treten, so kann nicht in Frage gestellt werden, dass Michaels Dilemma, zwischen Zuneigung und Verurteilung hin- und hergerissen zu sein, die Liebe zu Hanna ständig indirekt thematisiert. Zu fragen ist doch vielmehr, ob es sich überhaupt um Liebe handelt, was die Beziehung ausmacht, oder ob Michael in ein Hörigkeitsverhältnis gezogen wird, das ihn schließlich am Leben schei-tern lässt.
2. Hanna und Michael, das „Liebespaar“
Im ersten Teil des Vorlesers erhält die Lebensphase der Adoleszenz besondere Gewich-tung. Der Protagonist befindet sich in seinem sechzehnten Lebensjahr (vgl. 5)[3].
Dieser Abschnitt der Adoleszenz ist von einigen [Psychoanalytikern] als die turbulentes-te, heftigste und gefährlichste Zeit beschrieben worden, weil die Regression auf kind-liche Erlebnisweisen und das Wiederaufleben ödipaler Wünsche und entsprechender Konflikte am intensivsten sind.[4]
In dieser entscheidenden Phase entwickelt sich nun die Liebesbeziehung zu einer erwach-senen, reifen Frau. Da diese den sexuellen Kontakt mit dem Teenager nicht nur zulässt, sondern sogar fördert, erscheint diese Figur von Anfang an selbstsüchtig und skrupellos zu sein.
2.1. Zwei völlig unterschiedliche Figuren
2.1.1. Michael, der pubertierende Teenager
Der Ich-Erzähler Michael Berg beschreibt sich selbst als einen Jungen, der „zu lange Arme und zu lange Beine [...] für die Koordination [seiner] Bewegungen [hat]“ (39). Er trägt eine Brille, „ein billiges Kassenmodell und [sein] Haar [ist] ein zauser Mop“ (39). Es zeigt sich ein pubertätstypisches Äußeres eines Jugendlichen, dessen Körperproportionen noch nicht fertig ausgebildet sind. Zu dieser körperlichen Unreife kommt eine körperliche Schwäche hinzu: Michael erholt sich gerade von einer schweren Gelbsucht (vgl. 5).
Sein inneres Erscheinungsbild erweist sich ebenfalls als unausgewogen. Auf der einen Seite glaubt Michael, genug Potential zu besitzen, um sein Leben aktiv zu gestalten. Er will „eines Tages schön und klug [sein] und bewundert“ (39) werden. Auf der anderen Seite ist er jedoch unzufrieden über seine momentane, äußere Erscheinung, über seine unkoordinierten Bewegungen und seine momentane gesellschaftliche Stellung (vgl. 39):
Ich fühlte mich [...] entweder zu sicher, oder zu unsicher. Entweder kam ich mir völlig unfähig, unansehnlich und nichtswürdig vor, oder ich meinte, ich sei alles in allem ge-lungen und mir müsse alles gelingen. (64)
Sein angeschlagener Gesundheitszustand verstärkt diese Unzufriedenheit, ja er schämt sich seiner sogar deshalb (vgl. 5). Das Erwachen der sexuellen Aktivität, die sich in nächtlicher Pollution und sexuellen Phantasien (vgl. 20) äußert, bereitet Michael ebenso Schamge-fühle.
In der Schule fällt Michael nicht weiter auf (vgl. 39). Sein Elternhaus gehört einer gehobe-nen sozialen Schicht an. Er hat drei Geschwister[5], seine Mutter ist vermutlich Hausfrau, sein Vater ist „Professor für Philosophie“(31). Es handelt sich um eine schwache Vater-figur. Der Professor geht ganz in seinem Beruf auf, „Denken war sein Leben, Denken und Lesen und Schreiben und Lehren“, geht es jedoch um familiäre Angelegenheiten, so schweigt er gewöhnlich und schaut nachdenklich (vgl. 30). Der Ich-Erzähler meint sogar, „seine Familie [sei] für ihn wie Haustiere“(31). Zum Spielen gerne gesehen, der Pflege wegen aber lästig (vgl. 31). Michael steht noch sehr unter der Obhut seiner Mutter. Der Abnabelungsprozess hat noch nicht eingesetzt. So sucht er auch nicht aus eigenem Antrieb Hanna auf, um ihr für ihre Hilfe zu danken:
Aber für meine Mutter war selbstverständlich, daß ich, sobald ich könnte, von meinem Taschengeld einen Blumenstrauß kaufen, mich vorstellen und bedanken würde.(7)
Ohne Widerrede macht er, was seine Mutter von ihm erwartet.
Insgesamt stellt Michael einen typischen, pubertären Teenager dar:
Die zunehmende Fähigkeit, über sich selbst nachdenken zu können, die massiven kör-perlichen Veränderungen und die sexuellen und erotischen Wünsche führen zu einem ständigen Beschäftigtsein mit dem eigenen Aussehen und zu einer ängstlichen Befang-enheit gegenüber Mitmenschen.[6]
[...]
[1] Küpper, Mechthild: Liebe zum Täter. In: Wochenpost vom 31.08.1995
[2] Bielefeld, Claus-Ulrich: Die Analphabetin. In: Süddeutsche Zeitung vom 04. / 05.11.1995
[3] zitiert wird im Folgenden nach:
Schlink, Bernhard: Der Vorleser. Zürich: Diogenes 1995
[4] Mertens, Wolfgang: Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität. Stuttgart; Berlin;
Köln: Kohlhammer 1994 (Psychoanalytische Entwicklungspsychologie) S. 166
[5] vgl. 30/31 eine jüngere Schwester und ein drei Jahre älterer Bruder werden direkt erwähnt. Die Identität des dritten Geschwisterteils bleibt unklar.
[6] Mertens, Wolfgang: Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität. Stuttgart; Berlin; Köln: Kohlhammer 1994 (Psychoanalytische Entwicklungspsychologie) S. 132
- Arbeit zitieren
- Andreas Weidmann (Autor:in), 2000, Liebesbeziehung oder Hörigkeit? Michael Berg und Hanna Schmitz in Bernhard Schlinks Vorleser, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18685
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