Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Gedicht „Deine Kinder sind nicht deine Kinder“
1. Einleitung
2. Wie es zu einem Pflegeverhältnis kommt
2.1 Die sogenannte Herkunftsfamilie
2.2 Elternrecht und Kindeswohl
2.3 Traumatische Vorerfahrungen als Ausgangsbedingung eines Pfl egeverhältni sses
2.4 Vorerfahrungen mit Institutionen der Jugendhilfe
3. Wie ein Pflegeverhältnis gelingen kann
3.1 Beweggründe der Pflegeeltern
3.2 Die beiden zentralen Pflegefamilienkonzepte
Das Ersatzfamilienkonzept
Das Ergänzungsfamilienkonzept
Diskussion
3.3 Pflegefamiliale Konstellationen und Gestaltungsmöglichkeiten
Tagespflegefamilie
Dauerpflegefamilie
3.4 Geschwisterbeziehungen in Pflegeverhältnissen
4. Wie ein gesunder Identitätsbildungsprozess des Pflegekindes möglich wird
4.1 Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie
4.2 Die Rolle des verwandtschaftlichen Systems
5. Fazit
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
„Deine Kinder sind nicht deine Kinder
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.
Sie kommen durch dich,
aber nicht von dir,
und obwohl sie bei dir sind,
gehören sie dir nicht.
Du kannst ihnen deine Liebe geben,
aber nicht deine Gedanken;
denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Du kannst ihrem Körper ein Heim geben,
aber nicht ihrer Seele;
denn ihre Seele wohnt im Haus von morgen,
das du nicht besuchen kannst,
nicht einmal in deinen Träumen.
Du kannst versuchen,
ihnen gleich zu sein,
aber suche nicht,
sie dir gleichzumachen.
Denn das Leben geht nicht rückwärts und verweilt nicht beim Gestern.
Du bist der Bogen,
von dem deine Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
[...]
Lass deine Bogenrundung in der Hand des Schützen Freude bedeuten.“
K. Gibran[1]
1. Einleitung
Die Suche nach Identität ist ein zutiefst menschlicher Prozess. Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Diesen Fragen implizit, so die Vermutung an dieser Stelle, ist die Suche nach einem Platz im Leben. Das Bedürfnis nach Sinn drückt sich in der Suche nach Zugehörigkeit aus. Um das Morgen zu wagen, muss der Mensch sein Gestern kennen.
Die Geschichte der Menschheit gibt Zeugnis von dieser Suche nach Identität, die sich auch auf einer höheren Strukturebene in den jeweils individuellen Riten der Völker zeigt. Beispielhaft sei die biblische Urgeschichte, genauer die Schöpfungserzählungen, genannt. Diese Texte sind Zeugnisse für die Identitätssuche des Volkes Israel, welche dahingehend endet, dass sich dieses Volk als von Jahweh erschaffen und berufen versteht.
Im Kontext dieser Arbeit soll die Suche nach Identität im speziellen Fall von Pflegeverhältnissen thematisiert werden. Unter der Maßgabe, dass jedem Menschen diese Suche nach dem Kern seiner Persönlichkeit innewohnt - ja, geradezu ein Grundbedürfnis genannt werden kann - sollen besonders dauerhafte Pflegebeziehungen mit den ihnen eigenen Herausforderungen ernst genommen werden. Die Frage „Wer bin ich?“ wird sich früher oder später jedes/r in Pflege genommene Kind/ Jugendlicher stellen. Es wird zu fragen sein, welche Bedingungen günstig und welche Maßnahmen notwendig sind, damit die Möglichkeit eröffnet wird, diese Frage zufriedenstellend zu beantworten.
Jeder Mensch ist (zum Teil auch sich selbst) Geheimnis. Er gehört niemandem. Der eingangs zitierte Poet vermittelt ein Gefühl dafür, mit welch notwendiger Distanz man dem anvertrauten Kind/ Jugendlichen begegnen sollte, bzw. wo die nicht hintergehbaren Grenzen zu seiner Persönlichkeit liegen. In Bezug auf die Problematik eines Pflegeverhältnisses geschieht in den zitierten Ausführungen eine wichtige Sensibilisierung für die Individualität jedes Kindes. Obwohl im Gedicht leibliche Eltern angesprochen scheinen, kann es auch als Apell an Pflege(und Adoptiv-)eltern verstanden werden. Erwachsene, die die Verantwortung für ein Kind/ einen Jugendlichen (übernommen) haben, sind aufgefordert, ihre Macht- und Einflussmöglichkeiten relativiert wahrzunehmen.
Das Vordringen zu seinem Geheimnis - die Suche nach seiner Identität - wird jedem Kind/ Jugendlichen selbst überlassen bleiben.
2. Wie es zu einem Pflegeverhältnis kommt
2.1 Die sogenannte Herkunftsfamilie
Ausgangspunkt der vorgelegten Betrachtungen ist die Annahme, dass die Herkunftsfamilie die eigentliche Familie jedes in Pflege genommenen Kindes/ Jugendlichen ist. Jeder Mensch hat einen leiblichen Vater und eine leibliche Mutter (und evtl. leibliche Geschwister). Diese Tatsache sei hier besonders in zweierlei Hinsicht vorangestellt: einerseits im Hinblick auf die später darzustellende Kontroverse, ob das Ersatz- oder das Ergänzungsfamilienkonzept am besten geeignet ist in Dauerpflegeverhältnissen, andererseits in Bezug auf die Bedeutung dieses Faktums für die Identitätsentwicklung des Pflegekindes[2]. Wie die im vorangestellten Gedicht unhintergehbare Persönlichkeit jedes Menschen, so ist auch die Tatsache der leiblichen Elternschaft nicht hinterfragbar.
Herkunftsfamilien, so das Credo der einschlägigen Literatur, sind zumeist vielfach belastete Familien. Der Alltag der meisten Herkunftseltern ist geprägt von „sozio- ökonomischen Mangellagen, emotionalen Belastungen oder psychischen Erkrankungen“[3], stellen Conrad et al. fest. Die Problemlagen, denen Familien ausgesetzt sein können, sind vielschichtig[4] und bedingen sich zum Teil gegenseitig. Tendenziell gehören Herkunftsfamilien eher den unteren sozialen Schichten an, wo finanzielle Engpässe, (dadurch bedingte) zwischenmenschliche Konflikte und beengte Wohnverhältnisse einige der Hauptfaktoren sein können, die die familiäre Alltagsgestaltung erschweren. Eltern können sich unter diesen Bedingungen im Hinblick auf die Versorgung und/ oder Erziehung ihres Kindes überlastet fühlen; so nennen Conrad et al. den „unspezifischen Anlass [der, J.V.] ,Überforderung'“[5] als Hauptgrund für die Inpflegenahme von Kindern.
Jedoch sind die Hintergründe individuell zu betrachten. Wie ein von Gehres et al. angeführtes Praxisbeispiel von zwei Pflegekindern zeigt, können auch der Tod eines oder beider Elternteile zur Inpflegenahme führen.[6] Dieser Fall scheint jedoch im Vergleich zu den statistischen Daten, die Conrad et al. in Anlehnung an Blandow et al. vorlegen, selten zu sein. Über die Hälfte (54%) der in jener Studie untersuchten Pflegekinder haben Vernachlässigungserfahrungen gemacht. Die weiter genannten herkunftsfami- lialen Umstände, wie etwa „Verlassen des Kindes“ (20%), „Alkoholmissbrauch“ (19%), „[...] psychische Krankheit“ (13%) oder „Gewalt in der Familie“ (12%)[7], überlappen sich teileise. Es ist aber vor Pauschalisierungen zu warnen und darauf hinzuweisen, dass hier besonders die im Pflegekinderwesen tätigen Fachkräfte vor der Herausforderung stehen, sich eine neutrale und offene Haltung gegenüber Herkunftsfamilien zu bewahren. Auch Sauer macht in Anlehnung an Blandow darauf aufmerksam, dass Herkunftseltern nicht grundsätzlich als erziehungsunfähig gelten dürfen.[8]
2.2 Elternrecht und Kindeswohl
Die UN-Kinderrechtskonvention, die 1992 auch von Deutschland unterzeichnet worden ist[9], fordert, „dass das Kind ,so weit wie möglich das Recht (hat), seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden' (Art.7 Satz 1)“[10]. Das Kennen der eigenen Eltern - sofern sie am Leben sind - ist eine wichtige Bedingung für eine gesunde Identitätsentwicklung. Dem wird im Rahmen dieser Konvention Rechnung getragen.
Der Formulierung „so weit wie möglich“[11] wohnt jedoch eine gewisse Ambivalenz inne. Sie versucht, dem kindlichen Recht, bei seinen Eltern aufzuwachsen, in größtmöglichem Maße zu entsprechen und setzt gleichzeitig eine uneindeutige Grenze, wann dieses Recht des Kindes außer Kraft tritt.
Diese Ambivalenz setzt sich fort in der Praxis der Jugendämter. Sie sind damit konfrontiert, einerseits dem „natürliche[n] Recht der Eltern“[12] auf die Pflege und Erziehung ihrer Kinder weitestmöglich zu entsprechen, andererseits dann einzugreifen, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist. Eine Gefährdung des Kindeswohles stellen nach § 1666 BGB z.B. die Inhaftierung, eine Krankheit oder der Tod der Eltern dar, ebenso aber Misshandlung oder Vernachlässigung des Kindes.[13] Jene Ereignisse, bzw. Tatbestände sind wiederum im Einzelfall zu prüfen. Es sei hier nochmals auf die auch unter
2.1 genannten vielfach verwobenen Problematiken hingewiesen.
2.3 Traumatische Vorerfahrungen als Ausgangsbedingung eines Pflegeverhältnisses
Die vormals genannten Umstände müssen darüber hinaus als potentielle Risikofaktoren für die Herausbildung eines Traumas seitens des Kindes ernst genommen werden. Als Trauma wird in der Traumapädagogik ein schwerwiegendes Ereignis bezeichnet, das bei jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Das Spannungsverhältnis Elternrecht - Kindeswohl[14] wird unter tramapädagogischer Perspektive dahingehend aufzulösen sein, dass dem Kindeswohl ein - im Hinblick auf die drohende Traumatisierung - begründeter Vorrang einzuräumen ist.
Jedoch ist die Problematik des kindlichen Traumas, das in (herkunfts-)familiären Kontexten entwickelt werden kann[15], noch kaum in der Fachliteratur zu finden.[16] Auch in der Praxis der Jugendämter ist dafür noch kein explizites Problembewusstsein vorhanden, sondern wird lediglich im Bestreben um den Schutz des Kindeswohles präventiv mitverhandelt.
In der Absicht, die Elternrechte zu wahren, werden meist vielfältige Hilfeangebote an belastete Familien gemacht. Die Trennung eines Kindes von seinen leiblichen Eltern wird - im Interesse des Kindes und der Eltern - auf vielfältige Weise zu verhindern gesucht. Ein breites Spektrum unterschiedlicher Hilfeformen hat sich etabliert, wie etwa die sozialpädagogsche Familienhilfe oder Erziehungsseminare für Eltern. Diese Praxis kann dazu führen, dass Kinder zuweilen lange Zeit tramatisierenden Situationen ausgesetzt sind. Bleiben alle vorgeschalteten Hilfen zur Erziehung ohne Wirkung und wird das Kind schließlich fremd untergebracht, so ist davon auszugehen, dass es in seiner Herkunftsfamilie traumatisierenden Verhältnissen ausgesetzt war (alle Gründe, die zur Herausnahme aus der Familie führen, müssen als potentielle Traumagründe gesehen werden); teilweise über lange Zeiträume[17]. Ob jene traumatisierenden Umstände dann tatsächlich zur Herausbildung eines Traumas führen, lässt sich nicht pauschal sagen; es kann lediglich darauf hingewiesen werden, dass in Pflegefamilien aufgenommene Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit traumatisiert sind.
2.4 Vorerfahrungen mit Institutionen der Jugendhilfe
Pflegefamilien sind Orte, in denen Kinder aufgenommen werden, die in - familiär bedingten - Notsituationen sind. Das differentielle Angebot der Jugendhilfe kann auch dazu führen, dass ein junger Mensch verschiedene Einrichtungen der Jugendhilfe durchläuft und diese Erfahrungen mitbringt, wenn er in eine (neue) Pflegefamilie kommt. Zu jenen Erfahrungen gehören frühere Aufenthalte in Pflegefamilien (evtl. verschiedener Art)[18], Aufenthalte in Kinderheimen oder Aufenthalte in anderweitigen Einrichtungen der Jugendhilfe, ambulanter oder (teil-)stationärer Art[19]. In der Literatur wird dieses Phänomen zuweilen als Jugendhilfe-„Karriere“ bezeichnet.[20]
Neben der bereits erörterten Problematik Trauma soll hier der Blick auch auf weitere mögliche Störungen des kindlichen Selbst gelenkt werden. Zu nennen sind hier Störungen seelischer Art, die u.a. in der Hospitalismus-Forschung eine Rolle spielen. Kommt ein Kind nach einem (längeren) Heimaufenthalt in eine Pflegefamilie, so kann diese konfrontiert sein mit „seel. Störungen in Form von Apathie, Interessenlosigkeit [...], Distanzlosigkeit, geringem emotionalen Tiefgang [...oder, J.V] ungezügelter Aggressivität“[21], welche Remschmidt in einem Lexikonartikel als mögliche Folgen eines Heimaufenthaltes schildert. Diese Ausführungen verfolgen aber nicht die Absicht, bei jedem (ehemaligen) Heimkind pauschal eine seelische Störung zu diagnostizieren. Sie sollen vielmehr sensibilisieren für die komplexe Aufgabe, vor der Pflegeeltern stehen (können).
[...]
[1] Aus: K. Gibran: Der Prophet, zit. nach Geiger (2000): Deine Kinder sind nicht deine Kinder, S. 45.
[2] Der Terminus „(Pflege)Kind“ meint hier nicht nur Kinder (im Alter von 0-12 Jahren), sondern bezieht Jugendliche (bis zur Volljährigkeit) mit ein.
[3] Conrad et al. (2006): Das Pflegekind im Spannungsfeld zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern, S. 59.
[4] Vgl. dazu Schattner (2000): Soziale Elternschaft aus psychologischer Sicht, S. 32.
[5] Conrad et al. (2006): Das Pflegekind im Spannungsfeld zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern, S. 59.
[6] Vgl. Gehres et al. (2008): Identitätsbildung und Lebensverläufe bei Pflegekindern, S. 62ff und 74ff.
[7] Blandow et al. zit. nach Conrad et al. (2006): Das Pflegekind im Spannungsfeld zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern, S. 59.
[8] Vgl. Blandow, zit. nach Sauer (2008): Die Zusammenarbeit von Pflegefamilie und Herkunftsfamilie in dauerhaften Pflegeverhältnissen, S. 58.
[9] Vgl. ebda., S. 20.
[10] Gehres et al. (2008): Identitätsbildung und Lebensverläufe bei Pflegekindern, S. 12.
[11] Ebda.
[12] Art. 6, Abs. 3 GG, zit. nach Conrad et al. (2006): Das Pflegekind im Spannungsfeld zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern, S. 38.
[13] Vgl. Vogel (2010): Aufwachsen im Kinderheim, S. 5.
[14] Vgl. Gehres et al. (2008): Identitätsbildung und Lebensverläufe bei Pflegekindern, S. 12.
[15] Das zeigt etwa die Geschichte von Eva, einer Frau, die innerhalb ihrer Familie jahrelang sexueller Gewalt ausgesetzt war; vgl. Petry (1991): Stell dich nicht so an!.
[16] Eine Ausnahme bilden hier Riedle et al., die hinsichtlich der Integration eines Pflegekindes in die Pflegefamilie postulieren: „Es ist schwierig für ein traumatisiertes Kind, sich in eine neue Familie einzufügen“, Riedle et al. (2008): Pflegekinder, S. 58. Die Traumatisierung ist hier unhinterfragte Grundannahme und muss als solche wiederum kritisch gesehen werden.
Außerdem benennt Sauer in Anlehnung an Nienstedt et al. mit traumatisierenden Bindungen des Kindes an seine Eltern ein Argument für das Ersatzfamilienkonzept, vgl. Sauer (2008): Die Zusammenarbeit von Pflegefamilie und Herkunftsfamilie in dauerhaften Pflegeverhältnissen., S. 23.
[17] Vgl. dazu den bereits erwähnten Fall von Eva. Sie war 13 Jahre (!) sexuellem Missbrauch durch ihren Vater ausgesetzt.
[18] Zu den Gründen für gescheiterte Pflegeverhältnisse, bzw. Abbrüche von Pflegschaften siehe auch die Untersuchungen von Hochflizer (2008): Die Bindungen von Kindern, S. 70f.
[19] Zu den verschiedenen Angeboten der Jugendhilfe, die sich im Laufe der gesellschaftlichen Pluralisie- rung ebenfalls differenziert haben, vgl. Kupffer et al. (1994): Einführung in die Theorie und Praxis der Heimerziehung.
[20] Vgl. Schattner (2000): Soziale Elternschaft aus psychologischer Sicht, S. 36.
[21] Remschmidt (1970): Hospitalismus, S. 254.