Ausgehend von einer Aussage Kurt Weis’, mit dem Aufkommen der Fotografie habe eine ganz neue Codierung von Zeit begonnen, geht diese Arbeit der Frage nach, was diese Erfindung zu ihrer Zeit bedeutete und welche Veränderungen sie mit sich brachte.
Zur Erfindung der Fotografie mussten Kenntnisse aus zwei Wissenschaften kombiniert werden: aus der Physik/Optik zur Herstellung der Kamera und aus der Chemie zur Fixierung des Bildes. Die ersten Verfahren, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstanden, waren Positivverfahren, mit denen nur Unikate hergestellt werden konnten. Sie wurden in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre von der Fotografie im engeren Sinn verdrängt, die mit einem Negativverfahren arbeitete und damit die Herstellung vieler Kopien ermöglichte. Die ersten Belichtungszeiten waren noch sehr lang. Erst ab Anfang der 1850er Jahre waren die technischen Voraussetzungen für die sogenannte „Momentaufnahme“ erfüllt. Während bisher hauptsächlich Portraits gemacht bzw. Architektur, Stilleben u. ähnl. abgebildet wurden, konnte sich nun auch die sogenannte „Dokumentarfotografie“ entwickeln. Die ersten ausführlichen Kriegsberichte erschienen aus dem Krimkrieg 1853 - 1856; später dann aus dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865). Eine äußerst wichtige Entwicklung stellten auch die systematischen Bewegungsstudien dar, die in den 1870er und 1880er Jahren begannen.
In der Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass die Fotografie und ganz besonders die Bewegungsaufnahmen die menschliche Wahrnehmung wesentlich verändert haben. Dabei wird verschieden argumentiert. Wo die Fotografie mit Gemälden oder Zeichnungen verglichen wird, herrschen negative Aussagen über die Fotografie vor. Die Fotografie gilt dann als etwas Erstarrtes, Totes, Unnatürliches, Unmenschliches, etwas, das nicht die „wirkliche Realität“ wiedergibt. Die Vertreter einer anderen Argumentationskette sind von der Entwicklung der neuen elektronischen Medien fasziniert und sehen darin eine fast unbeschränkte Verfügbarkeit über Zeit und Raum. Vergangenheit und Zukunft würden zu Gegenwart, die Zeit „schrumpfe“; mit der Fotografie habe diese Entwicklung begonnen. Andere wiederum betonen die große Möglichkeit der Meinungsbeeinflussung durch die Art der Darstellung und die Auswahl der Bilder. Jedenfalls hat die Erfindung der Fotografie wesentliche Veränderungen eingeleitet, die möglicherweise noch gar nicht abgeschlossen sind.
Inhalt
1. Einführung
2. Einige wichtige Daten aus der Geschichte der Fotografie
3. Die Fotografie - eine Neucodierung der Zeit?
3.1. Festhalten der Zeit
3.2. Verfügbarkeit über Zeit und Raum
3.3. Kybernetische Struktur
3.4. „Sichtbarmachen des Unsichtbaren“
3.5. Beliebige Reproduzierbarkeit
4. Fotografie, Zeit und Wahrnehmung
4.1. Belichtungszeiten und „Momentaufnahmen“
4.2. Bewegungsaufnahmen - der „Blick in die Tiefe der Zeit“
5. Gilbreth - die Fotografie im Dienste des Zeitmanagements
6. Zusammenfassung
Bibliographie
Tabelle 1
Anhang
1. Einführung
Den Anstoß dazu, mich mit der Erfindung der Fotografie in ihrem Bezug zur Zeit zu beschäftigen, bot mir ein Zitat aus dem Beitrag „Zeitbild und Menschenbild: Der Mensch als Schöpfer und Opfer seiner Vorstellungen von Zeit“ von Kurt Weis. Weis schreibt dort: „Mit dem Aufkommen der Photographie beginnt eine ganz neue Codierung von Zeit“1 Es stellte sich mir zuerst einmal die Frage: Wie begründet Weis diesen Anspruch einer „ganz neuen Codierung“? Und weiter: Sind auch andere Autoren (Philosophen, Psychologen, Historiker, Soziologen, Kommunikationswissenschaftler) von dieser Bedeutung der Erfindung der Fotografie überzeugt? Besonders wichtig war mir auch die geschichtlich bedeutsame Frage nach der Rezeption der Fotografie durch die Zeitgenossen und nach ihrer Auffassung im Hinblick auf den Zusammenhang mit dem Konzept „Zeit“. Worin sahen die Zeitgenossen das Neue in der Fotografie? Zwei weitere Fragestellungen, die ich behandeln möchte, sind die Fragen nach Veränderungen der Wahrnehmung durch die Fotografie und nach Einflüssen der Fotografie auf das Zeitmanagement.
Um eine Annäherung an diese Themenkreise zu versuchen, war es notwendig, den Begriff Fotografie für den Zweck dieser Arbeit abzugrenzen. Wie bei vermutlich jeder Erfindung sind die Grenzen zu Beginn unscharf, denn für die einzelnen Elemente, die den Vorgang des Foto- grafierens konstruieren, läßt sich eine Reihe von Vorstufen finden. Dazu kommt, daß die ersten fotografischen Verfahren von verschiedenen Personen zu ungefähr der gleichen Zeit teilweise unabhängig voneinander entwickelt wurden. Unscharf werden die Grenzen jedoch auch zu einem anderen Zeitpunkt. Es stellt sich die Frage, was noch als Weiterentwicklung der Fotografie zu betrachten ist und wo mit dem Medium „Film“ etwas grundsätzlich Neues beginnt. Ein Überblick über die Literatur ergab, daß häufig auf eine solche Unterscheidung nicht Wert gelegt wird, da es vielen Autoren darum geht, die Entwicklung der modernen Medien und ihre Implikationen allgemein zu beleuchten. In einer Arbeit, die sich speziell mit der Fotografie befaßt, erscheint mir eine Abgrenzung nötig. Zuvor möchte ich jedoch einige wichtige Daten aus der Geschichte der Fotografie von der Zeit der Erfindung an, für die allgemein das Jahr 1839 angegeben wird, bis zur Jahrhundertwende darstellen, wobei ich wegen der notwendigen Kürze naturgemäß stark vereinfachen muß.
Zur Erfindung der Fotografie mußten Kenntnisse aus zwei Wissenschaften kombiniert werden: aus der Physik/Optik zur Herstellung der Kamera und aus der Chemie zur Fixierung des Bildes. Das Prinzip der „Camera obscura“, das bei der Fotokamera angewendet wurde, war schon lange bekannt. Es beruht darauf, daß Licht, das durch ein kleines Loch in der Wand eines abgedeckten Raumes tritt, auf der gegenüberliegenden Wand ein auf dem Kopf stehendes Bild dessen formt, was sich vor dem Loch befindet. Bereits Aristoteles erwähnt dieses Prinzip; eine der bekanntesten zeichnerischen Darstellungen der Camera obscura findet sich bei Leonardo da Vinci. Seit dem 16. Jahrhundert benützte man sie in verschiedenen Varianten, mit einer Linse versehen, als Hilfsmittel zum Zeichnen.
Die Erkenntnis, daß die Einwirkung von Licht die Beschaffenheit vieler Substanzen verändert, geht ebenfalls auf die Antike zurück. Daß diese Erkenntnis gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Prinzip der Camera obscura zusammengebracht wurde, hängt zweifellos mit dem wachsenden Wunsch nach Bildern zusammen, der im aufsteigenden Bürgertum bereits im 18. Jahrhundert verbreitet war (siehe später) und zunächst mit Hilfe der Lithographie zu befriedigen versucht wurde. Viele suchten unabhängig voneinander nach einem Weg, das mit Hilfe der Camera obscura entstandene Bild festzuhalten. Das Jahr 1839, in dem das Verfahren der Daguerreotypie der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, gilt als Zeitpunkt der Erfindung der Fotografie, doch war dies weder das erste noch das einzige Verfahren. So hatte z. B. Joseph Nicéphore Niépce (1765 - 1833) eine Methode erfunden, die er „Heliographie“ nannte. Das älteste noch erhaltene, mit diesem Verfahren erzielte und noch sehr unscharfe Bild stammt aus dem Jahr 1826. Niépce hielt im Positivverfahren mit Hilfe der Camera obscura Bilder auf einer Zinnplatte fest, auf der er eine Asphaltschicht aufgebracht hatte.
Als Erfinder der Daguerreotypie, ebenfalls eines Positivverfahrens, bei dem eine mit Joddämpfen lichtempfindlich gemachte Silberplatte verwendet wurde, gilt Louis Jacques Mandé Daguerre (1787 - 1851). Dieser hatte in Form eines Vertrages mit Niépce zusammengearbeitet. Als Daguerre das Verfahren veröffentlichte, war Niépce schon sechs Jahre tot und es ist nicht ganz geklärt, wie hoch dessen Beitrag zur Erfindung war. Bei der Daguerreotypie handelte es sich infolge des Positivverfahrens um Unikate; sie wurden in Etuis aufbewahrt und mußten aus einem bestimmten Blickwinkel aus betrachtet werden.
Die Daguerreotypie breitete sich ungeheuer rasch sowohl in Europa als auch in den USA aus. Einer Statistik ist z. B. zu entnehmen, daß in dem am 1. Juni 1855 endenden Geschäftsjahr allein im Bundesstaat Massachusetts 403.626 Daguerreoptypien hergestellt wurden.[2] Für Europa nennt Walter Benjamin das Beispiel von Marseille, wo es 1850 vier bis fünf „peintres de miniature“ gegeben habe, aber einige Jahre später schon 40 bis 50 Fotografen.[3] Die Methode der Daguerreotypie wurde laufend verbessert und erzielte eine ausgezeichnete Qualität der Abbildungen; sie war jedoch, da nur Unikate hergestellt werden konnten, in der Epoche der industriellen Revolution eine anachronistische Erscheinung. Sie wurde in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre von der Fotografie im engeren Sinn verdrängt, die mit einem Negativverfahren arbeitete und damit die industrielle Bewältigung einer immer größeren Anzahl von Teilschritten der Herstellung ermöglichte.[4]
Das erste Negativverfahren hatte William Henry Fox Talbot (1806 - 1877) verwendet. Talbots Papierkopien waren reproduzierbar. Als er 1839 von der Veröffentlichung der Arbeiten Daguerres erfuhr, beeilte er sich, die eigene Methode ebenfalls bekanntzumachen.
Als Beispiel für diejenigen, die als Erfinder im Schatten Daguerres und Talbots blieben, soll noch der Name Hippolyte Bayards (1801 - 1887) genannt werden. Bayard stellte ebenfalls bereits 1839 eine Reihe von Fotografien aus, die er mit einem anderen Verfahren erzielt hatte. Er reagierte auf die Zurücksetzung, indem er sich selbst als „Ertrunkenen“ fotografierte. Später wurde Bayard ein bekannter Fotograf, der sowohl das Verfahren Daguerres als auch das Talbots anwandte.
Die ersten Belichtungszeiten waren noch sehr lang. Erst ab Anfang der 1850er Jahre waren die technischen Voraussetzungen für die sogenannte „Momentaufnahme“ erfüllt; insbesondere mußten schnellere Verschlüsse und lichtempfindlichere Platten entwickelt werden (s. später). Während vorher hauptsächlich Portraits gemacht bzw. Architektur, Stilleben u. ähnl. abgebildet wurden, konnte sich nun auch die sogenannte „Dokumentarfotografie“ entwickeln. Die ersten ausführlichen Kriegsberichte erschienen aus dem Krimkrieg 1853 - 1856; später dann aus dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865). Ein Kommentar der New Yorker Times von 1862 läßt ahnen, welchen Eindruck die Kriegsfotos auf die amerikanische Bevölkerung machten: „Zwar hat er (der Fotograf Mathew B. Brady) keine Leichen mitgebracht und sie in unsere Vorgärten und auf unsere Straßen gelegt, aber er hat etwas sehr Ähnliches getan. “[5]
Ab 1853 fand die Methode der Stereographie weite Verbreitung, Die Bilder wurden mit einer zweiäugigen Kamera aufgenommen, die das beidäugige Sehen nachahmen sollte. Es entstanden zwei Bilder, die leicht voneinander abwichen und, wenn man sie in einem Apparat, dem sogenannten Stereoskop, betrachtete, den Eindruck der Dreidimensionalität vermittelten. Zwischen 1854 und 1856 soll der Gründer der London Stereoscopic Company ca. eine halbe Million Ste-reoskope verkauft haben.[6]
Einen wichtigen Schritt zur „Demokratisierung“ der Fotografie stellte das Verfahren der sogenannten „Visitekartenfotos“ dar, das André Adolphe-Eugène Disdéri 1854 in Frankreich als Patent anmeldete. Mit einer einzigen Platte konnte man acht Aufnahmen machen; damit konnte der Preis eines Fotos drastisch gesenkt werden und war für die meisten erschwinglich. Trotz des Patents wurde das System bald auf der ganzen Welt nachgeahmt Als dann Ende des 19. Jahrhunderts Handkameras mit Zelluloid-Negativ-Film herauskamen, die billig waren und keinerlei besonderen Kenntnisse verlangten - „ You Press the Button, We Do the Rest“ war ein Werbespruch für die Kodak-Box, die George Eastman 1888 auf den Markt brachte - wurde die Fotografie darüber hinaus auch zu einer Hobbytätigkeit für Millionen von Menschen.
Eine äußerst wichtige Entwicklung - vom Thema dieser Arbeit aus betrachtet - stellen die systematischen fotografischen Bewegungsstudien dar, die Edward Muybridge in den 1870er Jahren und Étienne Jules Marey in den 1880er Jahren begannen. Wegen ihrer Bedeutung für die Wahrnehmung und das Thema „Zeit“ werden sie in einem anderen Kapitel ausführlicher behandelt.[7]
Im Lichte dieser Daten möchte ich als Kriterium für die Abgrenzung des Begriffs „Fotografie“ die Absicht der Fotografen nehmen, Abbilder von Gegenständen oder Personen mit technischen Mitteln herzustellen. Von diesem Standpunkt aus ist die Art des Verfahrens nicht wichtig, und auch frühe Formen der Fotografie wie Daguerreotypie oder Heliographie können herangezogen werden. Am anderen Ende des von mir in Aussicht genommenen Zeitraums - von der Erfindung der Fotografie bis ca. zum Ersten Weltkrieg - stehen die Bewegungsstudien von Marey und später von Gilbreth. Beide hatten offensichtlich nicht die Absicht, Bewegung optisch zu simulieren, wie es dem Medium „Film“ entspricht. Aber auch Muybridge, der von manchen Autoren mit der Erfindung des Films in Zusammenhang gebracht wird[8], schuf zumindest jene Aufnahmen, die für das Thema „Zeit“ von besonderer Bedeutung sind, keineswegs in der Absicht, „die Bilder laufen zu lassen“, wie es Kevin MacDonnell im Titel seiner Biographie Muybridges ausdrückt. Gerade bei den ersten bahnbrechenden Aufnahmen Muybridges, die die Bewegung von Pferden erfassen sollten, war das Streben nach Erkenntnis maßgebend und nicht die Suche nach der Entwicklung optischer Illusionen. Es erscheint mir daher gerechtfertigt, diese Aufnahmen als „Fotografie“ in meine Arbeit einzubeziehen.
3. Die Fotografie - eine Neucodierung der Zeit?
Im nun folgenden Kapitel möchte ich versuchen, einige Grundaussagen oder Motive in bezug auf die Bedeutung der Erfindung der Fotografie herauszuarbeiten, die alle mehr oder weniger mit Zeit zu tun haben und immer wieder in verschiedenen Variationen bei den einzelnen Autoren, die ich heranziehen konnte, vorkommen. Fünf solcher Motive konnte ich feststellen, wobei die Grenzen nicht scharf gezogen sind und sich einzelne Aspekte überlappen. Vieles andere muß dabei außer Betracht bleiben oder kann nur angedeutet werden, weil ein Bezug zur Zeit weniger sichtbar ist und auch, weil die Arbeit sonst zu umfangreich geworden wäre. Dies betrifft z. B. die Debatte, ob Fotografie Kunst sein kann, die schon seit den Anfängen der Fotografie geführt wurde; die Problematik der sogenannten „Dokumentaraufnahmen“ oder die Suche nach magischen Elementen in der Fotografie.
3.1. Festhalten der Zeit
Einer der häufigsten Gedanken, die in der Literatur zu finden sind - und vielleicht auch der nächstliegende - ist der, daß die Fotografie die Zeit anhält. Die Umschreibungen dafür sind vielfältig und reichen von „Bewahrung des Augenblicks“[9] (einem Ausdruck, den man im Sinn der sozialgeschichtlichen Böhlau-Reihe „Damit es nicht verloren geht“ interpretieren könnte) über „Stillegung der Zeit“[10] und „angehaltene Zeit“[11] bis zu „Arretierung der Zeit“[12].
Bereits in den Zeiten der Daguerreotypie findet sich diese Idee des „Aufbewahrens“ oder „Sicherstellens“. Die Verse „„Secure the shadow 'ere the substance fade / Let Nature imitate what Nature made“- in der deutschen Fassung: „Bewahr den Schatten, wo der Stoff verfliegt / Natur laß imitieren, was die Natur gefügt - diente als Werbespruch für die Daguerreotypie.[13]
Die Fotografie kam mit ihrer Möglichkeit des „Aufbewahrens“ einem Bedürfnis des aufsteigenden Bürgertums des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entgegen, als in einer Zeit der durch die Modernisierung bedingten raschen Änderungen wenigstens der „Schatten“ dessen, was vom Untergang bedroht war, aufbewahrt werden sollte. Einerseits war es die familiäre Identität, deren man sich versichern wollte; das Sammeln von Familienportraits - ab den 1850er Jahren in Fotoalben - kann als bürgerliches Pendant zur Ahnengalerie der Adeligen angesehen werden. Nun konnte man es den Adeligen gleichtun. Man kann dies als Wunsch nach Repräsentation auffassen, doch weist Julia Hirsch auch auf die emotionale Bedeutung der Fotografie hin, wenn sie Charles Dickens zitiert, der einen seiner Helden sagen läßt: „I never saw my father, or my mother, and never saw any likeness of either of them (for their days were long before the days of photography)... “.[14] Die Sterblichkeit war noch immer hoch, und fast alle Daguerreotypisten boten auch die Ausfertigung posthumer Portraits an.[15]
Es waren aber nicht nur Menschen, deren Abbild festgehalten werden sollte; auch der Lebensraum, der vielleicht bald nicht mehr existieren würde[16], wurde aufgenommen: Architektur, bürgerliche Interieurs, Landschaften. Gegen Ende des Jahrhunderts begann man auch, traditionelle Sitten und Gebräuche, die vom Aussterben bedroht waren, zu fotografieren.[17] Die ersten Reisefotografien wurden schon bald im Kontext klassischer Bildungsreisen, Forschungsoder Pilgerfahrten gemacht.
Voraussetzung für die breite Akzeptanz der Fotografie war nicht nur, daß der/das Einzelne als wichtig empfunden wurde, wozu die Renaissance den Grund gelegt hatte, sondern auch, daß ein Gefühl für den „aktuellen Moment“ bestand. Letzeres gehörte nach Wendorff zu den Charakteristika der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und drückte sich u. a. in „einer erhöhten
Aufmerksamkeit für das Einmalige einer aktuellen Situation im Unterschied zu aller Vergangenheit und Zukunft“18 aus.
Der zweite Teil des oben zitierten Werbespruchs für die Daguerreotypie, „Let Nature imitate what Nature made“, bringt eine Empfindung oder Deutung der Fotografie zum Ausdruck, die in den 1830er und 1840er Jahren sehr häufig war. Die Natur, oder auch das Licht, oder die Sonne selbst traten an die Stelle des Malers und schufen ein Bild. Obwohl dieser Aspekt nicht unmittelbar mit dem Thema „Zeit“ zusammenhängt, erscheint er mir doch so wichtig, daß ich ihn nicht ganz auslassen möchte.
Talbot gab seiner philosophischen Betrachtung über die Fotografie, die 1844 erstmals erschien, den Titel „The Pencil of Nature“. Louis Friedrich Sachse, ein Berliner Fotopionier, schrieb 1839: „Welch eine wunderbare göttliche Erfindung, die Daguerre gemacht hat! Ich sage Ihnen, man könnte den Verstand verlieren, wenn man so ein von der Natur gewissermaßen selbstgeschaffenes Bild sieht. “[19] „Niemals hat die Zeichenkunst der großen Meister eine solche Zeichnung hervorgebracht... Es ist die Sonne selbst, als allmächtiges Werkzeug einer neuen Kunst, die diese unglaubliche Arbeit vollbringt“ - Worte des Kunstkritikers Jules Janin aus dem gleichen Jahr.[20] Eine andere Version des gleichen Gedankens beinhaltet, daß es die Gegenstände selbst sind, die sich abbilden: „Gegenstände, die sich selbst in unnachahmlicher Treue malen: Licht, gezwungen durch chemische Kunst, in wenigen Minuten, bleibende Spuren zu lassen ... “[21].Talbot selbst hatte anläßlich einer Aufnahme seines Landhauses im Jahr 1835 gemeint, dieses Haus sei wohl das erste gewesen, „von dem man sagen kann, daß es sein eigenes Bild gezeichnet habe “.[22]
Fast jede der zitierten Stellen (und man könnte noch viele weitere nennen) bringt jedoch die Ambivalenz bzw. Spannung zum Ausdruck, die zwischen dem Bemächtigungsdrang des industriellen Zeitalters und dem „Wirken der Natur“ bestand. Die Natur ist es, die malt, aber der Mensch ist es, der ihr dies befiehlt. Der Wunsch nach Instrumentalisierung der Naturkräfte, die den Menschen gottähnlich machen sollte, und der Glaube an die Möglichkeit dieser Instrumentalisierung zeigt sich auch im Verhältnis zur Fotografie. In Janins Zeitschriftartikel, aus dem oben zitiert wurde, findet sich auch die Passage: „Es gibt in der Bibel die schöne Stelle: 'Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht. ' Jetzt kann man den Türmen von Notre-Dame befehlen: ’Werde Bild!' und die Türme gehorchen. “[23]
Busch faßt diese Ambivalenz wie folgt zusammen: „Meine These ist, daß Fotografie in zwei einander ergänzende Deutungsmuster eingespannt war. Einerseits wurde sie in den zeitgenössischen Bewertungen als Vorgriff auf die Wiedergewinnung einer unberührten, weil nun künstlich-technisch fabrizierten Natur verstanden - als eine Inschrift der Welt im Schöpfungsakt der 'machina'. Andererseits erschien dieser Automatismus verselbständigter List, dessen Willkür den Menschen tendenziell als Täter ersetzt, derart ungeheuerlich, daß beständig auf die tradierten Diskurse abendländischen Denkens zurückgegriffen wurde - der Ursprung, die Ursache der fotografischen Wahrheit, 'techné' als produktiver Eingriff in die Natur wurden als Selbst-Tätigkeit der Natur aufgefaßt oder Gott zugeschrieben.[24]
Aufbewahren, Festhalten - in diesen Begriffen schwingt auch die Konnotation des Erstarrten, Unbeweglichen, Toten mit. Tatsächlich wurde der Fotografie seit ihrem Bestehen auch dieser Vorwurf gemacht. Argumentiert wurde und wird einerseits mit der Tatsache der technischen Art der Entstehung, andererseits mit der kurzen Belichtungszeit. So schreibt Burckhardt: „ Was ins Photo eingeht, was in die photographische Platte sich einbrennt, ist Zeit, Belichtungszeit - und demgemäß ... könnte man die Photographie als eine Gerinnungsform der Zeit betrachten. “[25] Und an anderer Stelle: „Nicht mehr das Auge, sondern der Einfall des Lichts belichtet das Bild ... Und so ist, was aus der Kamera zurückschaut, das fremdgewordene Eigene, Zustand des Außer-ich. Der erkaltete Blick. “[26] Auch Busch spricht in Anlehnung an Susan Sontag von einer geronnenen, fragmentarischen Botschaft aus vergangener Zeit. Photoalben errichteten ein Totenreich, meint Kittler.[27] Oeder betont, daß die frühen Fotografien mit langer Belichtungszeit und verwaschenen, undeutlichen Bildern noch keineswegs das Bild einer von der Apparatur gebannten, erstarrten Zeit boten.[28] Dies trifft aber wohl nur auf die Heliographie und eventuell frühe Bilder Talbots zu. Die Daguerreotypien waren gestochen scharf, und ihre Schöpfer kämpften schon 1840 gegen den Vorwurf des Kalten, Toten, Starren an, wie z. B. der Daguerreotypist Isenring, der diesen Vorwurf prinzipiell akzeptierte, ihn jedoch durch Kolorierung der Bilder hinfällig zu machen suchte.[29]
Es ist nicht zu übersehen, daß die behauptete Starrheit und Kälte der Fotografie ein wichtiges Argument war im schon gleich nach ihrer Erfindung entflammten Streit um die Frage, ob Fotografie Kunst sein könne, wobei der bestehende Kunstbegriff selbst nicht in Frage gestellt wurde.[30] Gerhard Plumpe hat den „ästhetisch-juristischen Diskurs“ der Fotografie im 19. Jahrhundert in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Der tote Blick“ analysiert. Es bedürfte wohl einer eigenen Untersuchung, um festzustellen, ob auch von dieser Diskussion unbeeinflußte Zeitgenossen die Fotografie als starr und tot empfanden oder ob es sich bei dieser Charakterisierung in erster Linie nur um ein ideologisch geprägtes Argument handelte.
3.2. Verfügbarkeit über Zeit und Raum
Die Grundaussage der „Verfügbarkeit“ entspringt in gewisser Weise dem Gedanken des „Auf-bewahrens“, bringt jedoch noch neue Elemente hinein. Bei der Fotografie ist diese Verfügbarkeit in erster Linie eine über die Zeit, aber auch hier zeigt sich die enge Verknüpfung von Zeit und Raum. Es gibt „überhaupt keine Möglichkeit, Zeit anders als räumlich und Raum anders als zeitlich zu erfahren“.[31] Wenn Schivelbusch die „Vernichtung von Raum und Zeit“ als den Topos bezeichnet, mit dem das frühe 19. Jahrhundert die Wirkung der Eisenbahn beschreibt,[32] so wird von vielen heutigen Autoren die Wirkung der Fotografie als der Beginn einer Schrumpfung, Verdichtung, Zusammenziehung der Zeit (und des Raumes) gesehen, die mit der Entwicklung der neueren Medien immer stärker geworden sei. Parallelen zu den Kommentaren über die Erfindung der Eisenbahn sind auffällig, auch in bezug auf den Raum. Dem Ausspruch Heinrich Heines: „Mir ist als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt... “[33] kann man den - allerdings viel später formulierten - Satz Walter Benjamins über die Fotografie gegenüberstellen: „Die Kathedrale verläßt ihren Platz, um in dem Studio eines Kunstfreundes Aufnahme zu finden. “[34]
Verfügbarkeit über Zeit und Raum bedeutet, Zugang zu haben zu etwas Vergangenem oder Raumfernen. Man kann ein Foto jederzeit hervorholen und damit in gewisser Weise das Vergangene in die Gegenwart holen.
[...]
1 K. Weis, 1995, S.42
2 B. Newhall, 1989, S.33
3 W. Benjamin, 1991, S.830
4 T. Starl, 1998, S.50
5 New Yorker „Times“ v. 20.10.1862; zit. nach B. Newhall, 1989, S.91-92
6 A. Volk, 1996, S.64
7 Als wichtigste Unterlagen für diese geschichtliche Darstellung dienten die Bücher von M. Frizot, 1998, und B. Newhall, 1989
8 z. B. K. Kirchmann, 1998, S.335-336, oder R. Wendorff, 1980, S.438 - siehe jedoch die Kritik Frizots (1998a, S.244)
9 G. Großklaus, 1995, S.17
10 R. Barthes, 1985, S.101
11 G. Großklaus, 1995, S.122
12 a.a.O., S 116; K.Kirchmann, 1998, S.327
13 B. Newhall, 1989, S.33
14 zitiert nach J. Hirsch, 1981, S.44
15 B. Newhall, 1989, S.33; s.a. T. Starl, 1998, S.36, Abbildung
16 s. u. a. B. Newhall, 1989, S.101-104
17 a.a.O., S.144
18 R. Wendorff, 1980, S.415
19 zitiert nach B. Busch, 1989, S.228
20 zitiert a.a.O., S.216
21 Alexander v. Humboldt, 1839, zitiert nach G. Plumpe, 1990, S.9
22 zitiert nach B. Busch, 1989, S.249
23 zitiert a.a.O., S.217
24 a.a.O., S.214-215
25 M. Burckhardt, 1994, S.251
26 a.a.O., S.261-262
27 F. Kittler, 1986, S.21
28 W. Oeder, 1990, S.249
29 B. Busch, 1989, S.296
30 G. Plumpe, 1990, S.14
31 W.Ch. Zimmerli, 1998, S.277
32 W. Schivelbusch, 1989, S. 35
33 zitiert nach W. Schivelbusch, 1989, S.39
34 W. Benjamin, 1974, S.477
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