Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Das Konzept der Willensschwäche in der Platonischen und Aristotelischen Tradition
I. 1 Die Platonische Tradition
I. 2 Die Aristotelische Tradition
II. Die Explikation der Aristotelischen akrasia nach Jens Timmermann und Ursula Wolf
II. 1 Die akrasia nach Jens Timmermann
II. 2 Die akrasia nach Ursula Wolf
III. Schlussbemerkung
IV. Literatur
0. Einleitung
Der Mensch handelt. Dies ist der thematische Fokus der Anthropologie[1]. In der philosophischen Tradition ist seit Anbeginn darüber nachgedacht worden, wie sich dieser Umstand, in eine Theorie einbetten lässt, die den Menschen in einem umfassenderen Sinne als „Person“, „moral agent“ oder „Subjekt“ denkt. Ziel war es eine Vorstellung von der Art und Weise zu gewinnen, wie Menschen handeln. Ausgehend von den rationalistischen Tendenzen der Aufklärung wurde das „Handeln aus Gründen“ mehr und mehr zum Mittelpunkt der Überlegungen. Ebenso finden, die aus der angelsächsisch- empiristischen Tradition entlehnten Bestimmungen über „desire“ und „belief“ Eingang in den Diskurs. Mit neuesten Denkströmungen könnte man sich sogar fragen, ob es möglich ist, dass Gefühle Gründe sein können, die zum Handeln motivieren. Neben den klassischen Programmen hat sich die Moderne vor allem auf sprachphilosophische und logische Voraussetzungen von Handlungen konzentriert.
In diesem weiten Feld philosophischer, soziologischer und psychologischer Untersuchungen fällt auf, dass ein alltagssprachlich durchaus gebräuchlicher und verbreiteter Begriff wie „Willensschwäche“ sich einer ad hoc Definition entzieht. Dieser Begriff scheint, obwohl er in lebensweltlichen Zusammenhängen prima facie über beeindruckendes Erklärungspotential verfügt, nicht zu greifen.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, in systematisch-kritischer Absicht den „Nebel“ um den Begriff der „Willensschwäche“ etwas zu lichten und zwei Evaluierungen des von Aristoteles geprägten Begriffs der akrasia vorzustellen. Zu diesem Zweck dienen die klassisch-traditionellen Positionen Platons und Aristoteles als Ausgangspunkt, um anschließend mit Jens Timmermann und Ursula Wolf - zwei modernen Philosophen - das Phänomen zu erörtern.
I. Das Konzept der Willensschwäche in der Platonischen und Aristotelischen Tradition
I. 1 Die Platonische Tradition
Willenssschwäche, bzw. akrasia nach Sokrates/Platon liegt dann vor, wenn eine Person urteilt, eine Handlung sei die in der gegebenen Situation bestmögliche Handlung, entgegen diesem Urteil aber gleichwohl absichtlich und freiwillig eine alternative Handlung ausführt.
In der Literatur wurde und wird akrasia in erster Linie mit Unbeherrschtheit übersetzt, wobei sich jedoch durch die Entwicklung des Sprachgebrauchs - die eine gewisse Umdeutung mit sich trägt - der Begriff der Willensschwäche etablierte.
Ein Handelnder, der nicht das objektiv Beste tut, scheint ein Problem mit seinen Gefühlen, seinen Antrieben zu haben und sich nicht aus rational gewonnener Einsicht für die bessere Handlung entscheiden zu können. Hier wird also eine Entgegensetzung von aus Einsicht erfolgtem Handeln und durch Gefühle motiviertem Handeln vorgenommen. Die Diskussion um den Begriff Willensschwäche oszilliert zwischen diesem Pol und der Vorstellung, dass es so etwas wie Willensschwäche schon aus definitorischen Gründen gar nicht geben könne. Der Begriff „Wille“ könne nämlich nicht anders sinnvoll definiert werden, als dass der Wille notwendig zu einer ihm entsprechenden Handlung führt. Denn wenn eine Person eine Handlung wählt, wählt diese Person immerhin noch. Und gerade die Fähigkeit zu wählen setzt einen Willen voraus.
„[...] dann macht ihr euch mit der Behauptung lächerlich, der Mensch entscheide sich, verführt und geblendet von Lustgefühlen, in seinem Tun oft für das Schlechte, obwohl er es als schlecht erkennt und die Möglichkeit hätte, sich anders zu entscheiden; ebenso lächerlich ist eure Behauptung, dass sich der Mensch trotz aller Erkenntnis nicht für das Gute entscheiden wolle, weil er sich im Bann der augenblicklich genossenen Lust befinde."[2]
Aus platonischer Sicht ist die Handlungsweise durch Wissen und Einsicht bestimmt. Der Logos herrscht über die Handlungen. Der Handelnde ist ein Abwägender, der sich die Konsequenzen seiner Handlung auch und gerade hinsichtlich der Lust und Unlust vor seiner Handlung bewusst macht und dann zu einer handlungsleitenden Perspektive kommt. Sokrates scheint es auf das äußerste unplausibel, dass ein Handelnder absichtlich sich selbst Unlust beschert. Im Prinzip ist so schlechterdings unmöglich von akrasia zu sprechen.
Da Wissen und Einsicht die Handlungsweise bestimmen und man diese Attribute erwerben muss, bedeutet diese Herangehensweise im Umkehrschluss, dass das vermeintlich akratische Handeln darin besteht, dass Wissen gar nicht erst erworben und der Beitrag einer Handlung zur Maximierung der Lust falsch bewertet wird. Nur die weise Person ist diejenige, die über dieses Wissen verfügt und allein dadurch schon vor der vermeintlichen akrasia gefeit.
I. 2 Die Aristotelische Tradition
Die Seelenordnung und ethische Konzeption des Stagiriten scheint flexibler. In Buch VII der Nikomachischen Ethik über die akrasia als Handeln wider besseren Wissens schreibt er:
„Der letzte Vordersatz eines Schlussverfahren hat als Inhalt eine »Meinung« über das sinnlich Wahrnehmbare und gibt zugleich unserem Handeln Anstoß und Richtung. Somit hat jemand, wenn er in der Leidenschaft befangen ist, diese »Meinung« überhaupt nicht in sich, oder er »hat« sie in einer Form, in der dieses »Haben« nicht, wie oben gesagt, ein
Wissen bedeutet, sondern nur ein Sprechen, wie wenn ein Betrunkener Empedokles rezitiert. Und da das letzte Glied des Schlusses nichts Allgemeines aussagt und nicht in ähnlicher Weise in den Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis zu gehören scheint wie das allgemein aussagende Glied, so scheint in der Tat das herauszukommen, was Sokrates zur Geltung zu bringen versucht hat. Denn nicht wenn das in uns gegenwärtig ist, was als Wissen im eigentlichen Sinne gilt, erliegen wir der Leidenschaft - dieses Wissen wird auch nicht infolge der Leidenschaft in Wirrnis hin- und hergerissen - , sondern nur dann, wenn »Wissen« bloß als Wahrnehmungs-Wissen in uns ist."[3]
Zu Recht sieht Aristoteles, dass die sokratische Position zwar zu einigen Teilen stimmt, aber kontrafaktisch zur lebensweltlichen Erfahrung steht. Aristoteles gesteht zu, dass der Begriff Wille definitorisch so festgelegt ist, als dass eine dementsprechende Handlung folgen muss. Jedoch widerspricht er der sokratischen Position als dass er dem Phänomen einen ontologischen Status beimisst. Aristoteles' Methode der Lösungsfindung - die immer wieder in der Nikomachischen Ethik angewandt wird - ist, dass er die lebensweltliche Erfahrungen der Polisbewohner miteinzubeziehen versucht. Da diese Meinungen über die akrasia empirisch nicht von der Hand zu weisen sind, sucht Aristoteles die Kompatibilität seiner eigenen Meinung mit der, der geläufigen, lebensweltlichen Meinungen. Somit scheint die folgende Ausarbeitung des Problems plausibler als die des Sokrates. Das konstruktive Zentrum seiner Frage, nach dem wie man gegen das beste Wissen handeln kann, bildet der praktische Syllogismus. Dieser ist aufgebaut als:
1. Allgemeine Meinung
2. Etwas Einzelnes (was der sinnlichen Wahrnehmung unterstellt ist) Folgerung
[...]
[1] Das Handeln des Menschen ist einer der Foki in der Anthropologie. Weitere Schwerpunkte sind Vernunft, Sprachbegabung, Sozialität.
[2] Platon: Protagoras 355. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt. Hamburg 1956, S.59.
[3] Aristoteles: Nikomachische Ethik 147b 9-29. Übersetzung und Nachwort von Franz Dirlmeier. Reclam Verlag. Stuttgart 2001, S. 186.