Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Reflexion des eigenen Seelsorgeverständnis
1.1. Biblisch-theologische Erörterung zum Wesen der Seelsorge an alten Menschen
1.2. Reflexion meiner Rolle als Seelsorger
1.3. Besonderheiten des Lebens alter Menschen
1.4. Vorschläge für die Praxis der Seelsorge an alten Menschen
2. Die Praxis meines Seelsorgeprojektes
2.1. Kontext des Projektes
2.2. Eine Seelsorgebeziehung bahnt sich an
2.3. Der 1. Besuch: Mitsein am Altenbett
2.4. Der 2. Besuch: „Sie sind immer so lieb zu mir“
2.5. Der 3. Besuch: „Mein Sohn ist wieder da“
3. Auswertung des Seelsorgeprojektes
4. Bibliographie
4.1. Fachliteratur
4.2. Quellen aus dem Internet
0. Einleitung
In Überlingen sind 25,2 Prozent der Einwohner mehr als 65 Jahre alt, in der Heidelberger Altstadt sind es zum Vergleich gerade einmal 11,6 Prozent.[1] In der Paul-Gerhardt-Gemeinde beträgt der Anteil von alten Menschen sogar mehr als die Hälfte: So zeigte die letzte Datenerhebung vom 10.9.2011, dass von den 1802 gemeldeten Gliedern 957 über 65 Jahre alt sind; von den Mitgliedern über 75 Jahren gibt es 395.[2]
Für die Paul-Gerhardt Gemeinde, wie für viele andere Kirchengemeinden in Deutschland gilt deshalb, dass „sie aufgrund ihrer Altersstruktur in mancher Hinsicht Verhältnisse vorwegnehmen, die auf die Gesamtgesellschaft erst noch zukommen.“[3]
Die demographische Entwicklung wurde mir zum ersten Anlass, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie zukünftige Pfarrer und Pfarrerinnen alten Menschen kompetent und menschlich in der Seelsorge begegnen können.[4]
Ein weiterer Grund liegt darin, dass ich mich für alte Menschen in besonderer Weise interessiere. Da meine eigenen Großeltern relativ früh verstarben, weiß ich nur wenig über die Lebensbesonderheiten alter Leute und bin deshalb neugierig zu erfahren, wie Menschen in hohem Alter ihr Leben führen, und was Chance und Risiken dieses Lebensabschnittes sind. Häufig schwingt in den Begegnungen auch die Frage nach dem Tod mit. Diese zu bedenken ist nicht nur allen Christen geboten,[5] sondern hat auch weitreichende Konsequenzen für die eigene Existenz.
Mitunter empfinde ich drittens den Umgang mit alten Menschen auch entspannend und beglückend, da sie nicht mehr in beruflichen und / oder existentiellen Leistungszusammenhängen stehen. Um es einfach auszudrücken: Sie müssen sich und der Welt nichts mehr beweisen, sondern erfreuen sich an den grundlegenden Dingen und an den Kleinigkeiten des Lebens.
Aus diesen drei Anlässe heraus habe ich mich entschlossen meine poimenische Arbeit zum Thema „Seelsorge an alten Menschen“ zu schreiben. Dazu habe ich eine These formuliert, die wesentliche Aspekte der Theorie und Praxis der Seelsorge an alten Menschen zum Ausdruck bringt.
Seelsorge an alten Menschen geschieht aufgrund der Seelsorge Gottes am Menschen und auf den Auftrag Jesu hin. Sie wahrt die Würde des vielfach schwachen und in seinen Lebensmöglichkeiten eingeschränkten alten Menschen. Sie ist sich erbarmende Zuwendung zum Menschen um seiner selbst willen. Für eine angemessene Praxis der seelsorgerlichen Besuche, die häufig in einer „normalen“ Alltags-Unterhaltung und weniger in einer problemlösenden Kommunikation mit dem Gesprächspartner besteht, ist es unerlässlich, dass der Seelsorger möglichst genau über Besonderheiten des Lebens alter Menschen, sowie über methodische Möglichkeiten der seelsorgerlichen Begegnung Bescheid weiß.
Aus der These ergibt sich der Aufbau meiner Seelsorgearbeit. So werde ich im ersten Kapitel eine kurze biblisch-theologische Erörterung über das Wesen der Seelsorge an alten Menschen geben (1.1.). Danach lege ich den Fokus auf die Reflektion meiner Rolle als Seelsorgers (1.2.). Die Seelsorge des Menschen gründet in der Seelsorge Gottes und bekommt daher ihren Auftrag. Die Rolle des Seelsorgers muss jedoch angesichts der komplexen kommunikativen Gemengelage von Chancen und Risiken, wie sie bei Begegnungen zwischen Menschen auftreten, extra bedacht werden.
Um eine angemessene Wissensgrundlage der Praxis der Seelsorge zu bekommen werde ich dann „Besonderheiten des Lebens alter Menschen“ aufzeigen (1.3.) und die methodischen Möglichkeiten der Praxis der Seelsorge reflektieren (1.4.)
Im zweiten Kapitel geht es um das konkrete Seelsorgeprojekt. Hier beschreibe ich zuerst seine konkreten Rahmenbedingungen (2.1.). In den folgenden Unterkapiteln stelle ich dann meine seelsorgerlichen Begegnungen dar (2.2.-2.5.) Dazu werde ich Auszüge aus Verbatim über Begegnungen mit der Gesprächspartnerin Frau B geben.
An der Beschreibung des Aufbaus meiner Arbeit wird auch deren Methodik deutlich: Meine Praxis der Seelsorge an alten Menschen, wie sie in Kapitel 2 zum Ausdruck kommt, soll im Lichte meiner Theorie der Seelsorge (Kapitel 1) reflektiert werden. Die theoretische Erörterung des Themas bildet sozusagen die Hintergrundfolie auf der ich meine Praxis der Seelsorge zu verstehen versuche. Das dritte Kapitel fasst die Ergebnisse meines Seelsorge Projektes zusammen.
1. Reflexion des eigenen Seelsorgeverständnis
1.1. Biblisch-theologische Erörterung zum Wesen der Seelsorge an alten Menschen
Was ist Seelsorge überhaupt? Bevor ich mit meinen Seelsorgebesuchen begann, wollte ich wissen, was eigentlich meine Aufgabe als Seelsorger ist. Als ich mich dann im Rahmen des Seelsorgekurses der Vikarsausbildung mit dem Thema „Seelsorge an alten Menschen“ beschäftigte, nahm ich wahr, dass diese Frage auch im aktuellen Forschungsdiskurs behandelt wird. Das Wesen von Seelsorge lässt sich nicht in einem Oberbegriff definieren, sondern es hängt vom konkreten Seelsorgefeld ab:
„Vor einer jeden Bewertung von einer im Voraus schon gewussten Seelsorgevorstellung
muss für jedes einzelne Seelsorgefeld zuerst einmal für sich die Frage gestellt werden: Was ist hier eigentlich Seelsorge? Und erst dann kann nach so etwas wie einem gemeinsamen, allgemeinen Seelsorgebegriff gesucht werden. In jedem einzelnen Feld bestimmen der Kontext und die Ausrichtung auf eine bestimmte Menschengruppe mit, was hier eigentlich Seelsorge heißt.“[6]
Mit dieser Erkenntnis ist m.E. schon einmal viel gewonnen, zeigt sie doch, dass es nun gerade nicht darum geht, die „seelsorgerlichen Praktiken für alle Fälle“ zu lernen und anzuwenden. Vielmehr ist der genaue seelsorgerliche Kontext in den man sich stellt oder gestellt wird zu beachten, mehr noch die Person mit der man es in der konkreten Seelsorge zu tun hat.
Versucht man dann eine biblisch-theologische Erörterung der Seelsorge vorzunehmen, stellt man fest, dass es schwierig ist angesichts der Vielzahl von seelsorgerlichen Begriffen ein übergeordnetes Motiv zu finden. Sons bietet im Rückgriff auf Seitz dennoch den Versuch einer systematisch-theologischen Bestimmung des Gehaltes der Seelsorge: Er besteht
„ in dem Motiv der Sorge, jenem allem menschlichen Sorgen und Handeln zuvorlaufenden Sorgen Gottes um den Menschen, das bereits mit der Schöpfung gesetzt ist, das seinen Höhepunkt im Offenbarwerden von Jesus Christus findet und sich schließlich innerhalb der neutestamentlichen Gemeinde fortsetzt.“[7]
Gott ist demnach das Subjekt christlicher Seelsorge : „Bereits in der Schöpfung hebt dieses Sorgen Gottes an“ (Gen 3,21).[8] Die Sorge setzt sich fort in den Propheten des Alten Testamentes (…). „Schließlich tritt die Sorge im Offenbarwerden des Sohnes hervor. Gott sorgt sich um die von ihm entfremdeten Geschöpfe, indem er sich herunterlässt, ihr Schicksal teilt (Joh 1,14; vgl. Phil 2,6ff) und sich schließlich am Kreuz für sie hingibt.“[9]
So ist Seelsorge zweitens mit der „Bewegung der Liebe und des Erbarmens“ verbunden. „Das aber kann nur von dem her gesagt werden, der umherzog, das Leid der Menschen genau ins Auge fasste und darüber – wie es Mt 9,36 heißt „von einer durch und durch gehenden Erschütterung über die Daseinsnot des Menschen, ergriffen wurde.“[10]
Drittens ist Seelsorge Gottes immer auf den konkreten Menschen bezogen: „Seine Sorge ist eine Sorge „ad hominem“. Sie geht ein auf die Bedürfnisse und die Situation des Einzelnen.“[11]
Gott kümmert sich um den ganzen Menschen in seiner Beziehung zu sich selbst, zu Gott, zum Nächsten und zu seiner kreatürlichen Mitwelt.
„Matthäus zeigt, wie die Sorge Jesu um den bedürftigen Menschen überwechselt auf seine Jünger. Nach Bevollmächtigung (10,1-4) und Sendung (10,5-11,1) stehen diese an seiner Stelle im Dienst der erbarmenden Zuwendung zu den Bedürftigen.“ Die christliche Seelsorge geht von Jesus Christus selbst aus. Indem er seine Jünger in seinen eigenen Auftrag mit hinein nimmt gewinnen diese Anteil an seiner Sendung.
„Dass die Seelsorge in der Sendung Jesu wurzelt, unterscheidet sie von anderen Formen menschlicher Zuwendung und Hilfe.“[12] Der Auftrag zur Seelsorge setzt sich sodann unter dem Bild der Gemeinde als dem Leib Christi, dessen Glieder Sorge füreinander tragen fort, 1. Kor 12,25.[13]
Besonders hinsichtlich der Selbstvergewisserung des Seelsorgers / der Seelsorgerin ist es wichtig ich zu wissen, dass „ ich Seelsorge treibe, weil ich dazu beauftragt bin; (…); Seelsorge ist Nachfolgepraxis im Wirkungsbereich des Evangeliums.“[14]
Systematisch-theologisch gedacht ist es die Wahrung der Menschenwürde, die Seelsorge an alten Menschen begründet: Es geht darum in der Seelsorge an alten Menschen „die Bedeutung der Botschaft der bedingungslosen und an keine Leistung gebundenen Zuwendung und Wertschätzung zu betonen.“[15]
Damit verbunden ist das Motiv der Parteinahme für die Schwachen: „Die helfende Zuwendung nimmt (…) die Opfer kontingenter und gesellschaftlicher Gewalt in den Blick, diejenigen, die von diesen Kräften marginalisiert oder exkludiert werden, die keine Stimme haben und keine Macht, weil sie zum Beispiel alt und krank sind.“[16]
Die Seelsorge an alten Menschen in biblischer Perspektive erscheint eine Konkretion darin zu erfahren, dass der Seelsorger zunächst einmal keine wie auch immer zu beschreibende Störung löst, sondern darum bemüht dem alten Menschen menschlich zu begegnen.[17] Es geht darum, dem Gebot „Liebe deinen Nächsten“ (Mk 12,31) und dem Auftrag des Besuchens der Brüder und Schwestern Jesu (Mt 25) nachzukommen.
1.2. Reflexion meiner Rolle als Seelsorger
Nach der Erörterung des Wesens der Seelsorge an alten Menschen erscheint es mir unerlässlich, will ich kompetente Seelsorge treiben, mir auch Gedanken darüber zu machen, wer ich eigentlich bin als Seelsorger. Welche Rolle spiele ich in der poimenischen Begegnung?
Ziemer gibt mit der Aufforderung „Abschied zu nehmen von den falschen Fremd- und Selbstbildern“ einen entlastenden Aspekt für das Verständnis einer angemessenen Rolle als Seelsorger: „Ich kann und muss nicht der souveräne Seelenführer sein, der mit allen vertraut ist und in jeder Lage rechten Rat weiß (…) Seelsorge ist keine Einbahnstraße des Helfens.“[18]
„Vielmehr gilt es hier, eine Polarität von Geben und Empfangen anzuerkennen. Zuerst bin ich immer Empfangender.“[19] Ich muss mich als Seelsorger nicht dem Druck aussetzen irgendetwas übermäßig geben oder leisten zu müssen, sondern ich gebe das, was ich zu geben habe, und empfange überdies auch, (vgl. Apg 3,6[20] ).
Und auch, wenn ich einmal nichts Großes zu geben, kein besonders zutreffendes Gebet, kein passendes Lied, keine Worte und keinen Segen, ist mein Gespräch dennoch sinnvoll und gerechtfertigt. Ich muss nicht mehr leisten, als ich kann. Hier klingt evangelisch-lutherische Rechtfertigungslehre an: ich brauche weder vor mir selbst, noch vor Gott und den anderen Menschen übermäßige Leistung zu bringen um gerechtfertigt dazustehen und zu genügen, sondern es genügt, dass ich mich so einbringe, wie es mir möglich ist.
Hier kann 2. Kor 1,4[21] ein hilfreicher Maßstab sein. Menschliche Seelsorge gründet in der Seelsorge Gottes um den Menschen. Der Seelsorger tröstet mit dem Trost, mit dem er selbst vom Gott allen Trostes getröstet wurde. So ist hier die oben genannte Verbindung zwischen der Seelsorge Gottes am Menschen und der Seelsorge des Menschen am Menschen in der Weise bestimmt, dass die zweite in der ersten gründet.
Als Seelsorger bin ich sodann in gewisser Weise auch Mitbetroffener. Das ist das eigentlich Anstrengende seelsorgerlicher Arbeit, dass einerseits eine Distanz notwendig ist und dass andererseits ein gewisses Maß emotionaler Mitbetroffenheit unverzichtbar ist.[22] Auch diese Erkenntnis ist hilfreich, gibt sie doch Sicherheit darüber, dass emotionale Betroffenheit während des Seelsorgegespräches nicht ein Ausdruck von Unprofessionalität ist, sondern mit „zum Geschäft“ gehört.
Einerseits geht es darum, zu sehen, „wo ein Problem des anderen in meiner Selbstwahrnehmung verankert ist“ (…), andererseits „ist es im gleichen Atemzug wichtig, meine eigenen Probleme von denen eines Ratsuchenden deutlich zu unterscheiden, sonst kann es zu schwerwiegenden Wahrnehmungsverzerrungen kommen.“[23]
„Ein wesentlicher Aspekt moderner Seelsorgeausbildung ist deshalb zu einer angemessenen Wahrnehmung von Eigenproblematik zu gelangen und zu einer Auseinandersetzung mit ihr zu finden. Was ich an mir und mit mir selbst bewältige, das wird zum kommunikativen Potenzial im seelsorgerlichen Kontakt mit anderen.“[24]
Aus eben diesem Grund wird in der Ausbildung der Badischen Lehrvikare und Lehrvikarinnen besonderer Wert auf eine supervisorische Begleitung gelegt. In ihr kann der Seelsorger eigene Probleme die im Pfarrdienst entstanden sind, klären und mit neuer Motivation seiner seelsorgerlichen Arbeit nachgehen.
In der meines Wissen neuesten Seelsorgelehre resümiert Morgenthaler unter der Überschrift „Seelsorge als Beruf“ dass Seelsorge als Charisma und Profession zu verstehen sei.
Hinsichtlich des Charismas sei sie
„eng mit den persönlichen Voraussetzungen derjenigen Personen verbunden, die sie ausüben. Eine wesentliche Voraussetzung christlicher Seelsorge ist der kritische, zweifelnde, gewisse Glaube an einen Gott, der Menschen zur Fülle des Lebens beruft. Menschen in dieser Berufung zur „Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21) zu begleiten und zu inspirieren wird zur Berufung jener Menschen die Seelsorge professionell ausüben.“[25]
So bedeutet Charisma im seelsorgerlichen Beruf nicht nur die „innere Berufung zur Seelsorge, sondern, wie schon Ziemer sagte, s.o., auch die kirchliche Beauftragung dazu.
Die Seelsorge als Profession bestimmt Morgenthaler als „kompetentes Handeln in schwierigen belasteten Situationen.“[26]
Mit seinem breiten Spektrum an geforderten Berufsmerkmalen, zu dem z.B. die Qualifizierung durch akademische Ausbildung und die Orientierung an beruflichen Standards und methodischen Vorgaben und Regeln gehört, rückt er die Seelsorge in die Nähe anderer Professionen, wie z.B. denen des Juristen, oder der der Ärztin.[27]
Aus beidem ergibt sich eine Grundspannung: „Zum einen wird das Charisma zur Seelsorge im beruflichen Handeln und der beruflichen Rolle sozusagen institutionalisiert; zum anderen wird die Professionalität durch die enge Bindung auch professioneller Seelsorge an das Charisma aber auch in besonderer Weise eingefärbt.“[28]
Morgenthaler nennt unter dem Stichwort „Konzeptionelle Kompetenz und Seelsorgerolle“ weitere wichtige Aspekte, die den Charakter der Tätigkeit des Seelsorgers mitbestimmen[29]: Die biographischen Hintergründe und der Lernweg des Seelsorgers beeinflussen seine Tätigkeit. Ferner wird die Rolle von den spezifischen Bedingungen des jeweiligen Berufsfeldes (M. kennt Seelsorge in der Ortsgemeinde, spezialisierte und institutionalisierte Formen der Seelsorge und mediengestützte Seelsorge) geprägt.
Nicht zuletzt ist die Arbeit auch vom eigenen Seelsorgeverständnis geprägt. Hier sollte konzeptionelle Kompetenz entwickelt werden, d.h.: „unterschiedliche Zugänge der Seelsorge im Blick auf ein bestimmtes Berufsfeld aufeinander zu beziehen und sie persönlich in ein qualifiziertes Verständnis von Seelsorge und in eine entsprechende Praxis zu integrieren.“[30]
1.3. Besonderheiten des Lebens alter Menschen
Zunächst begegnet in der Forschung der Begriff der „jungen Alten“.[31] An diesem Wort wird deutlich, dass mit der Überalterung der Gesellschaft nicht nur düstere Aussichten verbunden sind: Viele junge Alte, damit sind Menschen zwischen 65 und 75/80 gemeint, sind heute gesünder und aktiver als in der Vergangenheit. Menschen die positiv über ihr Alter denken, haben im Durchschnitt 7,5 Jahre mehr Lebenserwartung, als solche die vom Alter nichts erwarten. Demgegenüber stehen die Lebensbedingungen der hoch betagten Menschen:
„Freilich ergibt sich für die „jungen“ Alten und hoch betagten Menschen im
so genannten „vierten Lebensalter“ ab dem 80. Lebensjahr ein durchaus unterschiedliches
Bild: „Während das dritte Lebensalter durchaus im Sinne der späten Freiheit charakterisiert werden kann, die aus dem Fortfallen externer Verpflichtungen in Beruf und Familie erwächst, ist das vierte Lebensalter eher im Sinne einer Kumulation von Herausforderungen und Verlusten zu charakterisieren.“[32]
Es ist erstens eine Zeit permanenter Abschiede und Trauer.[33] Nahestehende Menschen, Angehörige der eigenen Generation sterben. Die Welt der Jungen hingegen wird den Zurückbleibenden immer fremder. Das Altwerden geht also mit Vereinzelung und Fremdwerden in der Welt einher. Plieth spricht von „Einsamkeit und Zwangsverzicht:
„Viele älter und alt Gewordene sind vereinsamt und können sich selbst aus der damit verbundenen Isolation nicht mehr befreien. Sie leben mit dauernden ‚Zwangsverzichten‘, (…)Ressourcen, die in der Vergangenheit vorhanden waren, schwinden zunehmend, und auch die Vergangenheit selbst löst sich allmählich auf. Gleichzeitig wird die eigene Zukunft immer diffuser und so bedrängend. Wenn aber Vergangenheit und Zukunft keine gedanklich bzw. emotional begehbaren Räume mehr bieten, schrumpft auch die Gegenwart zu einem Nichts. In etlichen Fällen führt das zu einer ‚Flucht in die Innenwelt‘, deren Symptomatik der einer depressiven Verstimmung oder manifesten Depression gleich kommen kann und in Einzelfällen sogar Selbsttötungsabsichten erkennen lässt.“[34]
Besonders gravierend sind derartige Probleme, wenn die alten Menschen in einem Umfeld der Todeswirklichkeit, wie z.B. im Altersheim leben.
Auch nehmen viele alte Menschen von der eigenen Gesundheit Abschied. Dieser Abschied ist ein Ringen, wie lange man dem Verfall noch standhalten kann. So zögern z.B. alte Menschen die Benutzung eines Rollators solange es geht heraus, da er die Eingeschränktheit der eigenen Mobilität zum Ausdruck bringt.
Auch muss sich mancher alte Mensch von seiner eigenen Wohnung verabschieden und in ein Alten- und / oder Pflegeheim umziehen. „Und auch hier kann es nochmals zu einem Ortswechsel kommen, wenn ein betagter Mensch von seiner Altenwohnung oder seinem Zimmer, in dem er noch ein relativ selbstständiges Leben führen konnte, auf eine Pflegestation verlegt werden muss.[35]
Einerseits kann der Ortswechsel für den alten Menschen neue Chancen bieten: „Ein bis dahin einsam lebender allein stehender Mensch findet neue Gemeinschaft und vielleicht neue Bekannte. Er kann die Befreiung von der selbstständigen Haushaltsführung als Entlastung erleben. “[36] Anderseits kann ein Umzug auch mit psychischen Schwierigkeiten für den alten Menschen verbunden sein, denn „das Altersheim oder gar die Pflegeabteilung wird für den alten Menschen auch zur Endstation seines Lebens. Auch erfolgt die Einweisung in ein Heim nicht selten eher unfreiwillig, z. B. gleich im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt.“[37]
Zweitens bewältigen alte Menschen ihre Herausforderungen, Traumata oder Verluste häufig anders als es junge Menschen tun.[38] Während junge Menschen ihre Probleme assimilativ bewältigen, d.h. die Kluft zwischen Ist-Zustand und erwünschtem Soll-Zustand durch aktive Veränderung der äußeren Lebensumstände zu schließen versuchen, geht der alte Mensch häufig akkomodativ vor. D.h. er bewältigt die aufgetretene Diskrepanz durch Veränderung der inneren Einstellung.
Vielfach hilft den alten Menschen beim Versuch Probleme der eigenen Endlichkeit und Begrenztheit zu überwinden die Einstellung der Resignation, wobei das Ethos der Resignation nach Walter Mostert „ein Ethos der Gelassenheit, des Sein-Lassens und des Loslassens“ ist.[39]
Drittens sind auf religiöser Ebene Veränderungen im Leben alter Menschen zu beobachten. Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird virulent. Man schaut auf das Leben zurück und überlegt wozu man eigentlich gelebt hat.[40]
Jedoch werden, „die religiösen Sinnhorizonte, in deren Kontext die Alten der Zukunft ihre Sinnfragen diskutieren werden (…) zunehmen pluraler und individueller sein. Religiösität im Alter partizipiert am allgemeinen Traditionsabbruch und Individualisierungsschub der Postmoderne.“[41] „Der gesamte soziale und kulturelle Kosmos kommt als Sinnquelle in Frage: die Familie und der Beruf, das Kino und die Literatur, das Christentum und der Buddhismus.“[42]
1.4. Vorschläge für die Praxis der Seelsorge an alten Menschen
Entsprechend zu den obigen Ausführungen über das Wesen von Seelsorge als Akt der Nächstenliebe kann bei der Bestimmung des Wesens von Seelsorge an alten Menschen zunächst einmal von Seelsorge im Sinne einer Unterhaltung ausgegangen werden: „Spezifisch bei der Seelsorge an alten Menschen ist, dass es sich bei ihr meist nicht um die große Notfallseelsorge in Megakrisen handelt, sondern dass bei ihr Unterhaltung, erst einmal alltägliche Unterhaltung stattfindet.[43]
Es kommt vor, dass junge Vikarinnen / Vikare dabei auf das „Problem“ des Gesprächspartners warten, wie es der von ihr / ihm erlernten Vorstellung entspricht. Man tut sich schwer damit, dass sich bei alten Menschen wenig Veränderung durch die Gespräche zeigen.
Dahinter steckt die beratende Seelsorgevorstellung der letzten 50 Jahre. Nach ihr möchte man ein im weitesten Sinne therapeutisches Ziel erreichen. Seelsorge wird als Arbeit an einer wie auch immer zu beschreibenden Störung beschrieben. In diesem Licht wurde Altenseelsorge als nicht mehr zur eigentlichen Seelsorge gehörig abqualifiziert.
Jedoch ist gerade diese sich zuwendende Unterhaltung wesentlich für die Seelsorge an alten Menschen. Es geht um
„ das Zugehen auf den Anderen um seiner selbst willen, weil auch er ein Kind Gottes, ein Bild Gottes ist; ein Mensch in von Gott gegebener Eigenständigkeit und Würde. (…) Hier geht es nicht um ein Ziel oder einen Zweck der Beziehung, sondern es ist eine liebende Begegnung um des anderen willen, in dem sich das Antlitz Gottes spiegelt. (…)“[44]
Für den Vollzug von Seelsorge bedeuten diese Überlegungen Entlastung: Auch wenn kein Problem im Gespräch auftaucht und gelöst wird, ist die Unterhaltung dennoch Seelsorge, Seelsorge um des Menschen willen.
Ferner ist mit dieser Sicht von Seelsorge auch ein Anspruch verbunden. Denn es reicht nicht aus, wenn ein Seelsorger professionell arbeitet, sondern er muss auch die nötige Liebe den alten Leuten gegenüber mitbringen. Wenn nicht, wird dies der Gesprächspartner spüren und dem Seelsorger bleibt ein ganz zentraler Zugang verwehrt.
Dabei bringt Altenseelsorge auch mit sich, dass der Seelsorger sich selber mit den Themen Altern und Tod auseinandersetzen muss. Weiß er sich in seinem eigenen Leben getragen von der Liebe Gottes, so spiegelt sich dies in seinem liebenden Umgang mit den alten Gesprächspartnern wider.
„Altenseelsorge realisiert damit eine Absage an alle Fokussierung auf Leistungsorientierung und wendet sich denen zu, an denen das Scheitern der Vorstellung der Machbarkeit vom Leben sichtbar wird und die dafür auch massive Abwertung erfahren. Sie hält so – obwohl sie selbst in diese Abwertung hineingezogen wird – ein lebenswichtiges Thema offen.“[45]
Diese liebevolle Zuwendung in der Seelsorge um des Menschen selber willen bedeutet ein Kommunizieren über Worte hinaus.
In der Seelsorgebegegnung können so Rituale zwischen Seelsorger und Gesprächspartner entstehen, die ohne Worte tragen und „auch den Gang in die Demenz überdauern.“[46]
[...]
[1] www.immobilienscout24.de/Wohnumfeld/Baden-Wuerttemberg/Bodenseekreis/Ueberlingen/Baden-Wuerttemberg/Heidelberg/Altstadt/Statistik/index.html?show=1
[2] Datenerhebung der Evangelischen Kirche in Baden, Mitgliederstatistik der Paul-Gerhardt Gemeinde Überlingen, Karlsruhe: Evangelischer Oberkirchenrat, 10.9.2011, Gruppe 47.
[3] J. Herrmann, Seelsorge mit alten Menschen, - eine praktisch-theologische Herausforderung der Zukunft, in: Pastoraltheologie, 95. Jg., 202-216, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006
[4] Plieth bietet Zahlen zur alternden Gesellschaft und beschäftigt sich mit Herausforderungen im Umgang mit ihr. M. Plieth, „… wenn Sie kommen, bin ich schön“ – Aspekte pastoraler Wirklichkeit “, in: Wege zum Menschen, 62, Jg. 488-500, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010, Zahlen auf Seite 488.
[5] Ps 90,12: Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.
[6] W. Drechsel, Was ist das Spezifische der Seelsorge an alten Menschen?, in: Wege zum Menschen, 62, Jg., 469-487, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010, S. 477.
[7] R. Sons, Seelsorge zwischen Bibel und Psychotherapie – Die Entwicklung der evangelischen Seelsorge in der Gegenwart, Stuttgart: Calwer Verlag, 1995, S. 151.
[8] Ebd., S. 151.
[9] Ebd. S. 151.
[10] Ebd. S. 151.
[11] Ebd. S. 151.
[12] Ebd., S. 155 f.
[13] Ebd. S. 156.
[14] J. Ziemer, Seelsorgelehre – Eine Einführung für Studium und Praxis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, S. 180.
[15] Herrmann, Seelsorge mit alten Menschen, S. 208 f.
[16] Herrmann, Seelsorge mit alten Menschen, S. 209.
[17] Drechsel, Was ist das Spezifische?; S. 477.
[18] Ziemer, Seelsorgelehre, S. 180.
[19] Ebd., S. 180 f.
[20] Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!
[21] 3 Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, 4 der uns tröstet in aller unserer Trübsal, damit wir auch trösten können, die in allerlei Trübsal sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.
[22] Ziemer, Seelsorgelehre, S. 181.
[23] Ebd. S. 181.
[24] Ebd. S. 181 f.
[25] C. Morgenthaler, Seelsorge – Lehrbuch Praktische Theologie, Band 3, hg. von A. Grözinger, C. Morgenthaler, u.a., Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009, S. 363.
[26] Ebd. S. 363.
[27] Im Einzelnen zählt er folgende Merkmale auf: „Professionelle wird von Menschen ausgeübt, die: sich aufgrund einer besonderen Motivation und besonderer Fähigkeiten dafür entschieden haben; zu dieser Arbeit durch akademische Ausbildung und kirchliche Beauftragung qualifiziert und eingesetzt werden; autonom, reflektiert und „gekonnt“ in einem Bereich mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung – nämlich Religion und Kontingenzbewältigung – handeln, in ihrer Tätigkeit durch die Zugehörigkeit zu einer kirchlichen Institution und Berufsgruppe legitimiert sind; über Expertenwissen und ausgewiesene berufliche Qualifikationen und Kompetenzen verfügen; sich der Grenzen ihrer fachlichen Zuständigkeit und Kompetenz bewusst sind; sich persönlich in ihre Arbeit investieren und engagieren; sich an gesellschaftlichen Grundwerten, beruflichen Standards und methodischen Vorgaben und Regeln orientieren; ihr fachliches Handeln und seine Auswirkungen vor diesem Hintergrund reflektieren und kollegial kontrollieren lassen.“, Ebd. S. 363 f.
[28] Ebd. S. 364.
[29] Ebd. S. 364.
[30] Ebd. S. 364.
[31] Herrmann, Seelsorge mit alten Menschen, S. 204.
[32] H.J. Körtner, „ Wenn ich nur dich habe“ – über den Umgang mit Verlusten im Alter, Wege zum Menschen. 62, Jg. 451-468: Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010, S. 452.
[33] Körtner, Wenn ich nur dich habe, S. 456 ff.
[34] Plieth, „… wenn Sie kommen, bin ich schön“, S. 497.
[35] Körtner, Wenn ich nur dich habe, S. 457 f.
[36] Körtner, Wenn ich nur dich habe, S. 458.
[37] Körtner, „Wenn ich nur dich habe“, S. 458.
[38] Vgl., Körtner, „Wenn ich nur dich habe“, S. 460 ff.
[39] Körtner, „ Wenn ich nur dich habe“, S. 463.
[40] Herrmann, Seelsorge mit alten Menschen, S. 212 ff.
[41] Ebd., S. 212.
[42] Ebd. S. 213.
[43] Siehe: Drechsel: Was ist das Spezifische, S. 472 ff., der folgende Text bis zur nächsten Fußnote basiert auf eben diesem Artikel.
[44] Drechsel, Was ist das Spezifische der Seelsorge an alten Menschen ¸ S. 477. „Um es konkret auszudrücken: Hier haben z. B. die Zwischengespräche im Aufenthaltsraum der Pflegestation, das Anhören der immer selben Geschichte von der Flucht damals, das fünfzigste Mal Sich-selbst-Vorstellen als Seelsorger bei einem dementen Menschen ihren Ort. Eben all die Begegnungen, die aus einer lösungsorientierten und im weitesten Sinne therapeutischen Perspektive als ein „Zu-Wenig“ deklariert werden.“ Ebd.
[45] Drechsel, Was ist das Spezifische der Seelsorge an alten Menschen, S. 482.
[46] Drechsel, Was ist das Spezifische der Seelsorge an alten Menschen, S. 484.