Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Die Demontage der Moral
II. Nietzsches Kritik am Christentum
III. Nietzsche und die Metaphysik
III. 1 Das konstruktive Zentrum: „Die ewige Wiederkehr des Gleichen“
III. 2 Nietzsches Abkehr von der Metaphysik
III. 3 Nietzsche und der Tod Gottes
III. 4 Nihilismus als Konsequenz aus Gottes Tod
IV. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Einleitung
Wie kaum ein Philosoph seines Zeitalters hat der am 15.10.1844 in Röcken geborene Friedrich Wilhelm Nietzsche eine polarisierende Wirkung auf seine Exegeten. Die Meinungen oszillieren zwischen Abstoßung und Bewunderung. Seine Biographie und sein Werk übten einen großen Einfluss auf Literatur, Philosophie und die Psychologie aus. In der Literatur inspirierte er u.a. Rainer Maria Rilke, Stefan Zweig, Heinrich Mann, Thomas Mann, Gottfried Benn und Hermann Hesse. Unter den Philosophen erstreckte sich sein Einfluss auf u.a. Martin Heidegger und Karl Jaspers, wie auch auf die Psychologen Sigmund Freud, Ludwig Klages und Carl Gustav Jung. Der Grund warum Nietzsche so umstritten ist liegt in erster Linie in seiner Wirkungsgeschichte. Die Nationalsozialisten griffen seine Gedanken vom „Willen zur Macht“, der „Herrenmoral“ missbräuchlich auf und politisierten diese in propagandistischer Weise.
Systematisch betrachtet lässt sich seine Philosophie in drei Phasen einteilen. In der ersten Phase steht Nietzsche völlig unter dem Einfluss von Arthur Schopenhauer und Richard Wagner. In Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) bricht Nietzsche mit allen traditionellen, altphilologischen Vorstellungen und vertritt eine abgelehnte antiklassische, tragisch-pessimistische Auffassung des Griechentums. Er sieht die Attische Tragödie und das Musikdrama Wagners als die Vereinigung der beiden Anschauungen der Natur, des Apollinischen und Dionysischen. Während das Apollinische als der schöne Schein, das Vollkommene und Maßvolle näher gebracht werden kann, deutet Nietzsche das Dionysische in der Analogie des Rausches als das Hinausgehen über das Individuelle und Eingehen in eine mystische Einheitsempfindung. Er übernimmt von Schopenhauer den Willen als das übersinnliche Prinzip der Welt, tritt allerdings nicht mit dem Ziel der Erlösung für eine Verneinung des Willens zum Leben ein.
In der zweiten Phase befreit sich Nietzsche von seinen Vorbildern und wird zu einem Kritiker und freien Geist, der sich in der Nähe zum Positivismus bewegt. Nietzsche versucht in der neuen Periode die menschlichen Wertungsweisen und Schätzungen zu entlarven. Nietzsche erweist sich jetzt als Wortführer des Nihilismus, das heißt, er sieht in der gesamten Geschichte der abendländischen
Philosophie die Entwertung der höchsten Werte. Als oberste Werte haben seit Platon die Ideen, das Göttliche, gegolten. Diese ursprünglich unabhängig vom Menschen gedachten Werte verlieren ihre Gültigkeit.
In der dritten Phase legt Nietzsche seine eigene Philosophie dar. Also sprach Zarathustra, das er Ein Buch für Alle und Keinen (1883-1885) nennt, hält er selbst für „das tiefste Buch, das die Menschheit besitzt.“ In diesem „jasa- genden Teil“[1] seiner Philosophie verweist Nietzsche in der Überwindung Gottes und des Menschen auf den Übermenschen und spricht in den Lehren vom „Willen zur Macht“, der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“, der „Umwertung aller Werte“ und der Behauptung „Gott ist tot!“ seine philosophischen Überzeugungen aus. Die „neinsagende, neintuende Hälfte“[2] seiner Philosophie, die Umwertung aller bisherigen höchsten Werte, beginnt mit Jenseits von Gut und Böse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886). Nietzsche versucht hier den Blick, der auf den moralisch-metaphysischen Gegensätzen, dem Ort des Gut und Böse haftet, auf etwas Zukünftiges, den Ort Jenseits von Gut und Böse zu lenken. Es geht ihm in seinem Immoralismus um die Überwindung des Menschen, der im Menschlichen, Allzumenschlichen (1886) stecken blieb.
In engem Zusammenhang mit diesem Buch steht die ein Jahr später erschienene Streitschrift Zur Genealogie der Moral (1887). Nietzsche betreibt in ihr eine radikale Demontage der Moral, indem er ihre Entstehung entlarvt, das heißt die Bedingungen und Bedingungsverhältnisse aufdeckt, aus denen sich die Moral herausgebildet hat. Er legt dar, dass die christliche Moral im „Sklavenaufstand in der Moral“ aus dem Ressentiment der Schwachen hervorgegangen sei. Seine grundsätzliche „In-Frage-Stellung“ der Moral führt ihn zur Frage nach dem Wert, den die Werturteile haben.
Die vorliegende Arbeit[3] hat sich zur Aufgabe gemacht, die Kritik Nietzsches an der metaphysischen Moral aus der Formel Gott ist tot! herauszuarbeiten und zu überprüfen, ob der daraus resultierende Immoralismus konsistent durchdacht ist.
Hierzu wird im ersten Schritt die oben erwähnte Demontage der Moral in Nietzsches Spätschriften Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887) dargestellt. Da die Kritik am Christentum ein wichtiger Bestandteil für die Kritik an der metaphysischen Moral ist, wird im folgenden Kapitel darauf Bezug genommen werden. Nachstehend widmet sich die vorliegende Arbeit der Kritik der metaphysischen Moral selbst. Den drei zentralen Gedanken „ewige Wiederkehr“, „Wille zur Macht“ und „Übermensch“ kann kein Platz eingeräumt werden, da sonst der Rahmen dieser Ausarbeitung gesprengt werden würde. Was jedoch unbedingt für das Verständnis Nietzsches mit in die vorliegende Erörterung in Betracht gezogen wird, ist der Gedanke der „ewigen Wiederkehr“. Dieser bildet m. E. das konstruktive Zentrum, respektive das Fundament Nietzsches Philosophie und wird daher ein Unterkapitel dieser Arbeit bilden. Im letzten Kapitel - der Schlussbetrachtung - werden abschließend die vorherigen Ausarbeitungen evaluiert werden.
I. Die Demontage der Moral
Die Moralitätskritik zählt ohne Zweifel zu den Hauptthemen Friedrich Nietzsches. Diesem Thema sind zwei seiner Spätschriften zu Gänze gewidmet[4] und auch in seinen früheren Schriften finden sich ausgedehnte Passagen zu diesem Problem. Sämtliche diesbezügliche Schriften folgen der Generallinie einer Entlarvungsstrategie. Moral, so die kurz gefasste Hauptthese, ist nicht, was sei zu sein scheint, denn sie ist ausschließlich an amoralischen Zwecken der Individuen ausgerichtet. Jeder Anschein von Altruismus könne, so Nietzsche, auf einen grundlegenden Egoismus zurückgeführt werden. Es ist jedoch nicht allein die Entlarvung der Moralität als Maske eines egozentrischen Triebgeschehens , die ihn umtreibt. Wäre moralisches Handeln wirklich das effektivste Mittel egoistischer Bestrebungen und träfe dies für alle Menschen in gleichem Maße zu, so wäre es immerhin denkbar, dass eine Entdeckung wie die Nietzsches in der menschlichen Lebenswelt praktisch folgenlos bliebe. Abgesehen von der Aufdeckung der eigenen Selbsttäuschung über den vermeintlich altruistischen Charakter des eigenen Handelns, müsste bei den lebensweltlichen Subjekten keine Veränderung im Handeln auftreten, wenn das Verhalten, das für moralisch gehalten wurde, ohnehin die erfolgreichste Egoismusstrategie darstellt.
Nietzsche will jedoch mehr: es geht ihm darum, mindestens das Selbstverständnis und die Verhaltensregeln, die in den Moralsystemen seit der platonischen Philosophie Ausdruck gefunden haben, als Hindernisse der freien Selbstentfaltung zu begreifen. Dieser Hindernischarakter folgt aus dem strukturellen Egalitarismus der Moral, d.h. die wenigen Starken werden in ihrem Ausdruck auf Kosten der Schwachen eingeschränkt. Darin sieht Nietzsche so etwas wie eine höhere Ungerechtigkeit.
Den Ausgangspunkt für Nietzsches Untersuchungen bildet die Frage „wozu überhaupt Moral“[5] ? Da die Antwort auf diese Frage nicht selbst wieder moralisch sein kann, versucht er stattdessen eine psychologische Antwort zu geben.[6] Durch die Wahl der Erklärungsperspektive deutet sich bereits an, dass Moralität für ihn kein Phänomen sui generis darstellt. Nietzsches Untersuchungen verfolgen weitgehend reduktive Absichten. In der Tat geht es ihm nicht darum, Moralpsychologie zu betreiben, um etwa das Problem moralischer Motivation aufzuhellen. Er will vielmehr von vornherein einen Widerspruch zwischen Moral und Leben[7] aufdecken.
Diesem Widerspruch weist Nietzsche jedoch eine unentbehrliche Funktion für die menschliche Entwicklungsgeschichte zu. Erst ein anderer Widerspruch fordert schließlich seine entschiedene Kritik heraus: derjenige zwischen den expliziten Zielen eines Moralsystems und den impliziten Zielen, die sich aus seiner Funktion für die menschliche Höherentwicklung ergeben. Von großer Bedeutung ist für Nietzsche vor allem der Nachweis, dass die Genese der abendländischen Moral Zielsetzungen herausgebildet hat, die den ’natürlichen Zwecken’ menschlicher Individuen entgegenstehen. Nichtsdestoweniger sind es auch unter den Bedingungen einer dysfunktionalen Moral weiterhin außermora- lische Zielsetzungen, die bis in die Gegenwart, so Nietzsche, den wahren, aber heimlichen Antrieb zu einem vermeintlich moralischen Handeln ausmachen.
Die Untersuchung der Moralität auf dem „psychologischen Seziertisch”[8] fördert dabei im Einzelnen folgende drei Ergebnisse zu Tage:
1.) Die Moralität des Menschen ist weder in phylogenetischer noch in ontogene- tischer Perspektive als Entfaltung eines natürlichen Selbstinteresses zu verstehen. Das natürliche Selbstinteresse des Menschen ist nach Nietzsche an sich egoistisch und asozial: im sozialen Raum herrscht „Grausamkeit”.[9] Moralität geht erst aus einem Akt der Unterwerfung unter moralische Gesetze hervor, die dem Individuum zunächst äußerlich sind. Mit der Zeit tritt jedoch eine Gewöhnung ein, die dazu führt, dass die eigene Moralität als quasi-natürlich akzeptiert wird:
Es kann erst dann der Boden für alle Moralität zurecht gemacht werden, wenn ein größeres Individuum oder ein Kollektiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie selber ist noch eine Zeitlang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinkt: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft - und heißt nun Tugend.[10]
Dieser sozialisatorische Vorgang der Internalisierung externer Normen transformiert das menschliche Individuum von einem rein naturbestimmten Wesen zu einem Kulturwesen. Der Vorgang der Moralisierung des Menschen ist jedoch noch nicht Gegenstand der Moralkritik Nietzsches. Die Pluralität von Handlungsorientierungen, die mit der Moralität gegeben ist, hat ihm zufolge überhaupt erst eine intrapersonelle Dynamik in Gang gesetzt, die die Voraussetzung für alle Formen individuellen Selbstausdrucks bildet. Die Transformation des Menschen in ein Kulturwesen bringt jedoch nicht seine asozialen Grundantriebe zum Verschwinden. Moralität ist, nach Nietzsches Ansicht, in ihren besten Formen nichts
[...]
[1] Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo. Jenseits von Gut und Böse, 1.
[2] Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo. Jenseits von Gut und Böse, 1.
[3] Die Zitationen aus den Werken Nietzsches sind entnommen aus der Ausgabe: Friedrich
Nietzsche, gesammelte Werke in 10 Bänden. Vollständige Ausgabe nach dem Text der Ausgaben in Leipzig. Erschienen im Goldmann Verlag. Neuauflage 11, Berlin 1999.
[4] Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887)
[5] Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. Fünftes Buch, 344.
[6] vgl. Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche. München 1992, S. 123.
[7] vgl. Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche. München 1992, S.119.
[8] Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Erster Band, 37.
[9] vgl. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung 6.
[10] Nietzsche, Friedrich: Menschliches Allzumenschliches. Erster Band 99.