Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Nietzsches Einfluss auf Benn
II. Benns Verständnis von Entwicklung-Geschichte-Kunst
II. 1 Entwicklungs- bzw. Menschenbild
II. 2 Kunst- und Dichtungstheorie
II. 3 Zyklische Geschichtsphilosophie
III. Die zyklische Geschichtsphilosophie Benns dargelegt an dem Prosawerk Weinhaus Wolf.
IV. Schlusswort
Literaturverzeichnis
Einleitung
Mit der vorliegenden Arbeit soll der Versuch unternommen werden die Auseinandersetzung und Orientierung Gottfried Benns zum Themenkomplex Menschenbild-Geschichte und Kunst- bzw. Dichtungstheorie zu rekonstruieren und darzustellen.
Im Rahmen dieser Arbeit soll nicht die Darstellung der Geschichtsphilosophie, Dichtungstheorie oder das Weltbild Benns in aller Ausführlichkeit angestrebt werden. Es geht vielmehr darum, die Abhängigkeit aller Themenkomplexe voneinander skizzieren. Hierbei wird sich die vorliegende Arbeit auf die Veranschaulichung der wesentlichen Züge seiner Theorien über Mensch, Leben, Geschichte, Dichtung und Kunst konzentrieren.
Die Problematisierung der vielen verschiedenen Einflüsse, die auf Benn wirkten, und in wieweit sie sein Weltbild veränderten oder bestärkten, soll im Rahmen dieser Arbeit nicht in aller Ausführlichkeit geleistet werden. Jedoch ist es an dieser Stelle wohl unumgänglich, zunächst den Einfluss Nietzsches zu umreißen, um seinen weltanschaulichen Entwurf - zumindest in groben Zügen - rekonstruieren zu können. Vor allem in den Prosaschriften Benns - Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre - und in der Nachkriegszeit, hat Benn keinen Namen so oft genannt wie den Nietzsches.
Die Motivation Benns, wissenschaftstheoretische Ansätze und Inhalte kritisch zu reflektieren, die in dem Bemühen wurzelt, einer, dem Menschen in seiner ganzen Lebenswirklichkeit gerecht werdenden Anthropologie auf den Weg zu helfen, soll folgend Platz einnehmen. Dass diese Anthropologie für seine Auseinandersetzung mit Entwicklung, Geschichte und Kunst von immanenter Bedeutung ist, wird im Nachstehenden seine Aufgabe finden.
Mit dem Ziel, Zusammenhänge des Menschenverständnisses und dem Verständnis von Geschichte bei Benn mit seinem Selbstverständnis als Künstler und seiner Theorie der Dichtung aufzudecken, soll letztlich mit sicherlich werden die folgenden Ausführungen dem Dichter Benn nicht vollkommen gerecht werden. Mithin sollen die folgenden Kapitel zwar kurz aber ad oculus, Gottfried Benns problematisches Verhältnis und seine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Entwicklung-Geschichte exhibieren.
I. Nietzsches Einfluss auf Benn
um Gottfried Benns Menschenbild verstehen zu können, muss an dieser Stelle zu aller erst auf den Einfluss Nietzsches eingegangen werden. Eine intensive Auseinandersetzung Benns mit Nietzsches schriften zeigen, dass er sich Nietzsche mit den Augen des Künstlers nähert und vor allem immer im Zusammenhang mit kunsttheoretischen Äußerungen von Benn rezipiert wird.
Benn sieht Nietzsche mit den Augen des Künstlers, nimmt ihn war als Urheber und unerreichten Meister eines neuen Kunststils, als einen Stilisten, der sich mystisch versenkt in die Sprache, einen Lyriker, dem sprache Existenzentäußerung ist, sieht in ihm den vollendeten Artisten der deutschen Sprache, der sagt, dass „nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist.“'[1] Wenn man, das geistige Verhältnis Benns zu Nietzsche analysiert und ausführlich die Nietzsche-Rezeptionen im Einzelnen rekonstruiert, kommt man zu dem Ergebnis, dass Benn gerade deswegen so zentral das geistige Wesen Nietzsches trifft, weil er als Philosoph für Benn gar nicht existent ist.[2] Benn nähert sich Nietzsche von Anfang an auf eine intuitive Weise, empfindet die sprachliche Virtuosität und Geschliffenheit seiner Diktion als überwältigend, ebenso deren gedankliche Tragfähigkeit, die unmittelbare Treffsicherheit des Sprachrhyth- mus, das Explosive und Expressive, das all seine Schriften durchgehend charakterisiert. Nicht aufgrund einer systematischen Ausarbeitung einer Kunsttheorie, sondern weil dahinter der sprachschaffende Künstler steht, gewinnt diese Kunsttheorie Nietzsches für Benn an Profil, kommt ihr Legitimation zu:
„Benn als Dichter interessierte sich fast ausschließlich für diese zwei Erscheinungsformen Nietzsches (die als Künstler und Kunsttheoretiker), zu beiden stand ihm, infolge seiner monomanisch sprachverhaften Anlage und der mit ihr verbundenen, nie ruhenden Reflexion, ein primärer Zugang offen. Benn war somit in der Lage, sein Nietzsche-Bild von der einen wie von der anderen Seite her zu ergänzen und zu einer stimmigen Einheit zu verschmelzen. Das gelingt ihm aber nur hinsichtlich der Kunstsicht, nicht im Hinblick auf Nietzsches umgreifende Philosophie.[3]
Die Bedeutung der Kunst und des Lebens als solches ist bei Nietzsche geprägt von dem Grundgedanken, dass das Leben für ihn die letzte erfahrbare metaphysische Instanz darstellt. Die Abkehr von der christlichen Wertesphäre und ihre Abschaffung ist sein Ziel, um an ihre Stelle neue, natürliche, lebensbezogene Werte zu setzen. Der Maßstab des Wertens muss dem Leben selbst innewohnen. Wertvoll ist, was zur Erhaltung und Steigerung des Lebens beiträgt. Wertlos oder als Unwert gekennzeichnet dagegen ist alles, was sich gegen die Interessen des Lebens richtet. In diesem Kontext seiner Metaphysik, wird Kunst nicht mehr als auf eine übergeordnete Wahrheit gerichtet verstanden, sondern als eine Tätigkeit, welche die innersten Möglichkeiten des Lebens zu befreien sucht. Im Sinne Nietzsches dient die Kunst dem Dasein, indem sie es vollendet, indem sie Welt formt. Nietzsche sieht die „Kunst als eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit“[4]
Die Kunst löst, Nietzsche zufolge, Religion, Moral und Philosophie hinsichtlich ihrer Aufgaben, dem Leben Wert zu verleihen, ab. Hiermit ist die Kunst aus dem Ästhetischen ins Metaphysische transferiert. In jedem Fall versteht Nietzsche Kunst als einen aus körperlichen Lebenskräften, Instinkten und einen Willen zur vollendeten Form entstehenden Schaffensprozess, der metaphysischen Status hat. Er begreift Kunst, im Gegensatz zu traditionellen Philosophen, vom Künstler aus, nicht vom Rezipienten, dem künstlerisch Empfänglichen aus.[5] Kunst ist als Prozess schöpferischer Tätigkeit ein zutiefst an die Leiblichkeit gebundenes Geschehen, dem ein Höchstmaß an Interesse, im Sinne individueller Lebensbewältigung zukommt. „Wir finden sie (die Kunst) als größte Stimulans des Lebens“[6], als Willensbejahung, als Rausch am Leben, als Steigerung des Lebens.
obwohl hier im Einzelnen nicht genauer auf die angerissenen kunsttheoretischen Standpunkte Nietzsches eingegangen werden kann, sind diese doch für das Verständnis grundlegender Motive der Benn’ schen Anthropologie nicht wegzudenken und unerlässlich. Benn gewinnt Interesse an anthropologischen Fragestellungen eigentlich über die Beschäftigung mit kunsttheoretischen Problemen einerseits und eine, als existenziellen Widerstreit erfahrene unvereinbarkeit seiner Künstlernatur mit dem Wissenschaftsverständnis andererseits.
II. Benns Verständnis von Entwicklung-Geschichte-Kunst
II.1 Entwicklungs- bzw. Menschenbild
Die Entwicklung der Menschheit ist bei Benn keine „sich auf die Allgemeingültigkeit des Kausalgesetzes gründende, streng determinierte, mechanisch ablaufende Höherentwicklung von der Urzelle bis zum Menschen/[7] sondern ein „schöpferisches System“, „eine aus unberechenbaren Gründen sich vollziehende Verwandlung.“[8]
Benn ersetzt den damaligen - sehr stark determinierenden - darwinistischen Evolutionsgedanken, der sich als unaufhaltsamen Aufstieg präsentierte, durch den zyklischen Gedanken einer in langen Rhythmen sich vollziehenden Werdens und Vergehens der Arten. In Anlehnung an paläonto- logische Publikationen, in analytischer und kritischer Auseinandersetzung mit verschiedenen Autoren, entwickelt Benn seine eigene Theorie der Entwicklung des Menschen: der Mensch als ein wandlungsfähiges Wesen, dass sich in verschiedenen Gestalten oder Ausformungen seit kaum absehbaren Zeiten sich durch die Jahrhunderttausende fortpflanzt, in beständiger Wandlung begriffen, sein Wesen aber bewahrend und sich gleichbleibend.
Benn vertritt keinen mechanistische oder deterministischen Ablauf, der das Werden und die Evolution bestimmt, sondern unaufhörlich sich wiederholdende Schöpfungsimpulse. Er versteht die Evolution vielmehr als „halb Kausalität und halb Schöpfung, halb geologische Notwendigkeit und halber Akt der Transzendenz-: so vollzog sich die epileptoide Mischung unserer Persönlichkeitsentstehung.“[9]
[...]
[1] Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. Stuttgart 1955, S. 71.
[2] Hillebrand, Bruno: Artistik und Auftrag - Zur Kunsttheorie von Benn und Nietzsche.
[3] München 1966, S. 164.
[4] Hillebrand, Bruno: 1966, S. 157.
[4] Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. 13. Auflage, Stuttgart, 1996, S. 578. Nietzsche, Friedrich: 1996, S. 547.
[6] Nietzsche, Friedrich: 1996, S. 543.
[7] Miller, Gerlinde F.: Die Bedeutung des Entwicklungsbegriffs für das Menschenbild und Dichtungstheorie bei Gottfried Benn. New York 1990, S. 34.
[8] Benn, Gottfried: Nach dem Nihilismus. In: Gesammelte Werke in vier Bänden.
[9] Benn, Gottfried: Der Aufbau der Persönlichkeit. Band 1, 1959, S. 103.